Geht dem Kapitalismus die Arbeit aus? (Teil 2)
[Teil 1]
Entwicklung nach geschätzter Arbeitsproduktivität gewichtet
Lohoff und Trenkle (2012: 98ff) weisen in diesem Kontext darauf hin, dass produktive Arbeiter in Niedriglohnländern pro Kopf tendenziell weniger Wert produzieren als in Hochlohnländern, weil sie zumeist nicht auf dem „Stand der Technik“ produzieren, also mehr als die gesellschaftlich nötige Arbeitszeit leisten. Vielleicht lagert ein Unternehmen seine Produktion nach Asien oder Osteuropa aus und beschäftigt anschließend dreimal so viele Angestellte pro Einzelstück wie vorher, zahlt aber unterm Strich aufgrund der geringeren Lohnkosten und des Einsatzes von weniger konstantem Kapital weniger als zuvor. Dann ist der Wert seiner Waren dadurch nicht gestiegen, auch wenn in jede Ware mehr Arbeitszeit einfließt als zuvor.
Um die Entwicklung der produktiven Arbeit besser nachzuvollziehen, ist es also notwendig, diese unterschiedlichen Produktivitätsniveaus zu berücksichtigen. Allerdings handelt es sich hierbei um eine unscharfe Größe, die sich nicht exakt beziffern lässt.
Denkbar wäre als Heuristik, die durchschnittlichen Lohnniveaus in einzelnen Ländern stellvertretend für ihre Arbeitsproduktivität aufzufassen. Allerdings dürfte dies meiner Einschätzung nach die in Niedriglohnländern geleistete Arbeit systematisch untergewichten, da sich die Lohnniveaus weltweit wahrscheinlich deutlich stärker unterscheiden als die Produktivität. Wahrscheinlich werden die Kapitalistinnen in Billiglohnländern zwar nicht die allerneuesten und besten Maschinen einsetzen, die bei hohen Fixkosten verhältnismäßig wenig Arbeit einsparen – das lohnt sich nur in Ländern mit hohem Lohnniveau. Doch die letzte oder vorletzte Generation von Maschinen, die in Hochlohnländern schon eingemottet werden, dürfe (gegebenenfalls gebraucht) oft günstig genug sein, um sich auch in Billiglohnländern zu rechnen. Dazu kommt noch, dass besonders „berüchtigte“ Niedriglohnländer wie etwa Bangladesch in meiner Untersuchung gar nicht auftauchen, da ihr Bruttoinlandsprodukt zu klein ist, um für die weltweite Kapitalverwertung eine signifikante Rolle zu spielen.
Meine Einschätzung ist deshalb, dass die Arbeitsproduktivität in Billiglohnländern zwar vielleicht um 20, 40 oder 60 Prozent unter der hochindustrialisierter Länder liegt, sich aber nicht um Größenordnungen von letzter unterscheidet. Für die folgende Tabelle habe ich diese Annahme so umgesetzt, dass die Einstufung der Länder im Human Development Index (HDI) der UN zur Abschätzung der Arbeitsproduktivität herangezogen wurde. Der HDI berechnet eine Rangfolge aller Länder anhand einer Metrik, die drei Faktoren kombiniert, nämlich die durchschnittliche Lebenserwartung, die Schulbesuchsdauer sowie das Bruttonationaleinkommen pro Kopf. Die Rangfolge wird zudem in vier gleichgroße Teile (Quartile) unterteilt (vgl. Wikipedia 2014b).
Für die Auswertung habe ich die Arbeitsproduktivität aller Länder aus dem ersten Quartil („sehr hohe menschliche Entwicklung“) als ungefähr gleich eingeschätzt. Sie wird voll gezählt, also zu 100 Prozent. Dazu gehört mehr als die Hälfte der untersuchten Länder. Die Arbeitsproduktivität im zweiten Quartil wurde im Vergleich dazu auf 80 Prozent angesetzt – dies gilt für zehn Länder in der Liste, darunter China. Zu 60 Prozent wird das dritte Quartil gezählt, dem nur noch fünf Länder angehören, u.a. Indien. Aus dem vierten Quartil hat es nur ein Land in die Liste geschafft, nämlich Nigeria – seine Produktivität wird auf 40 Prozent geschätzt.
