Green Materialism follows New Materialism?

Are anti-capitalists — such as Occupy activists — realising Marx's vision of 'social humanity' as in his Theses on Feuerbach, 1845?

It seems like the principles and strategies of anti-capitalists have the capacity to form a life without money — substituting direct democracy for the outdated operating principle of money in capitalism.

Those are the arguments in a recent paper.

Find a short version of the 'Green materialism' talk in the Green Agenda panel at the recent Historical Materialism Australasia 2015 conference (University of Sydney):
http://ppesydney.net/new-and-green-materialism/

The full talk is on Research Gate:
https://www.researchgate.net/profile/Anitra_Nelson/publications

Produktive Arbeit auf dem Prüfstand

Fliegenfischer in Slowenien (Foto von Ziga, gemeinfrei, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Flyfishing.jpg )In dem Artikel Wert und produktive Arbeit hatte ich versucht darzulegen, warum gemäß Marx’ Konzeption nicht alle vom Kapital bezahlte und für den Verwertungsprozess notwendige Arbeit auch als produktiv anzusehen ist. Das hat allerdings nur bedingt geklappt, wie die Diskussion gezeigt hat.

Der Abwechslung halber möchte ich für diesen Artikel daher die Gegenposition einnehmen und erklären, warum es doch sinnvoller sein dürfte, auf diese Unterscheidung zu verzichten. Demzufolge wäre alle für den Verwertungsprozess notwendige Arbeit auch produktiv – eine Position, die schon einige Kommentatoren vertreten haben. Ich freue mich über Feedback darüber, welche Argumentationslinie die überzeugendere ist!

Im vorigen Artikel hatte ich für die Unterscheidung von produktiver und unproduktiver Arbeit auf die Gebrauchswertebene verwiesen. Arbeit, die für die Herstellung eines bestimmten Gebrauchswerts „eigentlich“ nicht nötig ist, sondern nur aufgrund der Eigentümlichkeiten der kapitalistischen Produktionsweise anfällt (z.B. Verkauf oder Lohnbuchhaltung) ist demzufolge nicht produktiv. Das ist allerdings insofern problematisch, als man dann immer eine fiktive „Ideal-“ oder „Alternativgesellschaft“ dem Kapitalismus gegenüber stellen muss. Doch warum sollte es für die Analyse des Kapitalismus alternative Gesellschaften als Gedankenmodelle brauchen? Oder anders gesagt: Warum sollte es die Kapitalistinnen bei ihrer Jagd nach Geldvermehrung jucken, wie eine andere Gesellschaft eventuell verfasst sein könnte?

Ein weiterer Teil meiner Argumentation bezog sich auf die Menge der Gebrauchswerte, die sich die Kapitalisten vom erwirtschafteten Mehrwert kaufen können. Eine Zunahme der gesellschaftsformabhängigen Arbeiten (z.B. Werbung) kann dazu führen, dass die Arbeiterinnen bei stofflich gleichbleibendem Lebensstandard mehr Zeit für die Reproduktion der von ihnen selbst konsumierten Güter aufwenden müssen. Die Mehrarbeit, die in Form von Mehrwert/Profit an die Kapitalisten geht, schrumpft dadurch.

Problematisch an dieser Argumentation ist allerdings, dass auch andere Effekte zu einer sinkenden Ausbeutungs- und Profitrate führen können. Um beim Beispiel „Fischfang“ aus meinem vorigen Artikel zu bleiben: Auch eine Überfischung der Meere könnte dazu führen, dass sieben Stunden nötig sind, um so viel Fisch zu fangen wie zuvor in sechs. Nimmt man dann an (wie ich in dem Artikel), dass die Arbeiter weiterhin stofflich so viel Fisch bekommen wie bisher, würde die Profitrate ebenfalls sinken. Trotzdem leisten die Fischerinnen natürlich weiterhin eindeutig produktive Arbeit.

Was ist der Wert?

Gehen wir einen Schritt zurück: Was ist eigentlich Wert, und was ist das Geld als seine Maßeinheit? Der Wert einer Ware drückt laut Marx die durchschnittliche Arbeitszeit aus, die für die Herstellung gleichartiger Waren gesellschaftlich notwendig ist. Nicht auf den Herstellungsaufwand des einzelnen Artefakts, sondern auf den Durchschnitt kommt es dabei an.

Wert repräsentiert also Arbeitszeit, wenn auch gesellschaftlich vermittelt durch den Mechanismus der Konkurrenz, der dafür sorgt, dass gleichartige Waren im Normalfall auch zu ähnlichen Preisen verkauft werden. Und Geld repräsentiert eine bestimmte Menge Wert, gegen die es eingetauscht werden kann. Geld stellt also ein Anrecht auf die (Arbeits-)Zeit anderer Menschen bzw. auf deren Ergebnisse dar – über je mehr Geld man verfügt, desto mehr Arbeitszeit anderer kann man sich aneignen.

Normalerweise sorgt die Konkurrenz der Warenproduzenten dafür, dass die Austauschverhältnisse ungefähr äquivalent sind – ich kann mir die Ergebnisse der Arbeitszeit anderer aneignen, aber sie eignen sich im Gegenzug die Ergebnisse von ebenso viel meiner Arbeitszeit an. Anders sieht es bei Lohnarbeit aus, wenn eine Firma Menschen nicht ihre Arbeitsergebnisse abkauft, sondern sie vielmehr „anstellt“ und direkt für sich arbeiten lässt. Die Firma muss ihren Angestellten zwar einen Lohn zahlen, der sie befähigt, ihre Arbeitskraft zu reproduzieren, d.h. morgen wieder zur Arbeit zu kommen und auch Kinder in die Welt zu setzen und zu ernähren. Der Wert der Waren, die sich die Arbeiterinnen von ihrem Lohn kaufen können, wird dabei aber regelmäßig unter dem Wert liegen, den sie für die Firma produzieren. Das muss auch so sein, denn ohne diese Differenz würde die Firma keinen Profit machen, aber der Profit bzw. die Hoffnung darauf ist die Triebkraft der kapitalistischen Produktion und der einzige Grund, warum die Firma überhaupt Angestellte einstellt.

(Für eine etwas ausführlichere Darstellung siehe den vorigen Artikel.)

Die Differenz zwischen dem Lohn und dem Wert der von den Angestellten produzierten Waren ist der Mehrwert bzw. Profit. Dieser landet bei den Kapitalgebern, kurz Kapitalisten genannt. Die Angestellten einer Firma arbeiten vielleicht 40 Stunden pro Woche, die Produktion der Waren, die sie sich von ihrem Wochenlohn kaufen können, erfordert jedoch nur 30 Stunden. Der Mehrwert beträgt dann zehn Stunden pro Angestellter und Woche, d.h. zwei Stunden pro Tag.

Dieser Mehrwert landet bei den Kapitalisten, die ihn ihrerseits in Waren umtauschen können, entweder für ihren privaten Konsum oder zur Akkumulation, d.h. zur Ausweitung der Produktion. Ziel aller kapitalistischen Produktion ist die Aneignung von Mehrwert, also von Anspruch auf die Arbeitszeit anderer Menschen.

Kapital ist alles Geld, was zur Akkumulation eingesetzt wird, also vermehrt werden soll. Sobald ich Geld in eine Firma investiere, wird es zu Kapital.

Produktiv vs. unproduktiv neu betrachtet

Auf Basis dieser Begriffsklärung können wir uns nun der von Marx vorgenommenen Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit zuwenden. Produktiv im Marx’schen Sinne ist nur Arbeit, die zur Kapitalvermehrung beiträgt. Was ich zuvor sagte, gilt also nach wie vor:

Arbeit, bei der kein Kapital verwertet wird, scheidet also als produktive aus. Das betrifft alle Arbeit für den Eigenbedarf, die eigene Familie oder Freunde ebenso wie ehrenamtliche Aktivitäten und private Hausangestellte.

Auch die Angestellten von Organisationen, die nicht gewinnorientiert arbeiten, also nicht Geld in mehr Geld verwandeln, sind aus diesem Grund nicht produktiv – Staatsangestellte ebenso wie Mitarbeiter in zwischenstaatlichen Organisationen und im Non-Profit-Sektor.

Was aber ist mit Menschen, die zwar bei Privatunternehmen angestellt sind, aber nicht zum Gebrauchswert der hergestellten Waren beitragen, wie etwa Verkäuferinnen, Wachschützer und Werbefachleute? Deren Arbeit hatte ich – in Anlehnung an Marx – für unproduktiv erklärt aufgrund der Tatsache, dass sie „den gesellschaftlichen Reichtum nicht vermehren“, also keinen Gebrauchswert schaffen.

Gemäß der obigen Analyse kann der Wert zwar dafür genutzt werden, sich Gebrauchswerte anzueignen, aber unmittelbar stellt er etwas anderes dar: Anspruch auf die Arbeitszeit anderer Menschen. Für diese Umverteilung von Arbeitszeit sind im Grunde jedoch nur zwei Faktoren interessant: die Anzahl der Angestellten, die von kapitalistischen Unternehmen beschäftigt werden, und die Mehrwertmenge, die pro Angestellter im Schnitt anfällt. Was genau sie tun – ob sie Gebrauchswerte herstellen, verkaufen, bewachen oder bewerben – ist hingegen gleichgültig, sofern ihre Arbeit nur gesellschaftlich nötig ist, d.h. solange die Konkurrenz nicht unter Einsatz von weniger Arbeit die gleichen Ergebnisse erzielen kann.

Nehmen wir (wie im vorigen Artikel) wieder eine Fischerei als Beispiel: Entspricht der Tageslohn jedes Fischers sechs Stunden Arbeit, während er acht Stunden arbeitet, dann landet der Anspruch auf die Ergebnisse von zwei Stunden Arbeit pro Tag und Angestelltem bei der Eigentümerin der Fischerei. Je mehr Angestellte sie beschäftigt, desto mehr Arbeitszeit anderer kann sie sich aneignen – vorausgesetzt natürlich, dass der gefangene Fisch auch verkauft werden kann und dass die Fischerei (mindestens) ebenso effizient arbeitet wie die Konkurrenz.

