Zehn Diskursfiguren aus dem Oekonux-Projekt
Streifzüge 54/2012
von Stefan Meretz
Alle Mittel für unsere Emanzipation entwickeln sich direkt vor unseren Augen, aber wir müssen auch in der Lage sein, sie theoretisch zu erfassen.
Oekonux wurde als Reflexionsprojekt rund um Freie Software gegründet, aber von Beginn an gab es die These der Verallgemeinerung von Beobachtungen über Freie Software in andere Bereiche sowohl immaterieller wie materieller Produktion.
In der Folge stelle ich zehn Diskursfiguren vor, die aus Debatten im Oekonux-Projekt hervorgegangen sind.
Diskursfigur 1: Jenseits des Tausches
In Freier Software oder allgemeiner commons-basierter Peer-Produktion geht es nicht um Tausch. Geben und Nehmen sind nicht aneinander gekoppelt. Auch heute noch basieren traditionelle linke Ansätze auf der Annahme, dass jemand nur etwas bekommen sollte, wenn er/sie auch bereit ist, etwas zurückzugeben, da sonst alle in der Gesellschaft verhungern würden. Diese Position geht zurück auf die leidvolle sozialistische (und christliche) Tradition, die besagt, dass derjenige, der nicht arbeiten wolle, auch nicht essen solle.
Ein wichtiger Ansatz, der die neuen Entwicklungen der Freien Software zu erfassen versuchte, war der Ansatz der „Geschenkökonomie“. Nicht zufällig lautet die korrekte Bezeichnung eigentlich „Geschenktausch -Ökonomie“: Der/die Gebende kann erwarten, etwas zurückzubekommen, da dies eine moralische Verpflichtung in Gesellschaften ist, die auf dem Austausch von Geschenken basieren. Diese Art von gegenseitiger moralischer Verpflichtung existiert in Freier Software nicht. Commons-basierte Peer-Produktion gründet allgemein in bedingungslosen freiwilligen Beiträgen.
Aus einer linken Perspektive ist die Entkoppelung von Geben und Nehmen nur in einer fernen Zukunft – Kommunismus genannt – möglich. Zuvor jedoch muss eine unfreundliche Zwischenphase, der Sozialismus, durchschritten werden, in dem das Tausch-Dogma volle Gültigkeit besitzt.
Wenn man den Tausch nicht aufgeben will, dann ist Kapitalismus die einzige Option.
Diskursfigur 2: Jenseits der Knappheit
Es ist eine übliche Fehlannahme, dass materielle Dinge knapp seien und immaterielle nicht. Es scheint gerechtfertigt zu sein, materielle Dinge als Waren zu behandeln, während immaterielle Güter frei sein können. Diese Annahme verkehrt jedoch eine soziale in eine natürliche Eigenschaft der Dinge. Kein hergestelltes Gut ist von Natur aus knapp. Knappheit ist das Ergebnis der Produktion von Gütern als Waren. Knappheit ist der soziale Aspekt einer Ware, die für den Markt hergestellt wird. Im digitalen Zeitalter liegt das für immaterielle Güter auf der Hand, da die Verknappungsmaßnahmen offensichtlich sind. Dazu gehören Gesetze (basierend auf dem sogenannten geistigen Eigentum) und technische Hürden, die den freien Zugriff auf das Gut verhindern sollen. Für materielle Güter scheint das weniger klar zu sein, da wir an die Unzugänglichkeit materieller Güter – solange wir nicht für sie gezahlt haben – viel eher gewöhnt sind. Aber die Maßnahmen sind die gleichen: Gesetze und technische Hürden, begleitet von der andauernden Zerstörung von Gütern, die die Waren knapp genug machen soll, um einen entsprechenden Preis auf den Märkten zu erzielen.