Die folgende Tabelle zeigt das Bild, das sich ergibt, wenn man die Anzahl der Beschäftigten wie beschrieben nach der geschätzten Arbeitsproduktivität gewichtet. Auch so ergibt sich insgesamt eine Zunahme der produktiven Arbeit, allerdings etwas geringer als ohne die Gewichtung, nämlich um gut 15 statt knapp 19 Prozent. Der Unterschied fällt vergleichsweise klein aus, da 60 Prozent der untersuchten Länder (24 von 40) zum ersten Quartil des HDI gehören und daher als „auf dem Stand der Technik“ produzierend eingeschätzt werden.
Land | Jahr | Summe Produktiv | Gewicht | Gewichtete Summe |
---|---|---|---|---|
Ägypten | 1980 | 8147,5 | 60% | 4888,5 |
2008 | 15934,5 | 60% | 9560,7 | |
Argentinien | 1996 | 3344,5 | 100% | 3344,5 |
2011 | 3836,0 | 100% | 3836,0 | |
Australien | 1980 | 4285,5 | 100% | 4285,5 |
2009 | 4918,0 | 100% | 4918,0 | |
Belgien | 1980 | 2567,0 | 100% | 2567,0 |
2011 | 1787,5 | 100% | 1787,5 | |
Brasilien | 1981 | 35267,5 | 80% | 28214,0 |
2009 | 50672,0 | 80% | 40537,6 | |
Chile | 1980 | 2334,5 | 100% | 2334,5 |
2010 | 4736,5 | 100% | 4736,5 | |
China | 1987 | 487080,0 | 80% | 389664,0 |
2002 | 604505,0 | 80% | 483604,0 | |
Dänemark | 1981 | 1622,0 | 100% | 1622,0 |
2011 | 1141,0 | 100% | 1141,0 | |
Deutschland | 1991 | 26803,5 | 100% | 26803,5 |
2011 | 14849,5 | 100% | 14849,5 | |
Frankreich | 1980 | 15481,0 | 100% | 15481,0 |
2011 | 10236,0 | 100% | 10236,0 | |
Griechenland | 1981 | 2897,0 | 100% | 2897,0 |
2011 | 1837,5 | 100% | 1837,5 | |
Großbritannien | 1980 | 17561,0 | 100% | 17561,0 |
2011 | 12760,5 | 100% | 12760,5 | |
Indien | 1994 | 243493,5 | 60% | 146096,1 |
2010 | 307286,0 | 60% | 184371,6 | |
Indonesien | 1980 | 44284,5 | 60% | 26570,7 |
2008 | 75010,5 | 60% | 45006,3 | |
Iran | 1982 | 3512,5 | 80% | 2810,0 |
2008 | 14297,5 | 80% | 11438,0 | |
Italien | 1980 | 15942,5 | 100% | 15942,5 |
2011 | 8941,0 | 100% | 8941,0 | |
Japan | 1980 | 40505,0 | 100% | 40505,0 |
2008 | 33975,0 | 100% | 33975,0 | |
Kanada | 1980 | 7054,5 | 100% | 7054,5 |
2008 | 8295,5 | 100% | 8295,5 | |
Kolumbien | 1980 | 11712,0 | 80% | 9369,6 |
2010 | 12106,0 | 80% | 9684,8 | |
Malaysia | 1980 | 3966,5 | 80% | 3173,2 |
2010 | 4994,5 | 80% | 3995,6 | |
Mexiko | 1988 | 21439,0 | 80% | 17151,2 |
2008 | 24578,5 | 80% | 19662,8 | |
Niederlande | 1981 | 3431,5 | 100% | 3431,5 |
2011 | 3716,0 | 100% | 3716,0 | |
Nigeria | 1983 | 19794,5 | 40% | 7917,8 |
2004 | 32479,0 | 40% | 12991,6 | |
Norwegen | 1980 | 1348,0 | 100% | 1348,0 |
2011 | 1124,5 | 100% | 1124,5 | |
Österreich | 1983 | 2364,3 | 100% | 2364,3 |
2011 | 1767,0 | 100% | 1767,0 | |
Philippinen | 1980 | 14550,0 | 60% | 8730,0 |
2011 | 22965,0 | 60% | 13779,0 | |
Polen | 1981 | 16069,0 | 100% | 16069,0 |
2011 | 6809,5 | 100% | 6809,5 | |
Russland | 1990 | 52966,5 | 80% | 42373,2 |
2009 | 38390,5 | 80% | 30712,4 | |