Nun braucht aber eine große Fischerei, will sie effizient arbeiten, neben den unmittelbaren Fischfängern auch noch anderes Personal. Sie muss sich um den Verkauf kümmern und dafür entweder selbst Verkäufer beschäftigen (Direktvertrieb) oder aber diese Aufgabe an andere, darauf spezialisierte Unternehmen auslagern (Groß- und Einzelhandel), denen sie dafür einen Teil des Gewinns abtreten muss.

Gemäß der Marx’schen Argumentation ist das Verkaufen nicht produktiv, da die Ware ja schon vorher existiert, sie wechselt lediglich den Besitzer. Andererseits ist unter kapitalistischen Verhältnissen das Verkaufen ein absolut notwendiger Bestandteil der Warenproduktion. Es ist notwendig, um den Kapitalverwertungsprozess G – W – G’ (Geld wird zu verkaufbarer Ware wird zu mehr Geld) abzuschließen. Scheitert der Verkauf, scheitert auch die Kapitalvermehrung. Bedenkt man dies, ist die Argumentation, dass die Ware ja schon vor dem Verkauf existiert, falsch bzw. irrelevant. Denn die noch nicht verkaufte Ware verdankt ihre Existenz bloß dem geplanten Verkauf – dieser mag zwar scheitern, ist aber immer Teil der Kalkulation! Die Arbeit der Verkäuferinnen ist daher unter kapitalistischen Umständen genauso notwendig wie die der direkten Produzentinnen (ob Fischer oder Fabrikarbeiter), somit ist sie auch als genauso wertbildend anzusehen.

Dasselbe gilt für die Arbeit etwa der Lohnbuchhaltung, die bei Marx ebenfalls nicht als wertproduktiv gilt, da sie nur Wertbeträge hin- und herschiebt, aber selbst keine Waren erzeugt. Doch basiert der Verwertungsprozess generell auf dem Verkauf von Waren, wozu auch die besondere Ware Arbeitskraft gehört. Ohne Lohn würden die Arbeiterinnen im Kapitalismus keinen Finger krumm machen, weshalb die Warenproduktion auch ein gewisses Maß an Lohnbuchhaltung erfordert. Die Vorstellung, dass diese unnötig ist, basiert wiederum auf dem Vergleich mit einer anderen (z.B. kommunistischen) Gesellschaft, wo Geld und Lohn vielleicht überflüssig wären. Doch ist nicht einzusehen, warum denkbare andere Gesellschaften für die Analyse des Kapitalismus in irgendeiner Weise relevant sein sollten – diese muss vielmehr voll und ganz von den spezifisch kapitalistischen Umständen ausgehen.

Oder etwa die Werbung, die es Unternehmen ermöglichen kann, größere Stückzahlen abzusetzen und damit vielleicht, aufgrund von Skaleneffekten, den Produktionsaufwand jedes Einzelstücks zu verringern. Wechseln wir das Beispiel und nehmen etwa an, dass in die Produktion eines Bettes je zweieinhalb Stunden Arbeit fließen (entweder direkt als „lebendige Arbeit“ oder indirekt als anteiliger Herstellungsaufwand für Produktionsmittel und Vorprodukte – beides wird hier zusammengezählt). Ein Unternehmen wie Ikea, das viel in Werbung investiert, kann deshalb sehr große Stückzahlen absetzen und sich somit effizientere Großtechnik leisten, mittels derer vielleicht nur noch zwei Stunden Arbeit pro Bett nötig sind. Dazu kommt aber noch die Arbeit der Werber (Kreative, Plakatedrucker und -kleber, Flyerverteiler etc.), die umgerechnet pro Bett vielleicht 15 Minuten beträgt.

Die Konkurrenz muss jetzt mitziehen und ähnlich effizient werden, sofern sie nicht auf der Strecke bleiben will. Die gesellschaftlich nötige Arbeit (= der Wert) ist also pro Bett von 2,5 Stunden auf 2,25 Stunden gefallen. Oder sollte der Wert eines Bettes noch weiter gefallen sein, auf nur 2 Stunden, da die Werbearbeit nicht wertbildend ist? Das ist nicht plausibel, da die Konkurrenz, um denselben Skaleneffekt zu erzielen, ja ebenfalls Werbung machen muss. Auch diese Arbeit ist also gesellschaftlich notwendig, denn ohne sie geht es im Kapitalismus nicht.

Alle Kapitalangestellten produzieren Mehrwert (außer sie sind zu teuer)

Diese Überlegung, dass alle für den Kapitalverwertungsprozess notwendigen Arbeiten auch wertproduktiv sind, also Wert und (unter normalen Umständen) Mehrwert produzieren, kann man auch anhand der Ergebnisse des Arbeitsprozesses durchspielen. Oben hatte ich gesagt, dass Geld (oder abstrakter: Wert) ein Anrecht auf die (Arbeits-)Zeit anderer Menschen bzw. auf deren Ergebnisse darstellt.

Vorgerechnet hatte ich das im letzten Artikel schon anhand der Arbeit eindeutig „produktiver“ Arbeiterinnen wie etwa Fischerinnen. Diese arbeiten etwa 40 Stunden pro Woche (acht pro Arbeitstag), doch von ihrem Wochenlohn können sie sich im Durchschnitt nur Waren kaufen, deren Herstellungsaufwand (= Wert) 30 Stunden (sechs pro Arbeitstag) beträgt. Jeder Fischer produziert pro Woche also zehn Stunden Mehrwert, der bei der Eigentümerin der Fischerei landet. Geht man (wiederum wie im letzten Artikel) davon aus, dass der Ertrag einer Stunde Arbeit im Schnitt für 10 Euro verkauft wird, kann man das Ganze auch in Geld umrechnen: Der in 40 Arbeitsstunden hergestellte Fisch wird für 400 € verkauft, wovon 300 € als Lohn an den Fischer gehen und 100 € als Gewinn bei der Kapitalistin verbleiben. Je mehr Fischer sie für sich arbeiten lässt, desto reicher wird die Kapitalistin also – immer vorausgesetzt, dass sie die produzierte Ware auch verkaufen kann.

Wie ist es nun mit den Verkäufern? Auch diese erhalten ja ihren Lohn. Sagen wir, sie werden so gut bezahlt wie die Fischer, ebenfalls 300 € pro Woche. Geht man nun davon aus, dass alle für die Produktion einer Ware notwendigen Arbeiten wertproduktiv sind, heißt das, dass die Verkäufer ebenfalls 400 € Wert pro Woche produzieren, sprich auch sie erzeugen 100 € Mehrwert für die Kapitalisten.

Von ihren 300 € Wochenlohn können sich die verschiedenen Lohnarbeiterinnen jeweils Waren im Wert von 30 Arbeitsstunden kaufen – wobei diese 30 Arbeitsstunden alle gesellschaftliche notwendigen Tätigkeiten umfassen, neben der direkten Herstellung also auch den Verkauf, Lohnbuchhaltung, Werbung etc. Ist dem so, dann werden die Kapitalisten aufgrund jeder zusätzlich eingestellten Lohnarbeiterin reicher, weil jede Mehrwert produziert. Jede arbeitet pro Woche zehn Stunden länger, als zur Reproduktion ihrer eigenen Lebensweise unter kapitalistischen Umständen nötig wäre. Diese zehn Stunden landen als Geld – als Anspruch auf die Arbeitszeit anderer Menschen – bei den Kapitalisten.

Vorausgesetzt wird dabei lediglich, dass die Lohnarbeiter (auf welche Weise auch immer) ihren Teil zur Produktion von Waren leisten, die sich als verkaufbar erweisen. Und dass das Unternehmen auf dem Stand der Technik produziert und sich keine (oder nur wenige) Ineffizienzen leistet. Verkauft ein Supermarkt mit 40 Verkäuferinnen etwa nur so viele Waren wie andere mit 20, dann ist die halbe Arbeitszeit der Verkäuferinnen gesellschaftlich unnötig gewesen. Sie haben also jeweils nur Wert im Umfang von 20 Stunden pro Woche produziert, weniger als die 30 Arbeitsstunden, deren Wert sie als Lohn erhalten haben (sofern sie so gut bezahlt werden wie alle anderen auch). Ihre Arbeit war für die verantwortlichen Kapitalisten ein Verlustgeschäft.

Generell müssen die Kapitalistinnen also bei der Ausweitung der Produktion auf die Verkaufbarkeit der hergestellten Waren achten und darauf, dass sie niemand für unnötige Arbeit bezahlen. In vielen Fällen wird das heißen, dass zusätzliche Arbeitskräfte aller relevanten Berufe angeheuert werden müssen – mehr Fischerinnen, Buchhalter, Werberinnen etc. In anderen Fällen können Skaleneffekte dazu führen, dass in bestimmten Bereichen Arbeit eingespart und in anderen ausgeweitet wird. Aber wenn die Verhältnisse passen, also die zusätzlich eingestellten Arbeitskräfte auch zur Produktion weiterer verkaufbarer Waren führen, sind diese Arbeitskräfte generell als wertproduktiv anzusehen, ganz egal woraus ihr konkreter Beitrag zum Produktions- und Verwertungsprozess besteht.

Die Marx’sche Unterscheidung, wonach bestimmte für den Verwertungsprozess eindeutig notwendige Tätigkeiten dennoch nicht wertproduktiv sind, hat sich somit als Irrtum erwiesen.

Zur Vermeidung von Missverständnissen

Gemäß dieser Argumentation sind alle zum erfolgreichen Verwertungsprozess nötigen Arbeiten als produktiv anzusehen, ganz gleich ob sie unmittelbar zur Entstehung von Gebrauchswerten beitragen oder nicht. Die Angestellten eines Supermarktes produzieren zwar keine Gebrauchswerte, sondern veräußern diese bloß. Mittelbar tragen sie unter kapitalistischen Verhältnissen aber auch zur Entstehung dieser Gebrauchswerte bei, denn ohne die Möglichkeit der Veräußerung würde die Produktion gar nicht erst anlaufen. Nicht mehr plausibel erscheint mir deshalb auch die in meiner ursprünglichen Artikelreihe geäußerte Argumentation, dass der „Händewechsel“, in dem Ware und im Gegenzug Geld die Eigentümerinnen wechseln, als unproduktiv aufzufassen sei.

