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Verschlimmbesserungen

Streifzüge 54/2012

von Julian Bierwirth

Dass die Dinge in Waren- und Geldgesellschaften einen doppelten Charakter annehmen, durch den die vermeintliche Rationalität in pure Irrationalität umschlägt, ist für die meisten Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler*Innen ebenso wie für die politischen Entscheidungsträger*Innen nicht vorstellbar. Ihnen gilt gerade der eingeschränkte Blick, den sie auf die Welt werfen, als besonders menschenfreundlich. Vorausgesetzt wird der Mensch als rational handelndes Wesen. Als solches kauft er selbstverständlich nur die Dinge, die ihm sinnvoll erscheinen. So wird der produzierte Schrott im Nachhinein geadelt und jede Kritik daran soll an planwirtschaftliche Autokratie erinnern: will hier etwa einer vorschreiben, was Menschen zu gefallen hat und was nicht?

Weil die vorherrschenden akademischen Strömungen aber fröhlich ökonomischen Erfolg mit stofflicher Rationalität gleichsetzen, können sie die himmelschreienden Absurditäten und Zumutungen, die sich immer wieder vor uns auftun, nicht mehr angemessen in den Blick bekommen. Und so drängt sich dann nicht selten der Eindruck auf, hier würde der Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen. Wenn etwa einmal produzierte Waren im Nachhinein stofflich verschlechtert werden, weil sie so neben dem ursprünglichen Produkt auch im Billigsegment angeboten werden können und diese nachträgliche Verschlechterung ökonomisch günstiger ist als eine komplett neue Produktreihe zu entwerfen – dann fällt dem Weltbank-Ökonomen Tim Harford nicht mehr dazu ein, als dass der freie Markt „eine vollkommen effizient arbeitende Wirtschaft zur Folge hat“.

In solchen Beispielen, wie sie im Bereich von Computerhard- und Software nicht unüblich sind, wird zusätzliche Arbeit aufgewandt, um das Produkt schlechter zu machen, etwa indem Funktionen im nachhinein deaktiviert werden. Hier wird augenfällig, was sich im Allgemeinen hinter der Maske von freier Produktwahl versteckt: ökonomische Rationalität schlägt um in materielle Irrationalität.

Landnutzung ein Stück weit demonetarisieren. Eine Arbeitsvorlage

Siehe dazu auch Streifzüge 53 „Die post-revolutionäre Möhre. Hier und Jetzt“

Streifzüge 54/2012
von Jan-Hendrik Cropp

Wir müssen das agrarpolitische Desaster auf den Äckern tagtäglich mitansehen. Mit Entmonetarisierung als Perspektive dagegen meine ich in diesem Beitrag, die landwirtschaftliche Produktion unabhängiger von Geld und seiner Logik zu gestalten.

Wir organisieren Gemüseproduktion nach dem Leitsatz: Jede_r gibt nach seinen_ihren Fähigkeiten und bekommt nach seinen_ihren Bedürfnissen (siehe Streifzüge 53). Ein Schlüsselelement darin bleibt aber die Finanzierung zur Deckung der Produktionskosten (Budget). Eine wertfreie Enklave, aber ohne Geld nicht existenzfähig. 

Es geht also um Möglichkeiten und Grenzen für eine Entmonetarisierung unserer Landwirtschaft, für eine schrittweise Verringerung der Budgethöhe durch direkte Bedürfnisbefriedigung ohne den Umweg des Geldes. Geld soll weniger wichtig für das Gelingen des Projektes werden.

 

Die neue Gruppenvereinbarung in Witzenhausen-Freudenthal (Hessen) hält als Ziele fest:

  • Die Befriedigung des Bedürfnisses nach ökologisch erzeugtem Gemüse aller Beteiligten.
  • Die Befriedigung jener Bedürfnisse (auch finanzieller Art), die bei Personen dadurch entstehen, dass sie zum Erreichen des oben genannten Ziels tätig sind (z.B. die Gärtner_Innen).
  • Eine nicht-kommerzielle Befriedigung dieser Bedürfnisse, wo immer möglich. Eine finanzielle / monetäre Befriedigung dieser Bedürfnisse, wo immer nötig.