Saudi-Arabien | 1999 | 2430,5 | 100% | 2430,5 |
2009 | 3307,5 | 100% | 3307,5 | |
Schweden | 1980 | 2922,0 | 100% | 2922,0 |
2011 | 2056,0 | 100% | 2056,0 | |
Schweiz | 1980 | 2295,5 | 100% | 2295,5 |
2011 | 1773,0 | 100% | 1773,0 | |
Singapur | 1980 | 753,5 | 100% | 753,5 |
2008 | 740,5 | 100% | 740,5 | |
Spanien | 1980 | 9102,5 | 100% | 9102,5 |
2011 | 7604,5 | 100% | 7604,5 | |
Südafrika | 2000 | 8110,0 | 60% | 4866,0 |
2011 | 8074,0 | 60% | 4844,4 | |
Südkorea | 1980 | 11296,0 | 100% | 11296,0 |
2008 | 13697,0 | 100% | 13697,0 | |
Thailand | 1980 | 20621,5 | 80% | 16497,2 |
2011 | 27899,0 | 80% | 22319,2 | |
Türkei | 1982 | 3785,5 | 80% | 3028,4 |
2011 | 11792,0 | 80% | 9433,6 | |
USA | 1980 | 65070,0 | 100% | 65070,0 |
2010 | 61138,0 | 100% | 61138,0 | |
Venezuela | 1980 | 3086,0 | 80% | 2468,8 |
2011 | 8146,5 | 80% | 6517,2 | |
Ver. Arab. Emirate | 1995 | 742,0 | 100% | 742,0 |
2008 | 830,8 | 100% | 830,8 | |
Gewichtetes Delta | 115,3% |
Entwicklung der Arbeitszeiten
Die bisher verwendete Statistik KILM 4 erfasst zwar die Anzahl der Beschäftigten, sagt aber nichts darüber aus, wie lange diese im Durchschnitt arbeiten. Für die Frage nach der Entwicklung der produktiven Arbeit kommt es aber auch auf die Arbeitszeiten an, schließlich erwirtschaftet eine Person, die 20 Prozent länger arbeitet, auch 20 Prozent mehr Wert (sofern alle anderen Bedingungen gleich sind). Zur Klärung dieser Frage wurde ergänzend KILM 7b herangezogen, das die durchschnittliche Jahresarbeitszeit (in Stunden) der Beschäftigten eines Landes erfasst.
Leider wird diese Kennzahl nicht nach Sektoren aufgeschlüsselt, nur der landesweite Durchschnitt in einem bestimmen Jahr wird ausgewiesen. Zudem ist KILM 7b für viele der untersuchten Länder (insbesondere Entwicklungs- und Schwellenländer) gar nicht verfügbar. Betrachtet man die folgende Tabelle, stellt man fest, dass (soweit die Statistik vorliegt) zwar fast generell ein Rückgang der Stundenzahlen feststellbar ist, aber je nach Entwicklungsstand des Landes auf unterschiedlichem Niveau. In den hochentwickelten Ländern aus dem ersten Quartil des Human Development Index ist die Arbeitszeit im Schnitt um 8,9 Prozent zurückgegangen, von 1873 auf 1706 Stunden. In den Ländern aus dem zweiten Quartil, für die diese Statistik vorliegt, beträgt der Rückgang dagegen nur 2,2 Prozent und die durchschnittliche Arbeitszeit ist deutlich länger – 1939 Stunden zu Beginn und immer noch 1896 Stunden zum Ende der Statistik.
Auch ob diese Statistik überhaupt erfasst wird, hängt sehr stark vom Entwicklungsstand ab. Fast alle untersuchten Länder aus dem ersten Quartil erfassen diese Statistik – nur in dreien von 24 fehlt sie. Dagegen fehlt sie in 40 Prozent der Länder aus dem zweiten Quartil (4 von 10). Für die untersuchten Länder aus dem dritten und vierten Quartil liegt sie generell nicht vor.