Weiterhin scheint es offensichtlich zu sein, dass wir alle von materiellen Gütern abhängen, deren Verfügbarkeit begrenzt sein kann. Aber auch immaterielle Güter hängen von einer materiellen Infrastruktur ab. Im Falle des Wissens brauchen wir wenigstens unsere Gehirne, die mit Nährstoffen versorgt sein wollen. Das hat aber nichts mit „natürlicher Knappheit“ zu tun. Da alle Güter, die wir brauchen, hergestellt werden müssen, ist die einzige Frage, wie wir das auf gesellschaftliche Weise tun. Die Warenform ist eine Möglichkeit, die Commonsform ist eine andere. Waren müssen in knapper Form produziert werden, damit sie ihren Preis auf dem Markt erzielen können. Commons-Güter können nach den Bedürfnissen der Menschen und gegebenen produktiven Möglichkeiten hergestellt werden. Dabei mag es aktuelle Begrenzungen geben, aber Grenzen waren stets Aufgaben für menschliche Kreativität, um sie zu überwinden.
Manche Begrenzungen mögen niemals überwunden werden, aber dies ist kein Grund, Güter künstlich zu verknappen. In solchen seltenen Fällen können soziale Verabredungen getroffen werden, um den verantwortlichen Umgang mit der begrenzten Ressource (oder dem Gut) zu organisieren. Die Commons-Bewegung hat gelernt, dass sowohl rivale wie nicht-rivale Güter als Commons hergestellt werden können, aber sie benötigen unterschiedliche soziale Umgangsweisen. Während nicht-rivale Güter verabredungsgemäß für alle frei verfügbar sein können, um ihre Unternutzung zu verhindern, ist es sinnvoll, die Übernutzung rivaler Güter durch geeignete Regeln und Maßnahmen zu verhindern – entweder durch eine limitierte nachhaltige Nutzung oder durch Ausdehnung der kollektiven Produktion und damit Verfügbarkeit des rivalen Gutes.
Knappheit ist ein soziales Phänomen, das unvermeidbar auftritt, wenn Güter als Waren hergestellt werden. Häufig wird Knappheit mit Begrenzungen verwechselt, die durch menschliche Anstrengungen und Kreativität überwunden werden können.
Diskursfigur 3: Jenseits der Ware
Sowohl Märkte wie der Staat sind ungeeignete Formen, produzierten Reichtum zu verteilen und destruktive Effekte zu vermeiden. Die besten Ergebnisse werden erzielt, wenn Menschen sich entsprechend ihren Bedürfnissen, Erfahrungen und ihrer Kreativität selbst organisieren und Ressourcen und Güter nicht als Waren, sondern als Commons-Ressourcen behandeln.
Genau das ist bei der Freien Software der Fall. Ein schwacher Aspekt der traditionellen Commons-Forschung und frühen Phase der Freien Software war, dass es keinen klaren Begriff von Ware und Nicht-Ware gab. Es war das Oekonux-Projekt, das zuerst formulierte: Freie Software ist keine Ware. Dieses Diktum ist eng mit der Einsicht verbunden, dass Freie Software nicht getauscht wird.
Linke Kritiker_innen argumentierten, dass die Existenz von Nicht-Waren wie Commons auf den Bereich der immateriellen Güter beschränkt sei. Aus ihrer Sicht ist Freie Software nur eine „Anomalie“, während „normale“ Güter im Kapitalismus Waren sein müssen. Diese Sicht stellt die wirklichen Verhältnisse auf den Kopf. Kapitalismus konnte sich nur etablieren durch Einhegung der Commons und durch Beraubung der Menschen von ihren traditionellen Zugängen zu Ressourcen, um sie in Arbeiter_innen zu verwandeln. Diese Einhegung der Commons ist ein anhaltender Prozess. Kapitalismus kann nur existieren, wenn die Menschen kontinuierlich durch künstliche Verknappung von Ressourcen getrennt werden. Eine Ware – so nett sie in den Einkaufszentren erscheinen mag – ist das Ergebnis eines fortlaufenden gewalttätigen Prozesses der Einhegung und Enteignung.
Der gleiche Prozess betrifft auch Software. Proprietäre („unfreie“) Software enteignet die wissenschaftliche und schöpferische Gemeinschaft von ihrem Wissen, ihren Erfahrungen und ihrer Kreativität. Freie Software war zunächst ein defensiver Akt, um gemeinschaftliche Güter als Commons zu erhalten. Da jedoch Software in der vordersten Linie der Produktivkraftentwicklung steht, wandelte sich die Freie Software schnell in einen kreativen Prozess, um Grenzen und Entfremdungen proprietärer Software zu überwinden. Im Sonderfeld der Freien Software entfaltete sich eine neue Produktionsweise, die sich schnell in andere Bereiche ausdehnt.