Gebrauchswertmäßig stimmt es natürlich, dass beim „Händewechsel“ nur vorhandene Gebrauchswerte getauscht, aber keine neuen erschaffen werden. Doch wertmäßig ist zumindest ein einmaliger Händewechsel notwendiger Bestandteil des Verwertungsprozesses und von diesem nicht zu trennen. Es gibt eine ganze Reihe von Aktivitäten, die für die dauerhafte Durchführung des Produktions- und Verwertungsprozesses nötig sind, aber nicht unmittelbar zur Herstellung der zu verkaufenden Ware beitragen: die regelmäßige Reinigung der Fabrik, der Transport der Ware von der Fabrik zur Verkaufsstätte oder direkt zum Kunden, der Verkauf im Laden oder Online-Shop.

Nach meiner früheren Argumentation hatte ich Reinigung und Transport als produktiv angesehen (weil sie unabhängig von Verwertungsprozess auch für den physischen Produktionsprozess nötig sind), den Verkauf jedoch nicht (weil er nur den „Händewechsel“ vollzieht bzw. nur für den Verwertungsprozess nötig, also Kapitalismus-spezifisch ist). In dieser Unterscheidung schimmert aber wieder der Vergleich mit einer nichtkapitalistischen Alternativgesellschaft durch. Verzichtet man auf einen solchen gedanklichen Vergleich, scheint mir der postulierte Sonderstatus des „Händewechsels“ nicht mehr plausibel, da Verwertungsprozess und physischer Produktionsprozess im Kapitalismus nun mal zusammenfallen und der eine ohne den anderen nicht zu haben ist.

Das bedeutet natürlich nicht, dass man mehr Wert schaffen kann, indem man die Ware fünfmal weiterverkauft, also zusätzliche Händewechsel einführt. Genauso wenig, wie man mehr Wert schaffen kann, indem man die Waren dreimal um die Welt schickt statt sie auf direktem Wege von der Produktionsstätte zum Zielort zu befördern. Für diese Arbeiten gilt vielmehr dasselbe wie für alle anderen: Wertproduktiv sind sie nur, soweit sie gesellschaftlich nötig sind. Alle aufgrund versehentlicher oder auch beabsichtigter Ineffizienzen darüber hinaus geleistete Arbeit schafft nur zusätzliche Kosten, aber keinen zusätzlichen Wert.

Ganz unabdingbar ist aber zumindest ein einmaliger Händewechsel, vom Produzenten zum Kunden, denn dieser ist in der Bewegung G – W – G’ direkt erkennbar. In vielen Fällen gibt es heute stattdessen zwei oder drei Händewechsel, bevor die Waren beim Endkunden, für den sie tatsächlich einen Gebrauchswert darstellt, angekommen ist – weil noch Einzelhandel und ggf. Großhandel dazwischen geschaltet sind. Hier gilt, was im Kapitalismus generell gilt: Produktiv ist die anfallende Arbeit nur im gesellschaftlich notwendigen Umfang, d.h. nur solange die Konkurrenz nicht mit weniger Arbeit dieselben Resultate erzielen kann.

Groß- und Einzelhandel werden sich also nur unter zwei Umständen gegen das Alternativmodell des Direktvertriebs (bloß einmaliger Händewechsel) durchsetzen: Wenn sie entweder die für den Warenverkauf notwendige Arbeit unterm Strich reduzieren oder den Gebrauchswert erhöhen. Und zum Gebrauchswert gehört auch, dass die Ware dort ist, wo die Kundin sie gebrauchen kann, oder jedenfalls in gut erreichbarer Nähe.

Das dürfte der wichtigste Vorteil des Einzelhandels gewesen sein: Für praktisch jede Firma dürfte es sehr viel günstiger sein, alle Supermärkte eines Landes zu beliefern, als ein vergleichbar dichtes Netz an eigenen Verkaufsstellen aufzubauen. Letzteres würde viel unnötige Arbeit erfordern, weil die eigenen Verkaufsstellen sehr viel weniger Kundenverkehr erreichen würden als die Supermärkte (die ja noch viele andere Waren verkaufen) und sich die Verkäuferinnen deshalb relativ oft nur langweilen würden. Während die Alternative, auf ein dichtes Netz an Verkaufsstellen zu verzichten und nur ein Factory-Outlet oder einige wenige Verkaufsstellen in Großstädten zu betreiben, zwar die Kosten senken würde, jedoch auch den Gebrauchswert der angebotenen Waren.

Durch den Internethandel hat sich das allerdings geändert, wodurch der traditionelle Einzel- und Großhandel zunehmend unter Druck gerät, weil er nicht mehr die kostengünstigste (= arbeitssparendste) Variante ist, die Ware auf komfortable Weise an die Kundin zu bringen.

Auch Werbung ist nur insofern produktiv, als sie gesellschaftlich nötig ist. Oben hatte ich argumentiert, dass sie dazu führen kann, dass das werbende Unternehmen mehr Produkte verkauft und aufgrund von Skaleneffekten die pro Einzelstück aufzuwendende Arbeit insgesamt sinkt – und zwar auch dann, wenn man die Werbearbeit mitrechnet. In diesem Fall ist Werbung ein Mittel zur Produktivkraftsteigerung.

Schwieriger wird es für das Unternehmen, wenn es keine Skaleneffekte gibt, die Werbearbeit das Produkt also verteuert (oder, bei gleichbleibendem Preis, den Profit reduziert). Hat die Kundin die Wahl zwischen zwei ihr als gleichwertig erscheinenden Produkten, wird sie im Regelfall wohl das billigere nehmen, nicht das besser beworbene. In diesem Falle wäre die Werbung also nur rausgeschmissenes Geld und hätte keinen Wert gebildet.

Anders sieht es aus, wenn es der Firma gelingt, durch Werbung den „gefühlten Gebrauchswert“ ihres Produkts zu steigern – so konkurrieren im Kapitalismus billige No-Name-Produkte gegen teurere, aber nicht unbedingt hochwertigere Markenartikel. Die Hersteller der letzteren setzen auf Werbung, um ihr Produkt als qualitativ besser, verlässlicher, cooler oder sexyer als Konkurrenzprodukte erscheinen zu lassen. Objektiv messbar mag da nichts dran sein, doch der „gefühlte Gebrauchswert“ wird gesteigert, weshalb die Kundschaft höhere Preise akzeptiert. Werbung ist also unter zwei Bedingungen wertproduktiv: Wenn sie dank Skaleneffekten den Herstellungsaufwand senkt, oder wenn sie den gefühlten Gebrauchswert erhöht.

Auch die bloße Kenntnis eines Namens kann unbewusst zum „gefühlten Gebrauchswert“ beitragen – hat die Kundin die Wahl zwischen zwei gleich teuren und ihr als gleich gut erscheinenden Produkten, wird sie sich vermutlich für dasjenige entscheiden, dessen Markennamen sie kennt. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass Bekanntheit unbewusst als Zeichen für Verlässlichkeit interpretiert wird. Ein Produkt, dessen Namen man schon einmal gehört hat, ohne damit Schlechtes zu assoziieren, wird einem als vertrauenerweckender und tendenziell besser erscheinen als eins, das einem völlig unbekannt ist.

Das kann für Unternehmen zu einem Werbezwang führen: Macht Unternehmen A Werbung, muss Konkurrenzunternehmen B entweder den Preis senken oder ebenfalls Werbung machen, um nicht den Anschluss zu verlieren. Machen beide Werbung, können beide vielleicht ihren Marktanteil halten – unterm Strich hat sich also nichts verändert, außer dass nun beide Geld für Werbung ausgeben müssen. Ist diese objektiv unnötige, aber unter kapitalistischen Umständen trotzdem erforderliche Werbearbeit wertbildend oder vielmehr nur „Abzug vom Mehrwert“?

Ich würde sagen, dass auch sie wertbildend ist. Früher oder später werden beide Unternehmen ihre Preise erhöhen, um die eigenen Gewinne wieder der gesellschaftlich üblichen Profitrate anzupassen – andernfalls drohte der Abgang der Kapitalgeber (z.B. Aktionäre), die ihr Geld dann lieber in profitablere Firmen stecken würden. Dies deutet darauf hin, dass der Wert der Produkte gestiegen ist, was (aufgrund von Konkurrenzmechanismen allerdings erst mit Verzögerung) auch zu steigenden Preisen führt. Zugleich ist durch die Werbung aber auch der „gefühlte Gebrauchswert“ der Produkte gestiegen, weil sie den Kunden nun bekannt sind.

Ein drittes Unternehmen könnte hingegen auf eine andere Strategie setzen – es könnte auf Werbung verzichten und No-Name-Produkte zum ursprünglichen Preis, also nun billiger als die Konkurrenz, auf den Markt werfen. Aufgrund des Preisvorteils kann auch diese Strategie erfolgreich sein. Dank des Werbeverzichts haben seine Produkte einen geringeren Wert, aber auch einen geringeren „gefühlten Gebrauchswert“ als die der „bekannten“ Konkurrenz.

Fazit

Sollte diese Analyse stimmen, dann dürfte sich auch die Krisis/Exit-Argumentation einer „schrumpfenden Wertmasse“, der ich im Artikel Geht dem Kapitalismus die Arbeit aus? zumindest relativ zur Entwicklung der Weltbevölkerung zugestimmt hatte, als unhaltbar erweisen. Denn für sie ist die vermeintliche Unproduktivität bestimmter kapitalistisch organisierter Sektoren wie Handel, Werbung und Finanzdienstleistungen essenziell. Geht man aber davon aus, dass alle Kapitalangestellten, egal aus welcher Branche, im Regelfall auch Mehrwert erwirtschaften (nur vorausgesetzt, dass die sie beschäftigende Firma effizient und erfolgreich produziert), kann von einem „Ende der Arbeit“ bzw. auch nur einem Schrumpfen der wertproduktiven Arbeitsmenge wohl keine Rede sein.

Meinungen?

(Ich danke Martin Siefkes und Holger Weiß für ihr Feedback zu einem Entwurf dieses Artikels.)

From: keimform.deBy: Christian SiefkesComments

Twin Oaks and operating without money

See this great short utube video on the enduring Twin Oaks community in Virginia.

It was made when a co-editor of Life Without Money was staying there in 2012 so there is a segment on going beyond money.