Um diese Lücken zu schließen, lässt sich der Durchschnitt aus den Ländern, wo die Arbeitszeit erfasst wird, als Schätzwert heranziehen, wobei aber der Entwicklungsstand berücksichtigt werden muss. Zur Abschätzung der fehlenden Kennzahlen für die Länder des ersten Quartils wurde daher der Durchschnitt der restlichen Ländern des ersten Quartils verwendet. Wo diese Statistik bei den Ländern des zweiten bis vierten Quartils fehlt, wurde der Durchschnitt der Länder aus dem zweiten Quartil herangezogen.
Land | Jahr | Prod. Beschäftigte | Pers.stunden/Jahr | Summe prod. Std. | Delta prod. Std. |
---|---|---|---|---|---|
Ägypten | 1980 | 8147,5 | 1938,8 (2) | 15797 | |
2008 | 15934,5 | 1895,5 (2) | 30204 | 191,2% | |
Argentinien | 1996 | 3344,5 | 2013 | 6732 | |
2011 | 3836,0 | 1820 | 6982 | 103,7% | |
Australien | 1980 | 4285,5 | 1830 | 7842 | |
2009 | 4918,0 | 1685 | 8287 | 105,7% | |
Belgien | 1980 | 2567,0 | 1670 | 4287 | |
2011 | 1787,5 | 1577 | 2819 | 65,8% | |
Brasilien | 1981 | 35267,5 | 1796 | 63340 | |
2009 | 50672,0 | 1689 | 85585 | 135,1% | |
Chile | 1980 | 2334,5 | 2313 | 5400 | |
2010 | 4736,5 | 2068 | 9795 | 181,4% | |
China | 1987 | 487080,0 | 1938,8 (2) | 944367 | |
2002 | 604505,0 | 1895,5 (2) | 1145839 | 121,3% | |
Dänemark | 1981 | 1622,0 | 1632 | 2647 | |
2011 | 1141,0 | 1522 | 1737 | 65,6% | |
Deutschland | 1991 | 26803,5 | 1552 | 41599 | |
2011 | 14849,5 | 1413 | 20982 | 50,4% | |
Frankreich | 1980 | 15481,0 | 1795 | 27788 | |
2011 | 10236,0 | 1476 | 15108 | 54,4% | |
Griechenland | 1981 | 2897,0 | 2208 | 6397 | |
2011 | 1837,5 | 2032 | 3734 | 58,4% | |
Großbritannien | 1980 | 17561,0 | 1767 | 31030 | |
2011 | 12760,5 | 1625 | 20736 | 66,8% | |
Indien | 1994 | 243493,5 | 1938,8 (2) | 472093 | |
2010 | 307286,0 | 1895,5 (2) | 582461 | 123,4% | |
Indonesien | 1980 | 44284,5 | 1938,8 (2) | 85860 | |
2008 | 75010,5 | 1895,5 (2) | 142182 | 165,6% | |
Iran | 1982 | 3512,5 | 1938,8 (2) | 6810 | |
2008 | 14297,5 | 1895,5 (2) | 27101 | 397,9% | |
Italien | 1980 | 15942,5 | 1859 | 29637 | |
2011 | 8941,0 | 1774 | 15861 | 53,5% | |
Japan | 1980 | 40505,0 | 2121 | 85911 | |
2008 | 33975,0 | 1771 | 60170 | 70,0% | |
Kanada | 1980 | 7054,5 | 1826 | 12882 | |
2008 | 8295,5 | 1728 | 14335 | 111,3% | |
Kolumbien | 1980 | 11712,0 | 1976 | 23143 | |
2010 | 12106,0 | 1911 | 23135 | 100,0% | |
Malaysia | 1980 | 3966,5 | 1938,8 (2) | 7690 | |
2010 | 4994,5 | 1895,5 (2) | 9467 | 123,1% | |
Mexiko | 1988 | 21439,0 | 2242 | 48066 | |
2008 | 24578,5 | 2250 | 55302 | 115,1% | |
Niederlande | 1981 | 3431,5 | 1553 | 5329 | |