 

Ein Ansatz zur Entmonetarisierung wäre ein Alltag in freiwilliger Einfachheit der im Projekt Tätigen, möglichst wenig Geld auszugeben, ohne die eigene, persönliche Lebensqualität zu mindern: containern, trampen, couchsurfen, gemeinsame Nutzung von Gebrauchsgegenständen etc. Ein erster individueller, kein oder nur teilweise transformatorischer Ansatz.

Eine andere praktizierte Möglichkeit ist es, die Tätigkeit im Projekt mit monetären Einkommen quer zu subventionieren: Von gut bezahlter, teilzeitiger Lohnarbeit; über staatliche Transferleistungen; familiäre Unterstützung; Vermögen bis Fundraising fürs Projekt und gemeinsame Kasse kann das alles für die Einzelnen sinnvoll sein. Solange diese Gelder allerdings zur Deckung laufender Kosten genutzt werden, ist das bloß eine Freistellung der Landnutzung auf Kosten anderer Bereiche.

Weiter führt vielleicht eine direkte Bedürfnisbefriedigung durch unterstützende Netzwerke. Hinter dem Geldbedarf stehen ja so konkrete Bedürfnisse wie Mobilität, Wohnung, Essen, Heizung, Kommunikation usw. Diese könnten durch Fähigkeiten oder Ressourcen innerhalb oder außerhalb des Projektes befriedigt werden. Ein paar Beispiele:

  • Raum zum Wohnen oder als Verteilpunkt für Gemüse (Hof, Wohnung, Bauwägen / Garage, Innenhof) wird den Tätigen durch Unterstützer_Innen günstig oder mietfrei zur Verfügung gestellt oder die Tätigen suchen sich entmonetarisierten Wohnraum in anderen Zusammenhängen (z.B. Projektwerkstatt auf Gegenseitigkeit)
  • Nahrungsmittel: Die Produktionspalette wird im Projekt oder durch Integration anderer Höfe ausgeweitet oder die Tätigen nutzen andere Projekte Solidarischer Landwirtschaft.
  • Entspannung und Gesundheit: Entweder gibt es Ärzt_Innen und Masseur_Innen im Netzwerk, die ihre Leistungen billig oder frei zur Verfügung stellen oder die Tätigen nutzen andere Solidargemeinschaften (Skillsharing-Netzwerke / Artabana).
  • Gebrauchsgegenstände (privat oder für die Produktion): Entweder Leute aus der Projektgruppe (Tätige plus Beitragende) stellen das Notwendige zur Verfügung oder es gibt einen regionalen Ressourcen-Pool außerhalb des Projektes.
  • Wartung und Reparatur der Produktionsmittel: Entweder eine interne Arbeitsgruppe mit entsprechenden Fähigkeiten kümmert sich darum oder es wird ein regionales Skillsharing-Netzwerk bemüht.

In unseren diesjährigen Vereinbarungen konnten Menschen daher als ersten Schritt hin zur Entmonetarisierung nicht nur finanzielle Beiträge, sondern auch ihre Fähigkeiten und Ressourcen zusichern.

Ein wichtiger weiterer Ansatz wäre jedenfalls der Aufbau von autonomer Infrastruktur, um die Produktion vom fossilistisch-kapitalistischen System abzukoppeln und private Ressourcen nicht nur zu teilen, sondern zu kollektivieren mit dem Ziel einer solaren, sich selbst erhaltenden Produktion. Zum Beispiel:

  • Saatgutproduktion: Eigene Drescher, Trocknung, Reinigung und Lagerungsmöglichkeiten.
  • Düngerproduktion: Ergänzend zur Gründüngung hygienisierte Rückführung der menschlichen Ausscheidungen durch Fermentierung, Kompostierung.
  • Treibstoffe: Ölmühlen und Biogasanlagen für umgerüstete Fahrzeuge.
  • Räumlichkeiten: Freikauf von Hof, Hallen, Scheunen, Verteilpunkten usw.
  • Fahrzeuge: Kollektive Nutzung und Umrüstung auf Biotreibstoffe aus der Region.
  • Werkstätten: Werkzeug nicht nur teilen, sondern kollektivieren, Ort der gemeinsamen Nutzung.
  • Strom und Wärmeerzeugung: Kraft-Wärme-Kopplung auf Biomasse-Basis, Solarthermie.
  • Wasser: Brunnen und ökologisches Abwassersystem

