Klassenkampf als immanenter Konflikt
Ein Gespräch zwischen Andreas Exner und Stefan Meretz
Teil 4 und Schluss (Teil 1, Teil 2, Teil 3)
[Erschienen in: Grundrisse 42/2012]
Stefan: Du hast viele interessante Fragen aufgeworfen, auf die ich nur ausschnitthaft eingehen kann. Ich habe verstanden, dass du vom Primat der Herrschaft ausgehst und die Produktionsweise wesentlich dadurch bestimmt siehst. Folglich siehst du den Ansatzpunkt der Transformation bei der Herrschaftsfrage. Bei mir ist es umgekehrt. Nun könnten wir uns auf ein Mittelding einigen, aber das wäre ein fauler Kompromiss und keine theoretische Debatte. Also will ich darauf noch etwas eingehen.
Du sagst, „Kapitalisten trachten danach Kapitalisten zu bleiben“, nicht als souveräne Subjekte, sondern um ihren Status zu bewahren oder auszubauen. Das gleiche gilt aber auch für die Arbeitskraftverkäufer. Der alte Radio-Eriwan-Witz mit der Frage „Was ist schlimmer als ausgebeutet zu werden?“ hat eine tiefe Wahrheit: „Nicht ausgebeutet zu werden“. „Kapitalist“ und „Arbeiter“ sind notwendige, gesellschaftliche Funktionen, die asymmetrisch aufeinander bezogen sind. Die Notwendigkeit ergibt sich allein aus der kapitalistischen Betriebsweise, zu der die Asymmetrie, der Gegensatz, der Interessenkampf, der Klassenkampf gehören. Der Klassenkampf ist aus meiner Sicht eine immanente Bewegungsform des kapitalistischen Betriebssystems. Er ist auf die kapital-immanent notwendigen gesellschaftlichen Funktionen bezogen und enthält in seiner eigenen Interessenlogik keine emanzipatorischen Ansatzpunkte. Solche emanzipatorischen Ansatzpunkte müssten stets zusätzlich in den Klassenkampf von außen hineingetragen werden, sie kommen nicht aus ihm selbst. Das ist keine besonders originelle Position, im Grunde hat das schon Lenin so gesehen. Nur war sein Schluss, dass die Kader-Partei das revolutionäre Bewusstsein in die Arbeiterklasse tragen müsse. Apropos „arbeitende Klasse“: Kapitalist will ich nicht sein müssen, das wäre mir viel zu viel „Arbeit“. Ist alles gescheitert und Vergangenheit.
Ist der Klassenkampf trotzdem ein wichtige Kategorie? Ja, aber nur in dem klaren Bewusstsein, dass es sich um eine systemimmanente Kategorie handelt, die sich dazu eignet, die funktional notwendigen Interessenunterschiede analysierbar zu machen. Denn, da stimme ich dir zu, tatsächlich ist zwischen den Interessen der bäuerlich Produzierenden und dem Industriekapital, dem Arztunternehmer und dem Krankenhauskonzern usw. zu unterscheiden. Mein entscheidender Punkt: Es bewegt sich alles im systemimmanenten Kampf der einen Interessen gegen die anderen. Damit illustrierst du also meine allgemeine Kennzeichnung der basalen Funktionsweise als Exklusionslogik. Innerhalb der Exklusionslogik gibt es keine allgemeine Emanzipation, sondern jede partielle Durchsetzung der eigenen, auch kollektiven Interessen geht stets zu Lasten von anderen. Für eine allgemeine Emanzipation ist der Interessenmodus selbst aufzuheben, und zwar denkend theoretisch wie praktisch handelnd. Was das heißen kann, diskutiere ich unten.