2011 | 3716,0 | 1379 | 5124 | 96,2% | |
Nigeria | 1983 | 19794,5 | 1938,8 (2) | 38378 | |
2004 | 32479,0 | 1895,5 (2) | 61564 | 160,4% | |
Norwegen | 1980 | 1348,0 | 1580 | 2130 | |
2011 | 1124,5 | 1426 | 1604 | 75,3% | |
Österreich | 1983 | 2364,3 | 1720 | 4067 | |
2011 | 1767,0 | 1600 | 2827 | 69,5% | |
Philippinen | 1980 | 14550,0 | 1938,8 (2) | 28210 | |
2011 | 22965,0 | 1895,5 (2) | 43530 | 154,3% | |
Polen | 1981 | 16069,0 | 1988 | 31945 | |
2011 | 6809,5 | 1937 | 13190 | 41,3% | |
Russland | 1990 | 52966,5 | 1933 | 102384 | |
2009 | 38390,5 | 1973 | 75744 | 74,0% | |
Saudi-Arabien | 1999 | 2430,5 | 1873,2 (1) | 4553 | |
2009 | 3307,5 | 1705,9 (1) | 5642 | 123,9% | |
Schweden | 1980 | 2922,0 | 1517 | 4433 | |
2011 | 2056,0 | 1644 | 3380 | 76,3% | |
Schweiz | 1980 | 2295,5 | 1805 | 4143 | |
2011 | 1773,0 | 1632 | 2894 | 69,8% | |
Singapur | 1980 | 753,5 | 1873,2 (1) | 1411 | |
2008 | 740,5 | 1705,9 (1) | 1263 | 89,5% | |
Spanien | 1980 | 9102,5 | 1912 | 17404 | |
2011 | 7604,5 | 1690 | 12852 | 73,8% | |
Südafrika | 2000 | 8110,0 | 1938,8 (2) | 15724 | |
2011 | 8074,0 | 1895,5 (2) | 15304 | 97,3% | |
Südkorea | 1980 | 11296,0 | 2864 | 32352 | |
2008 | 13697,0 | 2246 | 30763 | 95,1% | |
Thailand | 1980 | 20621,5 | 1938,8 (2) | 39982 | |
2011 | 27899,0 | 1895,5 (2) | 52883 | 132,3% | |
Türkei | 1982 | 3785,5 | 1943 | 7355 | |
2011 | 11792,0 | 1877 | 22134 | 300,9% | |
USA | 1980 | 65070,0 | 1813 | 117972 | |
2010 | 61138,0 | 1778 | 108703 | 92,1% | |
Venezuela | 1980 | 3086,0 | 1743 | 5379 | |
2011 | 8146,5 | 1673 | 13629 | 253,4% | |
Ver. Arab. Emirate | 1995 | 742,0 | 1873,2 (1) | 1390 | |
2008 | 830,8 | 1705,9 (1) | 1417 | 102,0% | |
Summe | Anfangsjahr | 1240039,8 | 2393861 | ||
Endjahr | 1471008,8 | 2756268 | 115,1% |
(1) Durchschnitt der Länder aus dem 1. Quartil des HDI
(2) Durchschnitt der Länder aus dem 2. Quartil des HDI
Die obige Tabelle 3 zeigt die Entwicklung der produktiven Arbeitsstunden, also die Anzahl der produktiv Beschäftigten multipliziert mit der durchschnittlichen Arbeitszeit pro Jahr. Auch hier ergibt sich noch eine leichte Zunahme der produktiven Arbeit um etwa 15 Prozent. Im Vergleich zur Zunahme der produktiven Beschäftigten fällt der Anstieg etwas geringer aus, weil die Arbeitszeit pro Person im Durchschnitt fast überall gesunken ist. Warum das so ist, wird von den Statistiken nicht erfasst, doch dürfte es mehr daran liegen, dass sich Teilzeitstellen und prekäre Jobs mit nur temporärer Beschäftigung verbreitet haben, und weniger an erfolgreichen Kämpfen der Arbeiterklasse für mehr Freizeit.