Ähnliche Strukturen (Maschinenring, Carsharing, Biogastankstellen, Energiegenossenschaften etc.) existieren, aber als marktförmige Unternehmen. Dem würde eine kollektive Form entgegenstehen,  indem die Infrastruktur an eine Rechtsform übergeben wird, die eine bestimmte, nicht-kommerzielle Nutzung auf Dauer festschreibt. Eine Beteiligung an den erwähnten, bestehenden Angeboten ist sinnvoll, ein Dialog über eine eventuelle Entmonetarisierung notwendig.

Für all das bedarf es, so es nicht direkt beschaffbar ist, Kapital, entweder von innerhalb des Projektes oder von außerhalb. Überlegenswert ist ein überregionaler Fonds, in dem wohlhabende Unterstützer_Innen einen sicheren Hafen für ihr Kapital finden könnten. Auch bei mangelnder Rendite könnte das den Zeitgeist bürgerlicher Unsicherheit treffen.

Aber so einfach wird es wahrscheinlich doch nicht. Zunächst ist und bleibt Geld extrem praktikabel. Als Tauschmittel für alles kann es ein Bedürfnis sehr exakt befriedigen. Wie weit können wir auch jetzt schon nicht-monetär genau das bekommen, was wir brauchen? Weiters haben wir die Zeit für all die aufgezählten Projekte usw. nur, wenn unsere Existenz und Entfaltung nicht-monetär gesichert und nur wenig Zeit für Geldbeschaffung nötig ist.

Und schließlich bleiben bestimmte Bereiche schwer selbst organisierbar. Es gibt z.B. Maschinen und Technik, die einer globalen Produktionskette bedürfen und deren selbstorganisierte Machbarkeit in nicht-kommerziellen Strukturen fragwürdig bleibt.

Also schreiten wir fragend voran …

From: streifzuege.orgBy: LorenzComments

Me and the Money

Streifzüge 54/2012

Homestory von Franz Schandl

Zwei hingeworfene Zahlen: 2.675,76 die eine, 2.176,04 die andere. Erstere summiert meine an VISA gezahlten Zinsen, zweitere meine an den Kritischen Kreis überwiesenen Mitgliedsbeiträge. Man glaubt es kaum, aber es ist tatsächlich so. Ich habe in den letzten 15 Jahren (1997–2011) „mein“ Kreditkartenunternehmen mehr gesponsert als meine Streifzüge. Ich muss schon ein Verrückter sein. Zweifellos. Auch wenn es nicht Absicht gewesen ist, ist es passiert und passiert noch, obwohl Aussicht besteht, dass heuer erstmals meine Mitgliedsbeiträge die VISA-Zinsen übertrumpfen. Ein Fortschritt. Mühsam erkämpft.

Der Kritiker ist also praktizierender Affirmatiker. Mehr als er das System mit seiner Schreibe schädigen kann, arbeitet er ihm durch Alimentierung zu. Wahrscheinlich ist er da kein Einzel-, sondern der Regelfall. Im gewöhnlichen Leben, diesem existenziellen Einerlei, bin ich ja ein braver Mitmacher: ich arbeite für Geld – wenn auch widerwillig, treibe es ein – wenn auch inkonsequent, mache meine Steuererklärung – wenn auch unlustig, überwache das Konto – wenn auch enttäuscht, überfliege die Angebote – wenn auch oberflächlich; vor allem lasse ich mich von diversen Waren recht einfach verführen – wenn auch dann die Ernüchterung folgt. Man kann mir mehr an, als ich dagegenhalten kann.