Güter, die nicht künstlich verknappt und getauscht werden, sind keine Waren, sondern Commons.
Diskursfigur 4: Jenseits des Geldes
Geld ist kein neutrales Mittel, Geld kann in unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen vorkommen. Es kann Lohn, Investition (Kapital), Profit, Bargeld usw. sein. Verschiedene Funktionen müssen unterschiedlich analysiert werden. In Freier Software gibt es keine Warenform, Geld im engeren Sinne des Verkaufs einer Ware zu einem Preis existiert nicht. Eric Raymond hat erklärt, wie man mit einer Nicht-Ware trotzdem Geld verdienen kann: indem man sie mit einem knappen Gut kombiniert. In einer kapitalistischen Gesellschaft, in der nur wenige Güter aus dem Warenreich ausbrechen, existieren die meisten Güter weiterhin als Waren. Sie werden knapp gehalten und mit kostenlosen Gütern kombiniert. Aus der Sicht der Verwertung ist das nichts Neues (z.B. Geschenke verteilen, um Kunden zu gewinnen). In der Keimform-Perspektive beginnt hier die Entwicklung einer neuen Produktionsweise innerhalb des bestehenden alten Modells.
Aber warum geben Unternehmen Geld, wenn das Geld keine Investition im traditionellen Sinne ist? Warum hat IBM eine Milliarde Dollar in die Freie Software gesteckt? Weil sie sich dazu gezwungen sahen. Ökonomisch ausgedrückt mussten sie ein Geschäftsfeld entwerten, um andere profitable Geschäftsfelder zu sichern. Sie mussten Geld verbrennen, um eine teure Infrastruktur für ihre anderen Verkäufe zu schaffen (z.B. Server-Hardware).
Es gab viele Versuche, die nicht-tauschende, nicht-warenförmige, commons-basierte freie Zirkulation Freier Software in das traditionelle Paradigma, das auf Tausch und Ware basiert, zu integrieren. Der prominenteste Versuch war die „Aufmerksamkeitsökonomie“, die besagt, dass die Produzenten nicht Güter, sondern Aufmerksamkeit austauschen. Aufmerksamkeit sei die neue Währung. Das war jedoch nur ein verzweifelter Versuch, sich an die alten Begriffe zu klammern, der weder funktionierte noch neue Einsichten lieferte.
Jenseits des Geldes zu sein resultiert direkt aus dem Nicht-Ware-Sein.
Diskursfigur 5: Jenseits der Arbeit
Freie Software und Commons im Allgemeinen sind jenseits von Arbeit. Das kann nur verstanden werden, wenn Arbeit als spezifische Form produktiver Aktivität aufgefasst wird, die mit einer bestimmten historischen Gesellschaftsform verbunden ist. Der Verkauf der Arbeitskraft – also der Fähigkeit zu arbeiten – an einen Kapitalisten, der diese einsetzt, um mehr zu produzieren, als die Arbeitskraft wert ist, ist historisch einzigartig. Das hat zwei wichtige Konsequenzen.
Erstens verkehrt es produktive Aktivität – die Menschen immer aufwenden, um ihre Lebensbedingungen herzustellen – in entfremdete Arbeit. Diese Entfremdung ist nicht Ergebnis personaler Herrschaft, sondern strukturellen Zwangs. Im Kapitalismus können Menschen nur überleben, wenn sie für ihren Lebensunterhalt bezahlen, was sie zwingt, Geld einzunehmen. Um Geld einzunehmen, kann man entweder die eigene Arbeitskraft verkaufen oder die Arbeitskraft anderer kaufen und verwerten. Das Ergebnis ist ein deformierter Prozess, bei dem strukturelle Anforderungen vorgeben, was eine Person zu tun hat.