More than that it is great seeing all the productive activities at Twin Oaks and Twin Oakers talking about their everyday activities for collective sufficiency and governance — a light to a new world:

https://vimeo.com/89076764

A Green Materialism/Agenda

Contributors to Life Without Money Terry Leahy, Anitra Nelson & Ariel Salleh will speak on allied topics at the Historical Materialism Australasia 2015: Reading Capital, Class & Gender Today Conference at the University of Sydney, NSW, Australia 17–18 July.

The Green Agenda Panel takes place at 9.30 am 17 July.

Convener of the Greens NSW and award winning journalist Hall Greenland will chair and offer rejoinders.

In a critique of Daniel Miller’s work on consumption, Terry Leahy emphasises Miller’s neglect of alienated labour, and the potential of a gift economy.

Anitra Nelson’s paper outlines an ecosocialist concept of ‘green materialism’ showing that anti-capitalist movements today correspond to Marx’s ‘new materialism’ as famously elaborated in his eleven Theses on Feuerbach (1845). Furthermore, the defining characteristics of anti-capitalist currents offer the bases for replacing money as the organising principle of our society.

Ariel Salleh argues for the holistic inclusion of ‘meta-industrial workers’ in her class theory for an Earth democracy.

The most you will have to pay for conference registration is $50 (unwaged $20).

Lastenräder als Commons

Beim ersten bundesweiten Forum Freie Lastenräder am 20.6.2015 in Köln habe ich einen Vortrag zum Zusammenhang von Lastenrädern und Commons gehalten. Hier die Folien (PDF, ODP[folgt]). Die Audiodateien des Mitschnitts liegen im OGG– und MP3-Format vor.

 

Weitere Infos zur Dokumentation des Treffens findet ihr im Lastenrad-Wiki auf der Seite zum Forum Freie Lastenräder.

From: keimform.deBy: Stefan MeretzComments

Capitalism Nature Socialism

The international socialist journal Capitalism Nature Socialism has featured arguments for a money-free future. In the previous ten issues, the following have appeared:

Andreas Exner (2014) 'Degrowth and Demonetization: On the Limits of a Non-Capitalist Market Economy', Capitalism Nature Socialism, 25:3, 9–27.

David Barkin (2014) 'Life Without Money' [book review] Capitalism Nature Socialism, 25:2, 126–128

Ariel Salleh (2014),Ariel Salleh (2014) 'A Vernacular Response to Barkin's Review of Life Without Money', Capitalism Nature Socialism, 25:2, 128–131.

For more by Andreas Exner, see: Demonetize it!

Wert und produktive Arbeit

Fischmarkt in Washington, D.C. (Foto von Bien Stephenson, CC-BY, URL: http://en.wikipedia.org/wiki/File:Wash_fish_market.jpg – zum Vergrößern klicken)[Update: siehe Produktive Arbeit auf dem Prüfstand]

Zu meinen Artikeln zur Verwertungskrise (1, 2) habe ich Feedback und Kritik erhalten. Ein besonders umstrittener Punkt, zu dem es Zustimmung, aber auch sowohl grundsätzliche wie Detail-Kritik gab, war die Abgrenzung der „produktiven Arbeit“, die zur Kapitalverwertung beiträgt, von anderer Arbeit, die zwar auch eindeutig für die Verwertung notwendig ist, aber gemäß der Marx’schen Konzeption nicht als produktiv gilt.

Die radikalste Kritik kam dabei von einem Kommentator namens ricardo (z.B. 1, 2), der den Unterschied zwischen produktiver und notwendiger Arbeit komplett bestreitet – er betrachtet alle vom Kapital bezahlte und für die Kapitalverwertung notwendige Arbeit als produktiv. Da ich früher selbst mit dieser Konzeption geliebäugelt habe, hat mich das veranlasst, den Unterschied zwischen „produktiv“ und „notwendig für die Kapitalverwertung“ nochmal kritisch zu prüfen. Im Ergebnis bin ich zu dem Schluss gekommen, dass dieser von Marx gemachte Unterschied zu Recht besteht und will im Folgenden darlegen, warum.

Marx argumentiert, dass es keinen Wert ohne Gebrauchswert gibt (niemand kauft eine Ware, die sie für „unbrauchbar“ hält) und dass deshalb Arbeit, die nicht zur Produktion von Gebrauchswerten beiträgt, auch nicht wertproduktiv sein könne. Das betrifft insbesondere den Handel, in dem bereits existierende Waren lediglich den Besitzer wechseln, ohne dass sich ihr Gebrauchswert dadurch ändert. Oder Dinge wie Buchhaltung und Geldmanagement, die lediglich schon vorhandene Wert- bzw. Gebrauchswertmengen erfassen und verwalten, ohne ihnen selbst etwas hinzuzufügen.

Das Jäger-Fischer-Beispiel

Wolfram Pfreundschuh hat den Kern von Marx’ Argumentation durch ein Zitat aus dessen Grundrissen von 1857/58 verdeutlicht:

Denkt man sich 2 Arbeiter, die austauschen; einen Fischer und einen Jäger; so würde die Zeit, die beide im Austausch verlieren, weder Fische noch Wild schaffen, sondern wäre ein Abzug an der Zeit, worin beide Werte schaffen, der eine fischen, der andere jagen kann, ihre Arbeitszeit vergegenständlichen in einem Gebrauchswert. Wollte der Fischer sich für diesen Verlust an dem Jäger entschädigen; mehr Wild verlangen oder weniger Fische geben, so dieser dasselbe Recht. Der Verlust wäre für sie gemeinsam. Diese Zirkulationskosten, Austauschkosten, könnten nur als Abzug der Gesamtproduktion und Wertschöpfung der beiden erscheinen. […] (MEW 42: 532f)

Wirklich nachvollziehbar wird das an diesem Beispiel, das statt vom Kapitalismus von einer fiktiven Gesellschaft „einfacher Warenproduzentinnen“ ausgeht, meiner Ansicht nach nicht. Denn Kapitalverwertung setzt Kapital voraus, und das existiert in dem Beispiel gar nicht! Dennoch kann es nützlich sein, dieses einfache Beispiel als Ausgangspunkt zu nehmen und von da Schritt für Schritt zu einer realistischeren Darstellung kapitalistischer Verhältnisse zu kommen.

Starten wir also mit einer vorgestellten Gesellschaft nichtkapitalistischer Produzenten, die mittels ihrer eigenen Arbeitskraft Waren herstellen, die sie sich gegenseitig verkaufen. Dabei muss man sich klar machen, dass eine solche Gesellschaft reine Fiktion ist, historisch gab es sie nie (vgl. Rakowitz 2003). Für Gedankenexperimente kann sie dennoch nützlich sein.

Es gibt in unserem Gedankenexperiment also Jäger und Fischer (oder, allgemeiner gesagt, Herstellerinnen verschiedener Warenarten), die sich gegenseitig ihre Beute (die hergestellten Waren) verkaufen. Nun nimmt man mit Marx an, dass diese Gesellschaft so funktioniert, wie der Kapitalismus dies gemäß seinen Selbstverständnis zumindest in seinen besseren Momenten tut, nämlich in perfekter Konkurrenz. Alle sind also in ihrer Berufswahl frei und können selbst den verlangten Preis der von ihnen hergestellten Waren festlegen. Dies würde dazu führen, dass sich im Schnitt Äquivalente austauschen, d.h. der Ertrag einer Stunde Jagdaufwand gegen den Ertrag einer Stunde Angleraufwand ausgetauscht wird.

Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Menschen keinen besonderen Grund haben, die eine Tätigkeit der anderen vorzuziehen. Dann wird ein ungleiches Verhältnis – eine Stunde jagen gegen anderthalb Stunden fischen – dazu führen, dass neue Berufseinsteiger aus Bequemlichkeit lieber Jäger werden, auch wenn sie aufgrund der wachsenden Konkurrenz anderer Jäger mit dem Preis heruntergehen und z.B. den Ertrag von 80 statt 90 Minuten Fischerei als Gegenwert für eine ihrer Stunden akzeptieren müssen. Diese Präferenzentscheidungen werden sich solange fortsetzen, bis die Ungleichheit verschwunden ist und sich Stunde gegen Stunde austauscht.

Dieser „gleichmacherische“ Effekt der Konkurrenz ist die Grundlage dessen, was Marx den „Wert“ nennt – bei perfekter Konkurrenz wird der Ertrag einer Arbeitsstunde im Wesentlichen so viel „wert“ sein wie der Ertrag jeder anderen Arbeitsstunde, sofern sie sich auf dem Stand der Technik bewegt. (Wer jedoch statt mit Gewehr noch mit Pfeil und Bogen auf Jagd geht und deshalb weniger Wild erbeutet, wird sich mit einem geringeren Stundensatz zufriedengeben müssen, da den Käuferinnen die Details seiner Ausstattung reichlich egal sind.)

In dieser fiktiven Gesellschaft gibt es allerdings überhaupt keine Kapitalisten, die Geld in mehr Geld verwandeln könnten. Es gibt keinen systematischen Profit, sondern eventuellen Gewinnen des einen stehen zwangsläufig ebenso hohe Verluste der anderen gegenüber – immer dann, wenn es zu Abweichungen vom Äquivalenzprinzip kommt. Schafft es eine Fischerin, den in sechs Stunden gemachten Fang gegen die Jagdbeute von sieben Stunden einzutauschen, hat sie einen Gewinn im Umfang einer Arbeitsstunde gemacht, dem jedoch ein ebenso hoher Verlust aufseiten des Jägers entgegensteht. (Sie hat den Ertrag einer Stunde erhalten, ohne etwas dafür tun zu müssen, er hat eine Stunde umsonst gearbeitet.)

Vorstellbar ist, dass es in der fiktiven Gesellschaft schon Geld gibt und der Ertrag einer Stunde Arbeit im Schnitt für z.B. 10 Euro verkauft wird (oder auch mehr oder weniger, das spielt keine Rolle, aber ein bestimmtes Äquivalenzverhältnis zwischen Währungseinheit und Arbeitsstunden wird sich zwangsläufig herausbilden). Dann hätte die Fischerin 10 € Gewinn gemacht, der Jäger 10 € Verlust. Da jede Markttransaktion ein Nullsummenspiel ist, ist die gesamtgesellschaftliche „Profitrate“ (sofern man von einer solchen reden will) zwangsläufig 0.