Die in Tabelle 3 dargestellten Zahlen lassen sich mit der Gewichtung aus Tabelle 2 kombinieren, um die unterschiedlich eingeschätzte Arbeitsproduktivität einzubeziehen. Im Ergebnis ergibt sich ein Wachstum der gemäß Entwicklungsstand (HDI) gewichteten produktiven Arbeitsstunden um nur noch 11,6 Prozent.
Diskussion
Unabhängig davon, welche der ermittelten Kennzahlen man verwendet: die produktive Arbeit ist in den letzten 30 Jahre gewachsen, nicht gefallen. Haben Lohoff und Trenkle (2012) also unrecht? In einem absoluten Sinne kann tatsächlich nicht die Rede davon sein, dass dem Kapital „die Arbeit ausgeht“. Betrachtet man die Entwicklung der produktiven Arbeit relativ zur Zunahme der Weltbevölkerung, ergibt sich ein anderes Bild. Im Jahr 1983 (dem durchschnittlichen Anfangsjahr der Untersuchung) lebten 4690 Millionen Menschen, 2010 hingehen 6840 Millionen (World Population Statistics 2014) – eine Zunahme um 46 Prozent. Im Vergleich dazu nimmt sich der Zuwachs der produktiven Arbeit um knapp 12 bis 19 Prozent (je nach Berechnungsmethode) sehr bescheiden aus.
Intuitiv könnte man erwarten, dass die produktive Arbeit ähnlich stark wie die Weltbevölkerung wächst. Schließlich stellen neue Menschen einerseits Arbeitskräfte dar (sofern sie ein Unternehmen profitabel einsetzen kann) und andererseits Konsumentinnen (sofern sie über Geld verfügen, was wiederum von der Verwertbarkeit ihrer Arbeitskraft abhängt). Dass die produktive Arbeitskraft so viel schwächer gewachsen ist als die Weltbevölkerung, weist also darauf hin, dass sich das Kapital tatsächlich schwertut, neue Verwertungsmöglichkeiten zu finden. An Arbeitskräften fehlt es nicht, also muss es wohl an Wachstumsmärkten mangeln, auf denen die zusätzlichen Arbeitskräfte produktiv genutzt werden könnten.
Oder vielleicht mangelt es gar nicht an Verwertungsmöglichkeiten, sondern an Kapital? Vielleicht verkonsumieren die Kapitalisten den Großteil ihres neu gewonnen Kapitals lieber, statt es in produktive Unternehmungen zu stecken? Diese Erklärung des langsamen Anstiegs der produktiven Arbeit – über 27 Jahre gemittelt, lediglich 0,6 Prozent (Beschäftigtenzahlen, ungewichtet) bzw. 0,4 Prozent (Arbeitsstunden, gewichtet) pro Jahr – ist zwar denkbar, erscheint aber wenig plausibel.
Lohoff und Trenkle (2012: 68) weisen darauf hin, dass es seit der unter Margaret Thatcher und Ronald Reagan begonnenen Liberalisierung der Finanzmärkte zu einer massiven Kapitalverschiebung von der „Realwirtschaft“ in die Finanzsphäre kam. Während vorher beide Bereiche in vergleichbaren Umfang wuchsen, hat sich seitdem die „Finanzindustrie“ von der Realwirtschaft scheinbar abgekoppelt und ein Vielfaches an Kapital gebunden. Die Liberalisierung der Finanzmärkte ist dabei ihrer Ansicht nach nicht eigentlicher Auslöser dieser Entwicklung. Vielmehr eröffnete sie dem Kapital, das sich in der „Realwirtschaft“ zunehmend schwertat, profitable Anlagemöglichkeiten zu finden, einen zumindest temporären Ausweg. An Kapital hat es also nicht gefehlt, nur floss es großteils nicht in realwirtschaftliche Unternehmen, sondern in Finanzprodukte. In der Finanzsphäre allein wird allerdings kein Wert geschaffen, obwohl sie durch Kredite an Konsumenten, Produzenten und Staaten die „Realwirtschaft“ ankurbeln und damit zur Zunahme der Wertverwertung beitragen kann.