Zweitens erzeugt es den Homo oeconomicus , das isolierte Individuum, das nach Nutzenmaximierung strebt. Die traditionelle Ökonomie behauptet, dass der Homo oeconomicus der Archetyp eines menschlichen Wesen sei, womit eine besondere historische Erscheinung zur natürlichen Voraussetzung verkehrt wird.
Anstatt auf Arbeit basiert Freie Software auf Selbstentfaltung. Auf der einen Seite geht es um das „Jucken in den Fingern“ (Eric Raymond), darum, „das zu tun, was man wirklich, wirklich will“ (Frithjof Bergmann), und um „eine Menge Spaß“ (Entwickler_in Freier Software). Auf der anderen Seite geht es um die Einbeziehung anderer Entwickler_innen zur Erzielung der bestmöglichen Lösung. Es schließt eine positive Reziprozität zu anderen ein, also auf eine solche Weise nach dem gleichen Ziel zu streben, dass die Selbstentfaltung des/der einen, die Voraussetzung der Selbstentfaltung der anderen ist. Nicht zufällig erinnert das an das Kommunistische Manifest, worin die „freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller“ ist (Marx, Engels, 1848).
Anstatt die eigene Energie für fremde Zwecke zu verkaufen, üblicherweise Arbeit genannt, basiert Freie Software auf Selbstentfaltung, die die freie Entwicklung aller produktiven Kräfte der Menschen ist.
Diskursfigur 6: Jenseits von Klassen
Kapitalismus ist eine Gesellschaft der Spaltungen. Kaufen vs. verkaufen, produzieren vs. konsumieren, Arbeit vs. Kapital, konkrete vs. abstrakte Arbeit, Gebrauchswert vs. Tauschwert, private Produktion vs. gesellschaftliche Verteilung usw. Die kapitalistische Entwicklung wird von den Widersprüchen zwischen den getrennten Teilen vorangetrieben. Arbeit und Kapital ist nur ein Widerspruch unter vielen, aber es scheint der wichtigste zu sein. Eine Person scheint per Definition entweder ein Arbeitskraft-Verkäufer oder ein Arbeitskraft-Käufer, ein Arbeiter oder ein Kapitalist zu sein. Tatsächlich sind Arbeit und Kapital keine Eigenschaften von Individuen, sondern gegensätzliche gesellschaftliche Funktionen, die wie alle anderen Spaltungen den Kapitalismus erzeugen und von ihm erzeugt werden.
Beide Seiten einer Spaltung hängen von der jeweils anderen ab. Arbeit produziert Kapital, und Kapital erzeugt Arbeit. Es ist ein entfremdeter Zyklus der permanenten Reproduktion der kapitalistischen Formen. Beide Seiten dieser Spaltungen sind folglich notwendige Funktionen des Kapitalismus. Der sogenannte Antagonismus von Arbeit und Kapital repräsentiert in Wirklichkeit einen bloß immanenten Modus der historischen Entwicklung des Kapitalismus. Die Arbeiter_innenklasse repräsentiert nicht die Emanzipation.
Freie Software und Peer-Produktion im Allgemeinen sind eine Keimform einer neuen Produktionsweise, die grundsätzlich nicht auf Spaltungen basiert, sondern auf die Einbeziehung unterschiedlicher persönlicher Bedürfnisse, Verhaltensweisen und Wünsche als kraftvolle Quelle der Entwicklung setzt. Ausbeutung gibt es nicht, da der Kauf und Verkauf von Arbeitskraft nicht existiert.
Selbstentfaltung als sich frei entwickelnde Menschen ist die Quelle des gesellschaftlichen Übergangs zu einer freien Gesellschaft, nicht die Klassenzugehörigkeit.
Diskursfigur 7: Jenseits der Exklusion
Eine der basalen Spaltungen, die der Kapitalismus erzeugt, ist die zwischen denen, die drinnen sind, und denen, die es nicht sind. Dieses Drinnen-Draußen-Muster ist ein struktureller Mechanismus der Inklusion und Exklusion entlang aller möglichen gesellschaftlichen Differenzen: Arbeitsplatzbesitzer_innen vs. Arbeitslose, Reiche vs. Arme, Männer vs. Frauen, Nicht-Weiße vs. Weiße, Bosse vs. Untergeordnete, Eigentümer_innen der Produktionsmittel vs. Eigentumslose, Krankenversicherte vs. Nichtversicherte usw. Die Spaltungen müssen als strukturelles Grundprinzip des Kapitalismus begriffen werden: Ein Einschluss auf der einen Seite bedeutet einen Ausschluss auf der anderen Seite. Für das Individuum heißt das, dass jedes persönliche Vorankommen stets zu Lasten von anderen geht, die nicht vorankommen oder zurückfallen.