Wenn ich nun auf dem Primat der Produktion vor der Frage der Herrschaft bestehe, dann hat das mehrere Gründe. Erstens ist ganz allgemein die gesellschaftliche Produktion der Lebensbedingungen Wesensmerkmal des Menschen, Herrschaft hingegen keineswegs. Das finde ich wichtig, um naturalisierende Seinszuschreibungen zurückweisen zu können. Zweitens sind im Kapitalismus die Produktionsverhältnisse herrschaftsförmig. Es handelt sich also nicht um ein Außenverhältnis zweier wechselwirkender Faktoren, etwa von Produktion und Herrschaft, sondern um einen inneren Zusammenhang. Von einem Binnenverhältnis auszugehen hat zur Folge, dass ich über den Hebel der Herrschaft zwar einiges bewegen, aber allgemeine Emanzipation nicht erreichen kann. Aus meiner Sicht sind im Interessenmodus der Exklusionslogik nur immanente, beschränkte Schritte möglich. Diese immanenten Zuwächse an Handlungsmöglichkeiten will ich nicht gering schätzen, ich kann sie aber nicht als Schritte auf dem Weg zu einer allgemeinen Emanzipation unter Aufhebung des Kapitalismus stilisieren. Das sind sie nämlich nicht.
Demonetarisierung und Entwarenformung
Demonetarisierung als emanzipatorische Perspektive, die wir teilen, ist für mich daher zuvörderst mit einem Prozess der Entwarenformung der Produktion und dem Aufbau genuin nicht-warenförmiger Produktionsverhältnisse verbunden. Die Waschmaschinen produzierende Genossenschaft mag intern gleichberechtigter und partizipatorischer organisiert sein als ein normales Unternehmen, doch die gleichberechtigte Partizipation bezieht sich primär auf den Erfolg am Markt zu Lasten der anderen Waschmaschinenproduzenten. Die Gewerkschaft und der Betriebsrat als Co-Management sind nur eine andere Form der Partizipation zu gleichen Zwecken. Es geht jedoch darum, den Zweck der Vermarktung, also die Warenform, aufzuheben.
Ich habe als Alternative die commons-basierte Peer-Produktion angeführt. Hier wendest du nun wie auch andere zurecht ein, dass es um die Produktionsmittel ginge und da sähe es schlecht aus. Bei den digitalen Commons stehen diese zwar bei den meisten als Privatbesitz auf dem Schreibtisch, im globalen Norden zumindest, aber wenn es um die stoffliche Produktion und die dafür nötigen Produktionsmittel geht, sieht das anders aus. Soll das nun alles neu gebaut werden? Ist das nicht ökologischer Wahnsinn? Warum also nicht Aneignung der Produktionsmittel und Einsatz für die allgemeine Emanzipation?
Dagegen spricht, dass viele Produktionsmittel nicht neutral sind, sondern die soziale Form und damit der Zweck der Verwertung in ihre stoffliche Gestalt eingeschrieben ist. Das fängt damit an, dass die meisten Güter – Produktionsmittel wie Konsumgüter – closed-source und überkomplex sind, um einerseits Nutzer abhängig zu machen und zum anderen den Nachbau zu verhindern. Auch das ist sachliche Herrschaft!
Opensourcing und Peer-Produktion ist nun eine Bewegung, diese in die nicht-stofflichen wie stofflichen Güter eingeschriebene Herrschaftsmatrix, die Exklusionslogik, aufzubrechen. Es ist eine allgemeine Bewegung zur Wiederaneignung der eigenen produktiven Potenzen, von Kreativität, Wissen und Fertigkeiten. Das ist die Voraussetzung dafür, um überhaupt so etwas wie eine Produktion jenseits der Warenform aufbauen zu können. Aus der Warenproduktion heraus ist so ein Prozess kaum denkbar – es sei denn, eine Firma gibt ein Geschäftsfeld auf oder geht Pleite, oft nehmen sie jedoch ihr Wissen mit in die Insolvenz.