Da die Marktkonkurrenz dafür sorgt, dass im Schnitt Äquivalente ausgetauscht werden, spielt es eigentlich keine Rolle, ob die geleistete Arbeit von Marx als „produktiv“ oder „unproduktiv“ eingestuft wird. Vielleicht müssen die Jäger und Fischer jeweils nach sechs Stunden Tagewerk noch eine Stunde auf dem Markt sitzen, bis sie die Beute verkauft haben. Oder sie müssen eine halbe Stunde Verkaufsarbeit leisten und eine weitere halbe Stunde ebenfalls unproduktive Buchhaltung, denn die Bürokratie schläft ja auch in fiktiven Gesellschaften nicht. Auch dann würden weiterhin im Schnitt Äquivalente gegeneinander getauscht, nur braucht es jetzt eben sieben Stunden Arbeitseinsatz, von denen nur sechs Stunden Jagen bzw. Fischen sind – der Rest ist „Overhead“.

Dass eine analytische Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit sinnvoll ist, lässt sich an diesem zu einfach gestrickten Beispiel meiner Ansicht nach nicht zeigen. Das ändert sich allerdings, wenn die Kapitalistinnen ins Spiel kommen.

Die Kapitalisten kommen ins Spiel

Lassen wir also die fiktive Welt der „einfachen Warenproduzentinnen“ hinter uns und nähern uns zumindest ein Stückchen weiter an die komplexe kapitalistische Realität an. Statt dass sich jeder Fischer und jeder Jäger als selbständige „Ich-AG“ betätigt, gibt es nun Kapitalisten, die die Fischer- und Jägerinnen als Lohnarbeiterinnen anstellen. Die Kapitalisten kaufen und bezahlen auch die benötigen Produktionsmittel, z.B. Fischerboote und Netze, Jagdgewehre und Munition. Diese Produktionsmittel kosten Geld und schmälern damit den Profit der Kapitalistinnen, doch der Einfachheit halber können wir für unsere Modellrechnungen davon absehen und unterstellen, sie wären in der Lage, sich die Produktionsmittel umsonst anzueignen.

Anders als bei der „einfachen Warenproduktion“ gibt es in dieser Gesellschaft Profit als systematische und nicht bloß zufällige Kategorie. Dies ergibt sich daraus, dass die Kapitalisten den Lohnarbeiterinnen deren Arbeitskraft abkaufen und nicht deren Erträge. Als Gegenwert für die Arbeitskraft zahlen sie so viel, wie zur Reproduktion der Arbeitskraft nötig ist – also mindestens so viel, um sicherzustellen, dass die Arbeiterin nicht verhungert oder erfriert. Außerdem muss sie zumindest noch ein bis zwei Kinder mitversorgen können, sonst wäre die Arbeiterschaft nach einer Generation ausgestorben – zum Bedauern der Kapitalisten, die damit um ihren Profit gebracht würden. Gegebenenfalls kriegt die Arbeiterin auch noch mehr Gegenwert für ihre Arbeitskraft, womöglich sogar genug, um sich ein kleines Häuschen, ein Auto, eine Rente und gelegentliche Urlaubsreisen leisten zu können. Ob und wie viel sie über die bloße Überlebenssicherung hinaus kriegt, lässt sich nicht pauschal sagen, sondern ist Ergebnis sozialer Kämpfe.

Sicher ist aber, dass die Reproduktion des Arbeitslohns weniger Arbeitszeit erfordert als der Arbeiter als Gegenleistung abliefern muss. Denn nur dann macht die Kapitalistin Profit, und eine Kapitalistin, die keine Profite erwartet, wird erst gar keine Arbeiter einstellen. In Abwandlung des obigen Beispiels können wir etwa annehmen, das sich jede Arbeiterin für ihren Tageslohn den Ertrag von sechs Stunden Jagen oder Fischen kaufen kann. Gearbeitet wird aber, wie im modernen Kapitalismus üblich, acht Stunden pro Tag. Der Ertrag der restlichen zwei Stunden verbleibt als Mehrwert bzw. Profit bei der Kapitalistin, die sich davon selbst Fische, Wild oder was immer sonst der Markt hergibt kaufen kann – je mehr Arbeiter sie beschäftigt, desto mehr.

Hat sie zehn Fischer angestellt, erhält sie täglich das Äquivalent von 20 Arbeitsstunden als Mehrwert. In Geld betrachtet, wenn man wiederum den „Wechselkurs“ von 10 € = 1 Arbeitsstunde ansetzt, muss sie jedem Arbeiter einen Tageslohn von 60 € auszahlen (insgesamt 600 €/Tag), verdient aber 800 € am Verkauf der im Lauf des Tages gefangenen Fische. Ihr Tagesgewinn beträgt somit 800–600 = 200 €, ihre Profitrate 200/600 = 33,3 Prozent. (Letzteres natürlich nur unter der vereinfachenden Annahme, dass die Produktionsmittel sie nichts kosten – in Wirklichkeit ist das anders, was die Profitrate senkt.)

Sie kann diesen Profit von täglich 200 € selbst in Konsumgüter umsetzen und verzehren, sie kann aber auch einen Teil davon „akkumulieren“, d.h. zur Ausweitung der Produktion nutzen, indem sie weitere Arbeiter anstellt und die für deren Arbeitsalltag nötigen Produktionsmittel kauft. In der Regel wird sie letzteres machen und einen Teils des gemachten Gewinnes neu investieren – allein schon, weil ihr das private „Aufessen“ des gesamten Gewinns wahrscheinlich irgendwann schlicht zu viel wird.

Wenden wir uns wieder der unproduktiven Arbeit zu: Irgendwann hat die Kapitalistin keine Lust mehr, sich selbst täglich auf den Markt zu setzen und den Fang zu verkaufen, deshalb stellt sie einen Verkäufer an, der das übernimmt. Außerdem muss sie noch eine Buchhalterin anstellen, weil sie langsam die Übersicht darüber verliert, welchen ihrer Arbeiter sie noch wie viel Lohn schuldet, und weil der Staat sich beschwert, dass sie keine Abrechnungen vorlegen kann. Die beiden produzieren keinen Fisch, beharren aber ebenfalls auf dem üblichen Tageslohn von 60 €, von dem sie sich die zum Überleben nötigen Konsumgüter kaufen (zumindest Fisch und Wild, aber vermutlich gibt es ja noch andere Warenarten).

Die Fischerei erzeugt (da keine produktiven Arbeiterinnen hinzugekommen sind), weiterhin Fische im Wert von 800 € pro Tag, doch die Lohnkosten für die insgesamt 12 Arbeiter sind auf 12×60 = 720 € gestiegen. Die Kapitalistin macht somit nur noch 80 € Gewinn, ihre Profitrate fällt auf 80/720 = 11,1 Prozent. Stofflich ausgedrückt, landete zuvor ein Viertel der produzierten Waren als Mehrwert bei der Kapitalistin (die sie selbst verzehren oder zur Akkumulation einsetzen konnte). Nun sind es nur noch 10 Prozent, da die zusätzlichen Arbeiterinnen ja auch von etwas leben müssen und den Rest verzehren.

Nur falsch gerechnet?

Nun mag man einwenden, dass das Beispiel falsch gerechnet ist. Aus der plausiblen Annahme, dass der Fischereibetrieb nicht weniger effektiv ist als die Konkurrenz, kann man schließen, dass alle anderen Betriebe auf einen ähnlichen Overhead an unproduktiver Arbeit kommen. Kann man diesen Overhead von 20 Prozent zusätzlicher Arbeit also nicht einfach auf den Verkaufspreis der Waren aufschlagen? Dann geht der (stofflich unveränderte) Tagesertrag der Fischerei für 960 € statt für 800 € über den Tresen.

Leider rettet das die Profitrate der Kapitalistin nicht, da es eine rein nominelle Änderung wäre. Ein Euro entspricht jetzt weniger Fisch, es gab also Inflation. Doch die Arbeiter sind ja nicht bedürfnisloser geworden – wenn sie zuvor den Ertrag von sechs Stunden Arbeit einer Fischer- oder Jägerin als Tageslohn verlangt und bekommen haben, werden sie das auch weiterhin tun. Da sich dieser Ertrag aber durch die Preisanpassung um 20 Prozent verteuert hat, muss auch ihr Lohn um 20 Prozent steigen, damit sie ihn sich weiterhin leisten können. Jeder Arbeiter erhält nun also 72 € Lohn, die täglichen Lohnkosten der Fischerei steigen auf 12×72 = 864 €. Als Gewinn bleiben also nur 96 €, die Profitrate liegt unverändert bei 96/864 = 11,1 Prozent. Das Geld ist nun weniger wert, doch stofflich geändert hat sich durch diese andere Rechenart gar nichts.

Die Konsequenzen unproduktiver Arbeit

Unproduktive Kapitalangestellte tragen also nicht zur Kapitalverwertung bei, da sie die von den Kapitalisten erwerbbaren Gebrauchswerte nicht vermehren. Nominell zirkuliert vielleicht mehr Geld, aber die Menge der hergestellten Güter vermehrt sich nicht, weshalb sich die Kapitalisten von ihrem Gewinn nicht mehr kaufen können also zuvor.

Andererseits beziehen die unproduktiven Kapitalangestellten auch Lohn, für den sie sich Konsumgüter kaufen. Diese zusätzlichen Löhne gehen ab von der Summe, die andernfalls als Mehrwert/Profit bei den Kapitalisten bliebe, und reduzieren sie dadurch. Das gilt finanziell (die als Profit verfügbare Geldmenge schrumpft) ebenso wie stofflich (die vom Profit käufliche Warenmenge schrumpft). Auf den Punkt, dass unproduktive Arbeit gegebenenfalls von den Kapitalerträgen abgezogen werden muss und eine Zunahme der unproduktiven beim Gleichbleiben der produktiven Arbeit die Kapitalverwertung ausbremst, hatte Peter Samol schon hingewiesen. Das gilt jedenfalls für die unproduktiven Kapitalangestellten, also die unproduktiven Arbeiter, die direkt bei einem kapitalistischen Unternehmen angestellt sind und von diesem bezahlt werden, ob als Verkäuferinnen, Buchhalter, Wachschützerinnen, Werber o.a. Diese erhöhen die Lohnquote, nicht aber die Produktenmenge, und senken damit den Profit.