Im Allgemeinen sind Commons jenseits der Mechanismen der Exklusion. Je mehr aktive Menschen zum Beispiel bei Freier Software in einem Projekt mitmachen, desto schneller und besser kann ein Ziel erreicht werden. Hier wird die Beziehung zwischen den Menschen nicht durch Inklusions-Exklusions-Mechanismen bestimmt, sondern durch eine inklusive Reziprozität . Der Maintainer eines Projekts versucht so viel wie möglich aktive Leute einzubeziehen, strebt nach einer kreativen Atmosphäre und versucht Konflikte in einer Weise zu lösen, dass so viele Leute wie möglich dem „groben Konsens“ und dem „lauffähigen Programm“ folgen können („rough consensus, running code“).
Wenn ein Konsens nicht möglich ist, dann ist die beste Lösung ein Fork, die Aufteilung eines Projekts. Es ist eine riskante, aber machbare Option, um verschiedene Richtungen der Entwicklung auszuprobieren. Viele der bestehenden Forks arbeiten eng zusammen oder halten eine Atmosphäre der Kooperation aufrecht.
Während der Kapitalismus strukturell auf Exklusionsmechanismen basiert, erzeugt und befördert die commons-basierte Peer-Produktion die Inklusion.
Diskursfigur 8: Jenseits des Sozialismus
Ein Großteil der Linken teilt die Annahme, dass der Sozialismus als eigenständige Phase zwischen der freien Gesellschaft (Kommunismus) und dem Kapitalismus unvermeidlich ist. Nach dem allgemeinen Konzept besitzt dort die Arbeiter_innenklasse die Macht und kann die gesamte Ökonomie entsprechend ihrer Interessen und damit der Mehrheit der Gesellschaft umstrukturieren. Kurz: Zuerst muss die Macht errungen werden, dann wird die neue Produktionsweise folgen, um eine wirklich freie Gesellschaft aufzubauen. Dieses Konzept (z.B. als „Realexistierender Sozialismus“) ist historisch gescheitert.
Es war stets eine neue Produktionsweise, die aus der alten Art zu produzieren entstand und den historischen Übergang vorbereitete. Der Kapitalismus entwickelte sich ursprünglich aus dem Handwerk der mittelalterlichen Städte, das dann in Manufakturen integriert wurde und schließlich zum System der großen Industrie führte. Die Frage der Macht wurde „auf dem Weg“ dorthin gelöst. Das schmälert nicht die Bedeutung von Revolutionen, aber Revolutionen können nur das realisieren und befördern, was sich bereits entwickelt. Die Revolutionen des Arabischen Frühlings erschaffen nichts Neues, sondern sie versuchen die Potenzen der normalen demokratischen und bürgerlichen Gesellschaft umzusetzen.
Der historische Übergang kann nicht als Übernahme der politischen Macht realisiert werden – sei es über das Parlament oder durch Aktionen auf der Straße –, sondern nur als Entwicklung einer neuen Produktionsweise. Die Kriterien für die neue Qualität können aus den praktischen Negationen der alten Produktionsweise gewonnen werden. Statt Waren: Commons-Produktion; statt Tausch und Geldvermittlung: freie Verteilung; statt Arbeit: Selbstentfaltung; statt Exklusionsmechanismen: Inklusion aller Menschen.
Die commons-basierte Peer-Produktion überschreitet sowohl den Kapitalismus wie auch den warenproduzierenden Sozialismus.