Opensourcing und Peer-Produktion sind Voraussetzungen, andere Zwecke in die Produkte selbst einzuschreiben. Das möchte ich an einem Beispiel illustrieren. Traktoren werden für die landwirtschaftliche Produktion benötigt, sei es vom Ökolandbau, der konventionellen Produktion oder der nicht-kommerziellen Landwirtschaft, die ihre Produkte nicht vermarktet, sondern verteilt. Solche Traktoren sind teuer, closed-source und überkomplex. Es ist ihr Zweck, abhängig zu machen und irgendwann ersetzt zu werden – Stichwort: geplanter Verfall. Solche Traktoren kann man kurzfristig nutzen, wenn man sie hat, sie sind für eine allgemeine Emanzipation jedoch nicht zu gebrauchen. Sie müssen neu entwickelt werden. Dabei müssen wir unsere Kriterien in den Traktor einschreiben: Modularität, Einfachheit, Langlebigkeit, niedriger Betriebsaufwand, geschlossene Stoffkreisläufe, Eigenbau, flexible Fertigung, hohe Leistung. Open Source ist dafür die unabdingbare Voraussetzung. Wir müssen den Traktor neu bauen in dem Maße wie wir die Gesellschaft neu bauen.
Das Projekt „Open Source Ecology“ (OSE) hat sich genau dieses Ziel gesetzt: Neuentwicklung bekannter Maschinen. Nicht nur den Traktor, sondern im ersten Schritt die 50 wichtigsten Produktionsmittel, um eine lokale Produktion aufzubauen. „Global Village Construction Set“ (GVCS) nennen sie es. Dabei handelt es sich nicht um ein warenkritisches Projekt. Sie unterliegen sogar der Illusion, das Projekt irgendwann durch den Verkauf der Produkte finanzieren zu können. Ich hoffe, dass sie erfahren werden, dass es ihre Ziele beschädigt, wenn sie sich auf den Markt ausrichten. Bislang ist es nicht nötig, da sie aufgrund großer Aufmerksamkeit ganz gut von Spenden leben können. Denn das ist klar: Die Werkzeuge zum Bau der neuen Produktionsmittel kaufen sie ganz herkömmlich ein. Bislang sind sie noch nicht zu „Investionsmitteln“ mutiert, die sich in der Verwertungslogik irgendwann wieder bezahlt machen müssen. Mal sehn, ob es so bleibt. Auch das ist ein Lernprozess.
OSE mit dem GVCS ist nur ein Beispiel aus einer Liste von 300 offenen Hardware-Projekten, die im Wiki der P2P-Foundation geführt werden (p2pfoundation.net/Product_Hacking). Nach Freier Software, Freiem Wissen und Freiem Design ist Opensourcing jetzt in der physischen Welt angekommen. Sehr wichtig finde ich auch zu beachten, dass es nicht nur darum geht, die Produktion im engeren Sinne auf eine neue Grundlage zu stellen, sondern dass sich gleichzeitig die sozialen Beziehungen verändern. Die Effekte, die du auch schon für Kooperativen berichtet hast, kommen unter Commons-Bedingungen erst recht zum Tragen. Ferne zu Markt bedeutet Entscheidungsfreiheit, aber auch Verantwortung. Wenn es den Scharfrichter des Marktes nicht gibt, müssen alle Konflikte – etwa, welche Bedürfnisse Vorrang haben sollen – direkt sozial ausgetragen werden. Dafür brauchen wir neue Formen der Kommunikation und Entscheidung. Erfahrungen wie sie im Occupy-Kontext mit den Asambleas gesammelt werden sind dabei wichtig. Allerdings könnte die Vernetzung zwischen den opponierenden und konstruktiven Bewegungen noch besser werden. Wir brauchen beides.
Bedeutet Neubau aller Mittel nicht eine ungeheuren Ressourcenaufwand, den wir uns nicht leisten können? Ist also der Open-Source-Weg keiner für die ganze Welt? Das sehe ich nicht so. Das Argument übersieht, dass der laufende Kapitalismus in ungeheurer Geschwindigkeit permanent seine komplette produktive Basis erneuert. Aus diesem Wachstums- und Erneuerungswahnsinn gilt es auszusteigen, indem nicht mehr die alten, proprietären, monolithischen Wegwerfgüter, sondern langlebige, modulare, reparierbare Open-Source-Güter produziert werden. Nur so kann die kapitalistische Produktionsweise auf der stofflichen Seite beendet werden: durch Ersetzung mit einer stofflich und sozial qualitativ neuen Produktionsweise jenseits von Ware, Markt, Arbeit, Kapital und Staat. Also: Aneignung der „alten“ Produktionsmittel ja, aber nur zum Zweck des stofflichen Ausstiegs aus der alten Produktionsweise.