Dass dies in keinster Weise die „Schuld“ der unproduktiven Kapitalangestellten ist und dass diese für die Kapitalverwertung ebenso nötig sind wie alle anderen Kapitalangestellten, ist aber klar und wird durch diese Überlegungen nicht in Frage gestellt. Im Gegenteil, wäre die von Verkäuferinnen und Buchhaltern geleistete Arbeit unnötig, würde sie schnell aus dem Verwertungsprozess verschwinden, dafür sorgt die Konkurrenz. Ein Stück weit passiert das ja auch, wenn etwa Verkäufer durch Online-Shops und Buchhalterinnen durch Finanzsoftware ersetzt werden. Doch diese Rationalisierungstendenzen, die das Kapital immer und überall anhalten, seine Kosten durch zunehmende Automatisierung möglichst weit abzusenken, gibt es auch bei allen anderen Tätigkeiten, ganz egal ob sie produktiv oder unproduktiv sind.

Die unproduktiven Kapitalangestellten sind also für den Verwertungsprozess genauso nötig wie alle anderen Angestellten. Gleichzeitig bremsen sie diesen Prozess jedoch aus, indem sie Gebrauchswerte konsumieren, nicht aber produzieren und so die Gebrauchswertmenge, die sich die Kapitalistinnen als Mehrwert aneignen können, reduzieren.

Wie unterschiedlich sich produktive und unproduktive Arbeit im Verwertungsprozess auswirken, merkt man auch, wenn sich ihr Umfang unabhängig voneinander verändert. Nehmen wir an, der Fischereibetrieb war so erfolgreich, dass er die Anzahl der beschäftigten Fischer von zehn auf 20 verdoppelt kann. Der Tagesertrag verdoppelt sich ebenfalls, da diese Fischer nun insgesamt 160 Arbeitsstunden pro Tag beschäftigt sind.

Durch geschicktes Management gelingt es der Firma, weiterhin mit einem Verkäufer und einer Buchhalterin auszukommen. Die nun insgesamt 22 Angestellten konsumieren pro Arbeitstag den Ertrag von 22×6 = 132 Std. produktiver Arbeit. Der restliche Ertrag im Umfang von 28 Arbeitsstunden geht als Mehrwert an die Kapitalistin. Wiederum in Geld umgerechnet, zahlt sie 1320 € Lohnkosten und macht 280 € Gewinn, ihre Profitrate steigt also von 11,1 auf 21,2 Prozent.

Berechnen wir nun den umgekehrten Fall: Die Zahl der produktiven Angestellten bleibt bei zehn, die der unproduktiven wird von zwei auf vier verdoppelt. Das könnte etwa nötig sein, wenn aufgrund steigender bürokratischer Anforderungen ein zusätzlicher Buchhalter gebraucht wird und wenn zudem eine Werbefachfrau ins Team geholt wird, um mit den stark gestiegenen Marketinganstrengungen der Konkurrenz mithalten zu können. Alternativ wäre es denkbar, dass die Anzahl der Diebstähle und Raubüberfälle in der Gegend zugenommen hat und die Fischerei deshalb zwei Wachschützer einstellen muss, um das Lager und den Verkaufsstand zu bewachen.

Der Tagesertrag an Fischen entspricht weiterhin dem, was in 80 Arbeitsstunden eben gefangen werden kann. Doch – oh Schreck! – die nun 14 Angestellten konsumieren pro Arbeitstag den Ertrag von 14×6 = 84 Std. produktiver Arbeit. Nicht nur, dass die Kapitalistin verhungern müsste, wenn sie das länger mitmacht, da für sie schlichtweg keine Fische übrig bleiben – sie müsste außerdem pro Tag noch den Ertrag von 4 Std. Arbeit bzw. 40 € aus ihren (hoffentlich vorhandenen) Reserven zuschießen, um den Betrieb aufrechtzuerhalten. Dass sie das lange mitmachen würde, ist zweifelhaft, aber spätestens, wenn ihre Reserven aufgebraucht wären, wäre definitiv Schluss.

Der Unterschied zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit existiert also nicht nur auf dem Papier bzw. in den Theorien von Marx – er ist sehr real.

[Update: siehe Produktive Arbeit auf dem Prüfstand]

Literatur

  • Marx, Karl und Friedrich Engels (1956–1990): Werke. 43 Bände. Berlin: Dietz. Abgekürzt als MEW <Bandnummer>.
  • Rakowitz, Nadja (2003): Einfache Warenproduktion. Ideal und Ideologie. Freiburg: ça ira.
From: keimform.deBy: Christian SiefkesComments

Was muss sich ändern, damit alles anders werden kann?

Gemälde von Wenzel Hablik: Große bunte utopische Bauten (gemeinfrei, URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Wenzel_Hablik_Gro%C3%9Fe_bunte_utopische_Bauten.jpg )Die Kritik am Kapitalismus kann an vielen Punkten ansetzen. Einige wesentliche Aspekte habe ich in Der alte Marx und die Probleme des Kapitalismus zusammengetragen. Zudem basiert der Kapitalismus auf der systematischen Herstellung und Ausnutzung von Zwangslagen, was zweifellos kein schöner Zug ist. Und es gibt noch viele weitere gute Gründe, den Kapitalismus überwinden zu wollen.

Alle diese Aspekte sind grundsätzlich berechtigt und relevant. Für die Frage nach der Möglichkeit einer gesellschaftlichen Transformation über den Kapitalismus hinaus sehe ich aber das Problem, dass bei so vielen Einzelpunkten leicht das Wesentliche aus dem Blick geraten kann: Was genau muss sich eigentlich ändern, damit „alles anders werden kann“, sprich damit die spezifische kapitalistische Logik durch eine andere ersetzt wird?

Abgesehen von richtigen, aber etwas tautologischen Antworten wie „Der Kapitalismus dreht sich um Kapitalvermehrung“ ist es nicht leicht zu bestimmen, was eigentlich das Spezifische an der kapitalistischen Logik ist. Geld, Märkte, Tausch, Handel und Konkurrenz gab es in der einen oder anderen Form auch in vielen anderen Gesellschaften, ohne dass dies dort die spezielle Dynamik des permanenten Verwertungswettkampfs ausgelöst hätte, die der Kapitalismus seit seiner Entstehung aufweist. Das macht Behauptungen unplausibel, dass sich diese Dynamik nur durch die Abschaffung des einen oder anderen dieser Faktoren abstellen ließe.

Andererseits scheint mir bei vielen Ansätzen, die den Kapitalismus überwinden, aber manche dieser Faktoren in reformierter Form beibehalten wollen, die Gefahr sehr real, dass sie selbst wieder zu einer gesellschaftlichen Logik führen könnten, die der kapitalistischen in manchen ihrer negativen Aspekte sehr ähnlich wäre – weil sie nicht genau verstehen, was diese Logik ausmacht. Das gibt etwa für markt- bzw. konkurrenzsozialistische Ansätze sowie für Parecon.

Was ist das Spezielle am Kapitalismus?

Was also ist das Spezifische an kapitalistischen Gesellschaften, wenn man nicht das Ziel (Kapitalvermehrung) betrachtet, sondern die Organisationsweise der Gesellschaft? Kurz zusammengefasst würde ich sagen: Der Kapitalismus basiert auf Konkurrenz als permanent fortgesetztem Zwangsverhältnis, dem sich die Individuen unterwerfen müssen.

Das ist wahrscheinlich zu dicht, um intuitiv verständlich zu sein. Daher etwas detaillierter ausgeführt: Individuen, Firmen und Staaten unterliegen im Kapitalismus alle der Konkurrenz. Diese ist ein Zwangsverhältnis: Man konkurriert nicht freiwillig, sondern muss sich Konkurrenzverhältnissen unterwerfen, um die eigene Existenz und Position zu sichern.

Zudem wird die Konkurrenz permanent fortgesetzt: Jedes Individuum und jede Firma wird der Konkurrenz immer wieder aufs Neue unterwerfen – insbesondere dann, wenn sie etwas zu verkaufen versuchen, ob die eigene Arbeitskraft oder irgendein Produkt. Die eigene Position ist nie dauerhaft gesichert, sondern man muss sich ständig aufs Neue gegen andere durchsetzen. Zudem wird dieser Konkurrenzkampf ununterbrochen fortgesetzt: Von meinem Abschneiden in der Vergangenheit hängen meine Chancen in der Zukunft ab. Wer schon Berufserfahrung bei renommierten Unternehmen hat, ist beim nächsten Bewerbungsgespräch in Vorteil; ein junges und mit knappen Mitteln ausgestattetes Unternehmen wird sich schwertun gegen Platzhirsche, die eine etablierte Marke sind und über große Finanzmittel verfügen.

Es ist also nicht so, dass man etwa nur einmal eine bestimmte Prüfung bestehen (auch das kann eine Konkurrenzsituation sein) bzw. in einem bestimmten Wettbewerb hinreicht gut abschneiden muss und es damit dann „geschafft hat“. Das wäre zwar Konkurrenz, aber keine permanente. Und es ist auch nicht so, dass man jeden Morgen erst einmal einen 100-Meter-Lauf absolvieren muss und diejenigen, die diesmal am Schnellsten waren, dann das beste Frühstück kriegen. Das wäre zwar permanente Konkurrenz, die aber nicht fortgesetzt wird, da alle jeden Tag wieder von derselben Ausgangsposition starten.

Individuen und Firmen konkurrieren als Verkäuferinnen auf kompetitiven Märkten. Man muss etwas erfolgreich verkaufen können, um im Konkurrenzkampf zu bestehen. Firmen verkaufen dabei in aller Regel Waren: Dinge (im weitesten Sinne, wozu auch Informationsgüter und Dienstleistungen gehören), die explizit für den Verkauf auf dem Markt hergestellt wurden. Die meisten Individuen haben dagegen nur ihre Arbeitskraft zu verkaufen, die eine fiktive Ware (Polanyi 1957) ist: Sie wird zwar auf dem Arbeitsmarkt wie eine Ware gehandelt, aber nicht als Ware hergestellt. Stattdessen ist sie untrennbar mit dem Individuum verbunden, das sie zu verkaufen sucht. Während Firmen, die feststellen, dass sie eine bestimmte Art von Waren nicht (mehr) erfolgreich verkaufen können, stattdessen auf andere Waren umsteigen können, haben Individuen diese Möglichkeit nicht. Ihre fiktive Ware Arbeitskraft ist in der Regel alles Verkäufliche, das sie haben.