Ich und das Geld, das war nie eine Liebesgeschichte. Es flog mir nicht zu und ich rannte ihm nicht nach, wenngleich ich dann doch immer wieder laufen musste und auch gehörig ins Schwitzen geriet, um flüssig zu bleiben. Ich und das Geld, das war immer eine blöde Geschichte. So richtig zu Geld gekommen bin ich nie. Etwas muss ich immer falsch gemacht haben. Vielleicht weiß ich sogar, was, was aber wiederum nicht heißt, dass ich es mit der gehörigen Anstrengung hingekriegt hätte. Nein, zweifellos nicht. Anders als in anderen Dingen vermochte ich in Gelddingen nie rücksichtslos zu sein. Wenn schon Arschloch, dann muss man doch einen driftigen Grund dafür haben, meine ich. Geschäftstüchtigkeit ist keine Tugend.

Herr über meine finanziellen Verhältnisse war ich nie. Außer in den zweieinhalb Jahren (1992–94), als das Ministerium ein Forschungsprojekt bezahlte und ich sozusagen mein eigener Angestellter gewesen bin, war ich meist in Geldnöten. Ich könnte noch mit bizarreren Summen auffahren, etwa mit 3.376,92. So viel zahlte ich alleine zwischen 1997–1999 an Bankzinsen. Euro wohlgemerkt! Vorausgegangen war dem ein mündlich zugesagtes Forschungsprojekt, das sich dann aber nicht bewahrheitete. Ich allerdings hatte bereits so getan, als wäre es fix. Ich war dieser Tage ständig um die 10.000 Euro im Minus. In diese schwindelnden Höhen habe ich mich katapultiert, weil ich „meiner“ Bank von meinem erhofften Projekt erzählte und sie den Überziehungsrahmen bereitwillig ausweitete. Ich glaubte es, sie glaubten es, aber zu schlechter Letzt musste ich allein daran glauben. Nix war fix, aber ich war fertig. Zumindest finanziell.

Leben war in diesen Jahren (Theresa und ich waren erst zusammengezogen und schenkten uns auch noch zwei Kinder) überhaupt nur möglich durch trottelhafte Verwendung der Kreditkarte, d.h. Geld damit direkt beheben, nur 10 Prozent des offenen Betrages pro Monat zurückzahlen. Darüber bin ich noch nicht ganz hinweg. Natürlich hätte ich auch jemanden um Hilfe ersuchen können (was möglich gewesen wäre), aber da regierte dieser falsche Stolz, der lieber anonym Zinsen zahlt, als offen um Unterstützung bittet. Die musste es schließlich aber doch geben, denn sonst würde ich noch immer in diesem hohen Schuldenturm sitzen. So sitze ich immerhin in einem niedrigeren.
Man traut es sich kaum zu schreiben, es ist entblößend, daher soll es auch im Kämmerlein bleiben, niemanden etwas angehen, wie es einem damit geht. Über Geld zu reden ist obszön. Wie ein Geständnis wider Willen. Über Geld spricht man nicht, schon gar nicht über das eigene, von dem man sowieso zu wenig hat wie alle anderen auch. Denn selbst die, die mehr als genug haben, können ja nicht genug kriegen. Es ist unser Auftrag, mehr zu wollen, und ich versuche dem auf meiner bescheidenen Etage nachzukommen.

Ökonomisch bin ich zweifellos ein Versager und werde das aller Voraussicht nach auch bleiben. Ich habe finanziell nichts auf der Kante und werde da auch nichts draufkriegen. Außerdem ist mir die Sparmentalität zuwider. Banken, Versicherungen, gar Fonds oder Aktienmärkte mit Geld zu füttern erscheint mir noch irrer als irgendwelche Gebrauchswerte zu erstehen. Auch wenn ich die Lebenslust nie mit Geldgier substituierte, so erliege ich des Öfteren der Konsumsucht. So lebe ich stets über meine finanziellen Verhältnisse, aber unter meinen persönlichen Möglichkeiten.