Diskursfigur 9: Jenseits der Politik
Da es bei der commons-basierten Peer-Produktion vor allem um die Entfaltung einer neuen Produktionsweise geht, ist sie grundsätzlich eine nicht-politische Bewegung. Hierbei wird Politik als eine Aktivität verstanden, die sich an den Staat und seine Institutionen richtet und Forderungen nach Veränderungen in eine gewünschte Richtung stellt. Eine solche Politik basiert auf Interessen, die im Kapitalismus stets gegeneinander gerichtet sind. In diesem Sinne sind Commons jenseits von Politik, da sie grundsätzlich nicht im Modus von Interessen, sondern im Modus von Bedürfnissen agieren.
Es ist wichtig, zwischen Bedürfnissen und Interessen zu unterscheiden. Bedürfnisse müssen in Form von Interessen organisiert werden, wenn der übliche Realisationsmodus der des Ausschlusses der Interessen von anderen ist. Commons basieren auf einer Vielfalt von Bedürfnissen der Beteiligten, die als Quelle der Kreativität genutzt wird. Die Vermittlung dieser verschiedenen Bedürfnisse ist Teil des Prozesses der Peer-Produktion. Es ist nicht notwendig, die Bedürfnisse zusätzlich in Form von Interessen zu organisieren, um sie anschließend politisch zu realisieren. Stattdessen wird die Bedürfnisvermittlung und -befriedigung direkt erreicht.
Ein Aspekt, der dies verdeutlicht, ist die Frage der Hierarchien. Normalerweise sind Hierarchien Teil der kapitalistischen Warenproduktion. Daher ist ein üblicher linker Topos, jegliche Hierarchien abzulehnen, um Herrschaft zu vermeiden. Das jedoch ignoriert die Tatsache, dass Hierarchien als solche keine Herrschaft erzeugen, sondern die Funktion, die Hierarchien in einem bestimmten Kontext haben. In einem Unternehmen repräsentieren Hierarchien unterschiedliche Interessen, zum Beispiel die Interessen der Arbeiter_innen und die des Managements. In der Peer-Produktion könnte eine Hierarchie jedoch unterschiedliche Niveaus von Kompetenz, Erfahrung oder Verantwortlichkeit abbilden, was von denen geteilt wird, die jemanden in einer herausgehobenen Position akzeptieren. Ein Maintainer zu sein bedeutet nicht, unterschiedliche Interessen auf Kosten der Projektmitglieder zu verfolgen. Ein solches Projekt würde nicht gedeihen. Im Gegenteil, ein Maintainer ist in der Regel erpicht darauf, so viele aktive und kompetente Projektmitglieder zu integrieren wie möglich. Das verhindert nicht Konflikte, aber Konflikte können so auf der Grundlage der gemeinsam geteilten Projektziele gelöst werden.
Commons-basierte Peer-Produktion erfordert nicht, die Bedürfnisse der Menschen in Form gegensätzlicher Interessen zu artikulieren, sie ist daher jenseits von Politik.
Diskursfigur 10: Keimform
Zum Abschluss zur wichtigsten Diskursfigur, dem Keimform- oder Fünfschritt-Modell. Ziel des Modells ist, die gleichzeitige Existenz von Phänomenen unterschiedlicher Qualität zu verstehen. Die Diskussion um die Peer-Produktion wird häufig von zwei Gruppen dominiert: Jenen, die die Peer-Produktion befürworten und zu beweisen versuchen, dass die Peer-Produktion antikapitalistisch ist, und jenen, die die Peer-Produktion nur als Modernisierung des Kapitalismus ansehen. Die Herausforderung besteht darin, beides zusammen zu denken. Das Keimform-Modell erreicht dies, indem es das Aufkommen und die Entwicklung der commons-basierten Peer-Produktion als einen über die Zeit sich widersprüchlich entfaltenden Prozess auffasst.
Normalerweise ist die Anwendung des Fünfschritt-Modells ein retrospektiver Vorgang, bei dem das Ergebnis der analysierten Entwicklung bekannt ist. Durch gedankliche Vorwegnahme des Ergebnisses eines Übergangs zu einer freien Gesellschaft auf Grundlage commons-basierter Peer-Produktion kann die Herausbildung der freien Gesellschaft rekonstruiert werden. Hier ist eine sehr grobe Skizze der fünf Schritte angewendet auf den Fall der Peer-Produktion.