Die gängigen (neoklassischen) Modelle der Wirtschaftswissenschaften kennen nur echte Waren, deren Verkäufer stattdessen auf eine andere Warenart umsteigen oder sich ganz aus dem Markt zurückziehen können. Deshalb hält die Neoklassik den Markt für ein freiheitliches System, an dem alle freiwillig teilnehmen. Bezogen auf die Arbeitskraftverkäufer geht diese Analyse aber völlig fehl: Sie verfügen über keine andere „Warenart“, die sie statt ihrer Arbeitskraft verkaufen könnten, und sie müssen am Markt teilnehmen, weil ihnen ansonsten der Hungertod oder zumindest großes Elend droht.

Das also ist das Spezielle am Kapitalismus, und damit das Merkmal, das auf jeden Fall verschwinden muss, damit die heutige gesellschaftliche Logik durch eine andere abgelöst werden kann: der Zwang zur permanent fortgesetzten Konkurrenz. Gegenüber dem Individuum äußert sich dieser Zwang als die gesellschaftliche Notwendigkeit, die eigene Arbeitskraft zu Markte zu tragen. Auch diese Notwendigkeit muss somit verschwinden, wenn sich die gesellschaftliche Logik ändert soll.

Was muss anders werden, damit alles besser werden kann?

Ich würde sagen, dass sich eine Gesellschaft, die keinen Zwang zur permanent fortgesetzten Konkurrenz kennt, auf jeden Fall signifikant vom Kapitalismus unterscheiden wird. Allerdings bedeutet das nicht unbedingt, dass sie besser wäre. Denkbar wäre etwa eine Gesellschaft, die statt auf permanent fortgesetzter auf bloß einmaliger oder gelegentlich wiederholter Konkurrenz basiert – vielleicht müssen sich alle jungen Erwachsenen bestimmten Prüfungen unterwerfen und ihr Abschneiden in diesen Prüfungen entscheidet darüber, wo in der gesellschaftlichen Hierarchie man landet und welche gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten man hat. Ebenfalls denkbar sind Gesellschaften, in der die Konkurrenz durch bloße Willkür ersetzt wird. Etwa indem die gesellschaftliche Position der Eltern über die eigenen Lebensmöglichkeiten entscheidet, wie beim indischen Kastensystem. Ebenso willkürlich wäre es, wenn etwa das eigene Geschlecht, Haut-, Augen- oder Haarfarbe, Körpergröße oder Intelligenzquotient für die jeweiligen Möglichkeiten ausschlaggebend wäre. Klar ist, dass derartiges zwar anders, aber nicht wirklich besser wäre als der heutige Zustand.

Ebenso wenig wäre es wünschenswert, wenn der abstrakte Zwang zur Marktteilnahme durch den konkreten Zwang einer Institution ersetzt würde. Das wäre etwa dann der Fall, wenn die Marktkonkurrenz durch eine offizielle Planungsinstanz ersetzt würde (wie im Realsozialismus), deren Anweisungen alle gehorchen müssten. Die unnahbare Institution des Marktes, die keine Gnade kennt und sich um Beschwerden nicht kümmert, würde dann lediglich durch eine andere Institution ersetzt, der die Einzelne ebenfalls aus einer Position des Unterworfenseins heraus begegnet. Und selbst wenn diese Institution sich als „bürgernah“ gäbe und ein offenes Ohr für Klagen aller Art hätte, würde das nichts ändern an der grundsätzlichen Asymmetrie zwischen den Individuen und den Einrichtungen, die ihr Leben bestimmen.

Damit alles besser werden kann, sind auch derartige Institutionen und Effekte zu vermeiden. Die gesellschaftliche Teilhabe jedes Einzelnen darf also weder vom individuellen Abschneiden in Konkurrenzsituationen noch von bloßer Willkür abhängen. Und es darf keine Institutionen geben, denen sich die Einzelne unterwerfen muss, ohne selbst gleichberechtigtes Mitglied dieser Institution zu sein. Dazu kommen noch die Anforderungen, die ich in meiner Ethik-Serie formuliert habe, etwa dass auch die Mehrheit nicht nach Belieben allen Vorschriften machen kann.

Angelehnt an Stefans neueste Streifzüge-Kolumne (Meretz 2015) kann man solche Postulate als Elemente einer kategorialen Utopie verstehen. Sie sagen nicht selbst, wie es anderes gehen könnte, sind aber Messlatten, die man an das – gedachte oder auch schon existierende – andere anlegen kann, um zu prüfen, wie weit es diesen Anforderungen gerechnet wird.

(Fortsetzung: Wie kommt das Neue in die Welt?)

Literatur

  • Meretz, Stefan (2015): Utopie. Streifzüge 63. URL: keimform.de/2015/utopie/
  • Polanyi, Karl (1957): The Great Transformation. Boston: Beacon Press.
From: keimform.deBy: Christian SiefkesComments

Die stigmergische Zukunft

neues deutschlandVon Sabine Nuss

[Erschienen am 11.04.2015 im neues deutschland.]

3D-Drucker in der Küche und eine Welt ohne Geld: über das Potenzial neuer Technologien für die Revolutionierung der Produktionsverhältnisse.

«Tea. Earl Grey. Hot». So lautete das Kommando, mit dem Captain Jean-Luc Picard in Raumschiff Enterprise regelmäßig seinen Tee bei einem sogenannten Replikator bestellte. Dieses schrankhohe Gerät war eine Art Kopiermaschine. Es konnte jeden in seiner atomaren Struktur vorher erfassten Gegenstand herstellen. Wenn nicht gerade aufgrund eines Systemfehlers eine Orchidee statt einer dampfenden Teetasse aus dem Replikator plumpste, stand da binnen weniger Sekunden das Lieblingsheißgetränk des Captains.

Mit der Entwicklung von 3D-Druckern scheinen uns Replikatoren heutzutage nicht mehr ganz so fiktional wie noch in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Im Gegenteil: Auf dem Videoportal youtube finden sich zahlreiche Filme, die zeigen, wie 3D-Drucker dreidimensionale Gegenstände schichtweise aufbauen: von Gipsfiguren über Kunststoff-Trillerpfeifen bis hin zu Pizza oder gestrickten Schals – es wird eifrig mit diesen Geräten experimentiert. Aber kann man damit auch eine neue Gesellschaft ausdrucken?

In der politischen Debatte haben die Möglichkeiten dieser neuen Technologie noch kaum Spuren hinterlassen. Welches Potenzial darin für die Revolutionierung der Produktionsverhältnisse liegt, bzw. liegen könnte, darüber wird hingegen seit einigen Jahren in einer kleinen Netzcommunity diskutiert. Sie ist an der Schnittstelle von Computertechnologie und Gesellschaftstheorie zu Hause und misst den zeitgenössischen technologischen Entwicklungen, wie unter anderem 3D-Druckern, ein radikales gesellschaftsveränderndes Potenzial zu.

Einer der Protagonisten dieser Debatte ist der Softwareentwickler Christian Siefkes. In seiner Publikation «Freie Quellen oder wie die Produktion zur Nebensache wurde» malt er unter anderem aus, wie 3D-Drucker in der Zukunft im Alltag zum Einsatz kommen könnten. Als Science Fiction will er das aber nicht verstanden wissen: «Technisch bin ich bewusst ausgesprochen zurückhaltend gewesen – ich beschreibe im Wesentlichen nur Technologien, die es schon gibt, und nehme nur eine bescheidene Weiterentwicklung an», so der Autor.

Produziert wird in der künftigen Welt in der Küche oder im Badezimmer. Dort würde es dann so aussehen: «In den meisten Haushalten stehen produktive Automaten. Beliebt ist die 3D-Druckerfräse, die einen 3D-Drucker mit einer computergesteuerten Fräsmaschine kombiniert. 3D-Drucker stellen dreidimensionale Gegenstände her, indem sie viele Schichten Bioplastik, Metall oder Keramik übereinander drucken, bis das gewünschte Objekt fertig ist. Typische Haushalts-3D-Drucker können so innerhalb einiger Stunden Gegenstände bis zu einer Größe von 50 mal 40 mal 30 Zentimetern herstellen.»

Ein Großteil der im Haushalt benötigten langlebigen Dinge ließe sich so fertigen, führt Siefkes aus, ob Geschirr, Besteck, Spiele und Spielzeug, oder Werkzeuge. Fällt mir also meine Lieblingstasse runter und zerspringt in tausend Scherben, druck ich sie mir einfach nochmal aus.

Aber auch elektrische und elektronische Geräte und Lampen könne man produzieren, wobei Möbel und andere große Dinge, die sich nicht auf einmal ausdrucken lassen, in Teilen hergestellt werden könnten. Man müsse sie dann nur noch zusammenschrauben oder zusammenstecken. Eine Herausforderung, die die Ikea-sozialisierte Inbusgeneration mittlerweile mit links beherrschen sollte.

Mit der autonomen Herstellung der im Haushalt benötigten Dinge wandelt sich der Mensch vom reinen Konsumenten zum viel zitierten «Prosumenten» (= Produzent + Konsument). Auch die Prosumer-Welt benötigt übrigens Rohstoffe und Energie. Die produktiven Maschinen würden in dieser Zukunft laut Siefkes weniger Energie verbrauchen als fast alle früher üblichen Herstellungsverfahren, da sie das benötigte Material nur kurz erhitzen müssen, um es zu verflüssigen. Außerdem gingen die produktiven Maschinen sehr sparsam mit dem Material um: «Alles landet im Endprodukt, nichts wird verschwendet oder für Formen gebraucht», so der Autor.