Theorie als Praxisreflexion
Schließen möchte ich mit dem Theorie-Praxis-Verhältnis. Hier stimme ich dir weitgehend zu, dass Theorie alleine nichts bewegen kann, aber Praxis alleine möglicherweise das Falsche. Ob dem so ist, kann man wiederum zwar gedanklich bewegen, aber nicht entscheiden, auch das ist wiederum eine praktische Frage. Jedoch halte ich den Kampf-Gegen für überbetont. Diese Überbetonung kommt aus der Hoffnung, dass irgendwann aus dem Kampf-Gegen zauberhafter Weise ein Kampf-Für wird. Das sehe ich jedoch nicht. Der letzte große Kampf-Für, nämlich der für den Sozialismus, ist scheppernd verloren gegangen, weil er – das können wir heute theoretisch erkennen – doch nur ein Kampf für eine Variante der Warenproduktion war. Auf dem Gebiet der Warenproduktion ist der Kapitalismus jedoch unschlagbar. Der Kampf-Gegen kann nur ein Kampf gegen neue Zumutungen, Einschränkungen, Bedrängnisse sein – ein Dämme-bauen, ein Verteidigen der Lebensansprüche. Die neuen Schiffe zum Übersetzen ans andere Ufer entsteht in den Werkstätten der commons-basierten Peer-Produktion, der neuen Produktionsweise, die wir schrittweise aufbauen. Eins geht ohne das andere nicht.
Nachdem ich die Differenz betont habe, möchte ich zum Schluss das Gemeinsame in der Differenz herausheben: Es ist das gemeinsame Lernen. Alle Formen, die wir ausprobieren, sind Orte des Lernens und der Reflexion. So wie du um die Grenzen der Kooperativen weißt, sind mir viele Widersprüche in der commons-basierten Peer-Produktion bewusst. Grenzen und Widersprüche gehen jedoch nicht auf unsere Dummheit zurück, sondern auf die Dummheit des kapitalistischen System, das dabei ist, sich selbst aus der Welt zu verabschieden, aber leider nicht friedlich gehen will. Wir werden noch eine Weile damit zu tun haben.
Vielen Dank, Andreas, für das Gespräch.
Andreas: Ja, es geht um das soziale Lernen. Meiner Meinung nach hast du auch den allgemeinen Stellenwert sozialer Kämpfe gut ausgedrückt. Du sprichst deren Betonung an, die wechseln kann. Die Notwendigkeit, den Kampf zu betonen, bestimmt sich, so glaube ich, über die historische Situation.
Es ist in der Tat sehr wichtig, den Inhalt der Produktion zu verändern. Gelingt das ohne Fabriken, Büros und Land zu besetzen oder sonstwie anzueignen: umso besser. Das ist aber, wie ich denke, nur zu einem Teil, meiner Meinung nach nur zum geringeren Teil möglich. Außerdem glaube ich nicht, dass Kleinheit, Einfachheit oder Dezentralität einer Technologie an sich schon Autonomie garantiert. Auch geht es ja nicht nur um den Umbau, sondern ebenso um die Stilllegung. Profitable Betriebe sperren nicht aus freien Stücken zu. Aber vielleicht widerlegt mich eine Zukunft, die angesichts der drängenden Probleme freilich auch nicht allzu fern sein sollte.
Sofern Menschen, wie etwa in Venezuela heute, einmal an dem Punkt sind, dass sie Brückenköpfe im Staat errungen haben und substanzielle Mittel in der Hand haben, die gesellschaftliche Transformation weiterzutreiben, dann sollte das Moment des Kampfes meiner Meinung nach in den Hintergrund treten.
Die Betonungen zwischen Konstruktion und Destruktion, zwischen Attraktion und Aggression ändern sich also immer wieder, und wir beide setzen sie unterschiedlich.
Ich danke dir auch, Stefan, für die Debatte.