1. Keimform. Eine neue Funktion tritt auf. In dieser Phase darf die neue Funktion nicht als vollständiger Keim oder Samen verstanden werden, der bereits alle Eigenschaften der endgültigen Form enthält und nur noch wachsen muss. Die Keimform zeigt nur Prinzipien des Neuen, ist aber nicht schon das Neue selbst. Daher ist auch die commons-basierte Peer-Produktion nicht schon selbst das Neue, sondern das qualitativ Neue an ihr ist die bedürfnisbasierte Vermittlung zwischen den Peer-Produzent_innen (basierend auf Selbstentfaltung). Während dieser Phase ist dies zudem nur auf lokaler Ebene sichtbar.
2. Krise. Nur wenn das umgreifende alte System in eine Krise kommt, kann die Keimform ihre Nische verlassen. Die kapitalistische Weise der gesellschaftlichen Produktion und Vermittlung über Waren, Märkte, Kapital und den Staat hat die Menschheit in eine tiefe Krise gebracht. Sie ist in die Phase des sukzessiven Verfalls und der Erschöpfung der historisch akkumulierten Systemressourcen eingetreten.
3. Funktionswechsel. Die neue Funktion verlässt ihren Keimform-Status in der Nische und bekommt Bedeutung für die Reproduktion des alten Systems. Die frühere Keimform hat nun ein doppeltes Gesicht: Einerseits kann sie zum Zweck des Erhalts des alten Systems genutzt werden, andererseits ist und bleibt ihre eigene Logik inkompatibel mit der Logik des dominanten alten Systems. Peer-Produktion ist nutzbar für Kosteneinsparungen und die Schaffung neuer Umgebungen für kommerzielle Aktivitäten, aber ihre eigenen Aktivitäten beruhen weiterhin auf nicht-warenförmiger Entwicklung. Kooptation und Absorption in die normale Warenproduktion sind möglich. Nur wenn die Peer-Produktion in der Lage ist, ihre commons-basierten Prinzipien zu verteidigen, kann der nächste Schritt erreicht werden.
4. Dominanzwechsel. Die neue wird zur vorherrschenden Funktion. Die alte Funktion verschwindet nicht sofort, sondern tritt als vormals dominante Funktion in Randbereiche zurück. Die commons-basierte Peer-Produktion hat ihre Vernetzungsdichte auf globaler Ebene erhöht, so dass sich Input-Output-Verbindungen schließen und geschlossene Kreisläufe entstehen. Getrennte Privatproduktion mit nachfolgender Marktvermittlung unter Benutzung von Geld ist nicht mehr erforderlich. Die bedürfnisorientierte soziale Vermittlung organisiert Produktion und Verteilung. Das gesamte System hat nun qualitativ seinen Charakter geändert.
5. Umstrukturierung. Die Richtung der Entwicklung, die Grundstrukturen und die basale Funktionslogik haben sich geändert. Dieser Prozess umfasst mehr und mehr gesellschaftliche Felder, die sich nun auf die neue bedürfnisbasierte gesellschaftliche Vermittlung ausrichten. Der Staat ist abgewickelt, neue gesellschaftliche Institutionen entstehen, die keinen einheitlichen Staatscharakter mehr besitzen, sondern Mittel der kollektiven Selbstentfaltung sind. Neue Widersprüche können auftreten, ein neuer Zyklus der Entwicklung könnte beginnen.
Dies ist nur ein erkenntnistheoretisches Modell, kein Schema für die unmittelbare Aktion. Der Hauptvorteil liegt in der Möglichkeit, den fruchtlosen Entweder-oder-Debatten zu entkommen. Es ermöglicht das Denken parallel auftretender Phänomene: das Aufkommen einer neuen Produktionsweise, die für das alte System nützlich ist und gleichzeitig ihre überschreitende Potenz in Richtung auf eine freie Gesellschaft beibehält.
Das Keimform-Modell, das im Oekonux-Kontext angepasst wurde, ermöglicht die dialektische Konzeptualisierung historischer Übergänge.
Eine Langfassung dieses Textes steht unter kurzlink.de/oekonuxdiskurs zur Verfügung.