Dass die Produktion auch beim Putzen zur Nebensache werden könnte, wird ebenso illustriert, und auch hier zeigt sich, dass das beschriebene Szenario von der Gegenwart gar nicht mehr weit entfernt ist: «Das Putzen wird mittlerweile von Haushaltsrobotern erledigt, die langsam durch alle Zimmer krabbeln und klettern, um alle Oberflächen von Staub, Schmutz und Keimen zu befreien.» Längst gibt es diese Roboter, wenn auch bislang nur in wenigen Haushalten.

Die von Siefkes so ausgemalte Zukunft macht allerdings nicht Halt bei den technologischen Potenzialen, die etwa 3D-Drucker für die Umwälzung der Produktionsverhältnisse haben könnten. Im Mittelpunkt dieser Zukunft steht vielmehr etwas, was Siefkes «Stigmergische Selbstauswahl» nennt. Damit wird erklärt, wie sich eine arbeitsteilige Gesellschaft organisieren könnte, wenn sie so aussähe, wie sie der bereits zitierte Captain Picard für seine Welt beschrieben hat: «Die Wirtschaft der Zukunft funktioniert ein bisschen anders. Sehen Sie, im 24. Jahrhundert gibt es kein Geld… Der Erwerb von Reichtum ist nicht mehr die treibende Kraft in unserem Leben. Wir arbeiten um uns selbst zu verbessern – und den Rest der Menschheit.» (Picard in Star Trek, «Der erste Kontakt», 1996). Auch in einer stigmergisch organisierten Welt gibt es kein Geld mehr.

Mit der Utopie einer geldlosen Gesellschaft wird ein Fass aufgemacht, das bei weitem größer ist, als die schlichte gedankliche Fortschreibung von technologischen Entwicklungen unter gegebenen, nämlich kapitalistischen Bedingungen. Unter diesen regiert nach wie vor das Geld die Welt. Neue Technologien werden sich hier nur dann durchsetzen, solange sie einen Profit abwerfen, solange es keine menschliche Arbeitskraft gibt, die billiger arbeitet als ein Computer. Oder sie werden sich nur für jene durchsetzen, die sie sich leisten können.

Geld ist nicht nur ein technisches Hilfsmittel, was den Tausch erleichtert. Es ist ein soziales Verhältnis und hängt eng zusammen mit Eigentum und Macht: Einige – im Vergleich wenige – Menschen können kraft ihres Eigentums an den Mitteln, mit denen Dinge und Dienstleistungen hergestellt werden, jene vielen anderen Menschen, die diese Mittel nicht haben, für sich arbeiten lassen. Diese wiederum stellen neuen Reichtum her, von dem sie nur einen Teil erhalten. Der Rest geht auf das Konto des Kapitalisten, vor allem und das ist zentraler – in die erneute Produktion. Arbeiten lassen die Produktionsmitteleigentümer mit der Absicht, aus verdientem oder geliehenem Geld mehr Geld zu machen. Zweck ist daher die Vermehrung von Reichtum um der Vermehrung willen – ein selbstzweckhafter Prozess, der auf Kosten von Mensch und Natur geht und kein Maß findet. Mit dem Geld, so schrieb Marx, trägt man diesen sozialen Zusammenhang in der Hosentasche mit sich herum.

In der stigmergischen Zukunft produzieren die Menschen dagegen nicht um der Vermehrung des Geldes oder überhaupt des Geldes wegen, sondern weil sie ein Interesse an dem Ergebnis der Arbeit selbst haben, weil sie es unmittelbar benötigen, weil ihnen der gesellschaftliche Nutzen einleuchtet, von dem auch sie entweder jetzt oder später mal profitieren. Sie arbeiten, weil es ihnen Spaß macht oder weil sie selbst wünschen, dass andere etwas herstellen, was sie brauchen, aber selbst nicht herstellen können. Die Unterscheidung von «Hobby» und «Arbeit» scheint hier aufgehoben.

Das Organisationsprinzip einer geldvermittelten, kapitalistischen Gesellschaft ist tief eingeschrieben in Alltagspraxen, in Institutionen, in das Denken, das Begehren, das Wollen, in das Werden und in den Tod, in alle Lebensbereiche des neuzeitlichen Menschen. Sich Geld wegzudenken? Unmöglich. Utopisch. Jedoch: Die stigmergische Zukunft einer geldlosen Gesellschaft bewegt sich nicht im völlig fiktiven Raum. Man erkennt rasch, welche Organisationsweise hier Modell gestanden hat: Die Erfahrungen bei der Produktion offener oder freier Software. Hier tun sich weltweit Programmierer für ein Softwareprojekt zusammen und entwickeln es gemeinsam. Das tun sie auch (wenn sie es sich leisten können), ohne dafür bezahlt zu werden, und sie tun es in der Regel dann, wenn sie die Software selbst brauchen oder nützlich finden. Sie stellen den Code offen allen anderen zur Verfügung, so dass andere das Projekt für eigene Zwecke ändern können. Linux ist so entstanden.

Die stigmergische Organisation beschreibt eine daran angelehnte Art dezentraler Aufgabenteilung auch in der materiellen Welt. «Stigmergie» kommt vom griechischen Wort stigma, das «Markierung» oder Hinweis« bedeutet. Herzstück der Idee ist die Einsicht in alle laufenden Projekte, in deren Arbeitsstand, in Informationen darüber, wo noch jemand gebraucht wird. Projekte werden in diesem Sinne »markiert«, um anderen die Möglichkeit zu geben, sich einzubringen, dort, wo es gebraucht wird und wo die interessierten Personen durch ihre Mitarbeit ein dringendes Bedürfnis gestillt haben möchten: »Dass dabei alle ihre eigenen Wünsche, Vorstellungen und Möglichkeiten einbeziehen, sorgt für eine Priorisierung der offenen Aufgaben: Was vielen Menschen ziemlich oder einigen sehr wichtig ist, wird eher erledigt als Dinge, die überall nur Achselzucken hervorrufen,« so Siefkes.

»Projekte« gibt es in einer stigmergischen Gesellschaft zahlreich, mit zum Teil recht gewöhnungsbedürftigen Bezeichnungen. So ist die Rede von »Lernknoten«, wo sich Leute gezielt zum Lernen und zum Fähigkeitserwerb zusammen finden. Essen wächst in »Gartenfarmen«, die Unterscheidung von Gärten und Parks gibt es nicht mehr. Erholungsflächen, Flächen für Agrikultur und Viehzucht fallen in eins. Solche Gartenfarmen sind allgemein zugänglich und je nach Präferenz der Betreiber werden die unterschiedlichsten landwirtschaftlichen Methoden eingesetzt, wie zum Beispiel Permakultur, Hydrokultur oder Aquaponik.

Zur Verteilung der Produkte wenden die Gartenfarmen das »Pub/Sub«-Verfahren an. Sie kündigen an, was sie produzieren wollen (»publish«). Wer in einer Gegend wohnt oder sich längere Zeit aufhält, abonniert (»subscribe«) das Programm einer nahe gelegenen Gartenfarm und wird von dieser dann regelmäßig mit frischen Produkten versorgt. Anhand der Abos können Gartenfarmen den Bedarf nach ihren Produkten abschätzen und entsprechend produzieren. Wenn mehr nachgefragt wird, als eine Farm produzieren kann, und es nahe gelegene ungenutzte Ländereien gibt, kann sie die Produktion aufstocken und dies dem Ressourcenrat melden. Andernfalls verweist sie die zusätzlichen Abonnenten an Gartenfarmen in der Umgebung.

»Knotenort« steht für ganz unterschiedliche Orte, die mal zusammen, mal räumlich getrennt anzutreffen sind – Lern- und Forschungsknoten, Heil- und Pflegeknoten, Vitaminfabriken, Fabhubs, Community-Cafés und anderes. Fabhubs ergänzen die häusliche Küchenfabrikation um Maschinen, »die größer und vielseitiger sind als das, was man normalerweise zu Hause herumstehen hat.« In Vitaminfabriken wiederum werden keine Nahrungsmittel hergestellt. »Vitamine« sind vielmehr die Zubehörteile für Küchenfabrikation und Fabhubs, die sich nicht effizient dezentraler herstellen lassen – insbesondere elektrische und elektronische Bauteile wie Motoren, Leuchtdioden und Mikrochips.

Die hier längst nicht erschöpfend beschriebene stigmergische Organisation wird in etliche weitere Bereiche fortgeschrieben: Transportmittel, Netztechnologien, Wohnen. Nichts davon scheint abwegig. Bei allem Befremden gegenüber dem großen Vertrauen in die Freiwilligkeit beim Mittun: Die sozialen Verhältnisse werden nicht verherrlicht. Auch in dieser Utopie gibt es Auseinandersetzungen, sie werden in sogenannten Konflikträten bearbeitet.

Was die stigmergische Welt kennzeichnet, im Gegensatz zu vielen anderen utopischen Ansätzen, ist die radikale Infragestellung der existierenden kapitalistischen Vergesellschaftung durch Privateigentum und Geld – auf der Basis technologischer Entwicklungspotenziale. Sie wirft nichtsdestotrotz mehr (interessante) Fragen als Antworten auf. Einfach ausdrucken lässt sich diese Gesellschaft nicht, daher stellt sich auch die Frage: Wie von A nach B kommen?

Ansetzen lässt sich dabei zwar an bereits existierenden Nischenprojekten, wie beispielsweise Projekte der solidarischen Ökonomie, oder dann doch wieder die Entwicklung von Freier Software. Der spontane Alltagsverstand oder das herrschende Bewusstsein muss jedoch einen Riesensprung über sich selbst hinaus wagen können, um nicht ständig bei jeder stigmergischen Idee reflexartig zu reagieren mit: »So ist der Mensch doch gar nicht« – um damit die Welt, wie wir sie kennen, nur zu spiegeln.

From: keimform.deBy: Christian SiefkesComments

Anja Ibes: Kann Solidarische Landwirtschaft als eine Form von Peer Production gesehen werden?

von Andreas Exner Anja Ibes hat eine lesenswerte Studie zur Frage des Verhältnisses zwischen Solidarischer Landwirtschaft und Peer Production vorgelegt. Sie steht hier zum Download bereit. Aus dem Fazit: Die vorliegende Arbeit widmete sich der Frage, ob die Solidarische Landwirtschaft … Continue reading
From: social-innovation.orgBy: Andreas ExnerComments