Darauf, dass es nicht an Kapital, sondern an erfolgversprechenden Verwertungsmöglichkeiten fehlt, deutet auch hin, dass sich die Zentralbanken in den USA und Europa seit Jahren weitgehend vergeblich darum bemühen, die Wirtschaft durch die Vergabe von Krediten zu Niedrigstzinsen wieder „in Gang zu bringen“:
Die Firmen wollen gar keine Kredite – denn sie wissen nicht, wie sie das Geld investieren sollen. Die Autoren [des Buches The House of Debt, Atif Milan und Amir Sufi] behaupten das nicht einfach, sondern sie stützen sich auf bislang nicht analysierte Daten von Städten und Gemeinden, die sie in akribischer Arbeit aufgedröselt haben. (Münchau 2014)
Zwar geht dem Kapital nicht im absoluten Sinne die Arbeit aus, doch an produktiven Verwertungsmöglichkeiten scheint es sehr wohl zu mangeln. Insofern haben Lohoff und Trenkle (2012) ihre These zwar etwas zu hart formuliert, doch im Vergleich zur von Heinrich (2007) postulierten tendenziell unendlichen Ausdehnungsfähigkeit des Kapitalismus scheinen sie der Wahrheit näher zu kommen.
Nicht berücksichtigt wurde für diese Untersuchung zudem die von Lohoff und Trenkle (2012: 244f) vertretene sogenannte „Universalgüterthese“, derzufolge Softwareentwicklerinnen und andere Produzentinnen von Informationsgütern überhaupt keinen Wert produzieren. Begründet wird dies damit, dass sie keine besondere Privatarbeit verrichten (die in eine einzelne Ware fließt), sondern allgemeine Arbeit (die tendenziell allen zugute kommt und nur durch Monopolprivilegien – „geistiges Eigentum“ – mühsam privatisiert und zu Geld gemacht werden kann). Zwar ist die Universalgüterthese meiner Ansicht nach durchaus plausibel, doch ist sie heiß umstritten (vgl. Lohoff (2007) vs. Kurz (2008)) und dürfte auch unter Marxistinnen nur von einer kleinen Minderheit akzeptiert werden.
In dieser Arbeit bin ich konservativ vorgegangen und habe die Informations- und Kommunikationstechnologien (Sektor J in ISIC Rev. 4) generell als wertproduktiv eingestuft. Würde man die Wissensproduktion dagegen als „wertlos“ (nicht wertproduktiv) einstufen, würde der Zuwachs der produktiven Arbeit in den letzten 30 Jahren wahrscheinlich nochmal um einiges kleiner ausfallen, da dieser Sektor stark an Bedeutung gewonnen hat.
Literatur
- Heinrich, Michael (2007): Profit ohne Ende. In Jungle World 28/2007. URL: jungle-world.com/artikel/2007/28/19968.html, Zugriffsdatum: 7.10.2014.
- ILO (2013): Key Indicators of the Labour Market (KILM). 8. Aufl. URL: www.ilo.org/kilm, Zugriffsdatum: Juli bis September 2014.
- Kurz, Robert (2008): Der Unwert des Unwissens. In EXIT! 5. URL: www.exit-online.org/textanz1.php?tabelle=theoriezeitschrift&posnr=29, Zugriffsdatum: 15.10.2014.
- Lohoff, Ernst (2007): Der Wert des Wissens. In Krisis 31. URL: www.krisis.org/2007/der-wert-des-wissens, Zugriffsdatum: 15.10.2014.
- Lohoff, Ernst und Norbert Trenkle (2012): Die große Entwertung. Unrast, Münster.
- Marx, Karl (1977): Das Kapital. Erster Band. In Marx, Karl und Friedrich Engels (1956–1990): Werke, Band 23. Dietz, Berlin. Zitiert als MEW 23.
- Münchau, Wolfgang (2014): Die Spur des Geldes: So viel Geld – und alles für die Katz. Spiegel Online. URL: www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/kreditklemme-trotz-ezb-programmen-die-banken-sind-unschuldig-a-974132.html, Zugriffsdatum: 15.10.2014.
- UN Statistics Division (2008): ISIC Rev.4. URL: unstats.un.org/unsd/cr/registry/isic-4.asp, Zugriffsdatum: 27.9.2014.
- Wikipedia (2014a): List of countries by GDP (nominal). URL: en.wikipedia.org/wiki/List_of_countries_by_GDP_%28nominal%29, Zugriffsdatum: 28.7.2014.
- Wikipedia (2014b): List of countries by Human Development Index. URL: en.wikipedia.org/wiki/List_of_countries_by_Human_Development_Index, Zugriffsdatum: 15.8.2014.
- World Population Statistics (2014): World Population By Year. URL: www.worldpopulationstatistics.com/population-rankings/world-population-by-year/, Zugriffsdatum: 14.10.2014.
Anhang
Die untersuchte Zeitspanne wurde in allen Ländern so groß wie möglich gewählt. Die zur Entwicklung der Beschäftigtenzahlen herangezogene Statistik basierte im Anfangsjahr normalerweise auf Version 2 der ISIC-Klassifikation, im Endjahr auf Version 4. Ausnahmen sind im Folgenden dokumentiert.
- Mehrere Länder verwendeten im letzten verfügbaren Jahr noch ISIC Rev. 3: Ägypten, Brasilien, Indonesien, Iran, Japan, Kanada, Mexiko, Philippinen, Südkorea, Thailand.
- Einige Länder verwendeten sowohl im Anfangsjahr als auch im Endjahr ISIC Rev. 2: Chile, Kolumbien, Nigeria, Südafrika, Venezuela.
- Einige Länder verwendeten sowohl im Anfangsjahr als auch im Endjahr ISIC Rev. 3: Indien, Russland, Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate.
- Argentinien: für das erste Jahr (1996) wurde ISIC Rev. 3 verwendet. Die für frühere Jahre ausgewiesenen Daten beziehen sich nur auf den Großraum Buenos Aires und sind daher nicht vergleichbar.
- China: ISIC Rev. 2 wurde auch für das letzte Jahr (2002) verwendet. Die für spätere Jahre ausgewiesenen Daten basieren auf Rev. 3, beziehen sich aber nur auf städtische Gebiete und sind daher nicht mit den zuvor erhobenen Statistiken vergleichbar.
Die in den originalen KILM-4-Tabellen enthaltenen Beschäftigtenzahlen sind in Tausend mit einer Nachkommastelle, also auf 100 Beschäftigte genau. Beim Zusammenzählen mehrerer Sektoren für die in Tabelle 1 gezeigten Beschäftigtenzahlen habe ich der Einfachheit halber im Regelfall auf ganze Zahlen gerundet, also auf Tausend genau. Nur wenn die Summe auf ,5 endete, habe ich sie direkt übernommen, um größere Rundungsungenauigkeiten zu vermeiden. Wo die gezeigten Zahlen nur einen einzigen Sektor betreffen (nämlich den einzig unproduktiven Sektor 8 aus ISIC Rev. 2), habe ich dessen Zahl ohne Rundung übernommen.
In mehreren Ländern beziehen sich die für Tabelle 3 verwendeten Statistiken zur durchschnittlichen Arbeitszeit pro Person (KILM 7b) auf andere Jahre als die ISIC-Daten zur Beschäftigtenzahl, weil diese Kennzahl nicht in allen Jahren erhoben wurde. Da der verglichene Zeitraum dadurch tendenziell etwas verkürzt wurde, wäre der im Durchschnitt festgestellte Arbeitszeitrückgang mit weniger lückenhaften Statistiken wahrscheinlich noch ein wenig stärker ausgefallen.
- Argentinien: Anfangsjahr 1995
- Belgien: Anfangsjahr 1983
- Brasilien: Anfangsjahr 1990, Endjahr 1999
- Chile: Anfangsjahr 1996
- Griechenland: Anfangsjahr 1983
- Mexiko: Anfangsjahr 1991 – eine für 1990 angegebene Zahl erschien mir nicht vertrauenswürdig, da sie aus einer anderen Quelle stammt als die in den Folgejahren ausgewiesenen Kennzahlen und sehr viel niedriger ausfällt.
- Polen: Anfangsjahr 2000 (statt 1981!)
- Russland: Anfangsjahr 1992
- Schweiz: Endjahr 2010
- Venezuela: Anfangsjahr 1997, Endjahr 1999 (!)