Es ist oft knapp, aber es ist noch nie zu knapp geworden. Wir pfeifen meist aus dem vorletzten Loch, gelegentlich aus dem letzten, manchmal spielen wir aber auch in höheren Lagen. (Über die Geldbeziehungen meiner Frau schreibe ich aber nichts, weil da wird es ultra.) So gfretten wir uns durchs Leben und es geht uns im Vergleich damit nicht schlecht. Aber womit wird da verglichen? Die Frage, wie es einem geht, könnte ich mit „gut“ als auch mit „schlecht“ beantworten. Das hängt allein vom Kriterium ab.

Bankrottieren kann ich wiederum auch nicht. Sobald ich ganz abstürze, nehmen sie mir meinen Acker, für den ich Keuschlererbe satte 170 Euro Jahrespacht einhebe, auch noch weg. Verloren wäre dann auch die Zugabe von ein paar hundert Kilo Erdäpfel. Kartoffelnot hat es daher bei uns noch nie gegeben, im Gegenteil: Kartoffeln gibt es ziemlich oft. Was ist schon Geld gegen Kartoffeln?

Geld stiehlt Leben, relativ und absolut. Nicht nur die Zeit, die man durch diverse Geldangelegenheiten verliert, sondern auch die Zeit, die man durch den damit geschaffenen psychischen Stress und der physischen Anstrengung insgesamt an Lebensdauer verlieren muss, weil dies alles am Organismus nicht spurlos vorbeigehen kann. Wir tragen den Schaden. Wenn ich daran denke, wird mir gleich übel, so verdränge ich es. Das ist aber auch keine Lösung. Schon allein damit es mir besser geht, ist der Sturz des Geldsystems unumgänglich.

Über die Verhältnisse leben

Streifzüge 54/2012

von Julian Bierwirth

In regelmäßigen Abständen verkünden Politiker*Innen jedweder Coleur, die Gesellschaft habe „über ihre Verhältnisse“ gelebt. Obwohl häufig gehört, macht diese Redewendung doch stutzig. Dass eine Gesellschaft in der Lage ist, „über ihre Verhältnisse“ zu leben, ist keineswegs selbstverständlich. Kein Mensch und keine Gesellschaft ist beispielsweise dazu fähig, in einem gegebenen Zeitraum mehr zu verbrauchen, als vorhanden ist. Es können nicht mehr Brötchen gegessen werden, als es gibt, es können nicht mehr Fahrräder genutzt werden als vorhanden sind und auch Energie lässt sich nur dann verausgaben, wenn sie zuvor erzeugt wurde. (Die einzige denkbare Ausnahme stellt hier vermutlich die heute gängige Variante des Ressourcenverbrauchs dar, die durch intensive Ressourcennutzung eine mögliche spätere Umstellung auf regenerative Energien erschwert.) Der Satz kann nur deshalb auf allgemeine Zustimmung stoßen, weil bei Reichtum und Wohlstand nicht in erster Linie an stoffliche Phänomene, sondern an monetäre Größenordnungen gedacht wird. Letztere zeichnen sich somit allem Anschein nach durch Eigenschaften aus, die nicht mit denen des stofflichen Reichtums identisch sind.

„Über die eigenen Verhältnisse zu leben“ meint, sich verschuldet zu haben. Der Konsum stofflichen Reichtums stellt sich als monetärer Selbstmord heraus. Um an die Dinge zu gelangen, die doch da sind, werden Menschen gezwungen, ihre Zukunft zu verpfänden. In der wird das nicht besser werden: dank verbesserter Technik wird mehr stofflicher Reichtum zur Verfügung stehen, der wegen der üppigen Verschuldung noch weniger finanzierbar sein wird als heute schon. Das Ergebnis? Mehr Verschuldung.

Das klingt – Sie haben es erraten – nach keiner guten Idee. Nennt sich übrigens Kapitalismus, das Ganze. Macht weder Spaß noch funktioniert es ordentlich. Sollten wir mal abschaffen.

Demonetarisierung durch Entwarenformung

Streifzüge 54/2012

KOLUMNE Immaterial World

von Stefan Meretz

Das Schlagwort von der Demonetarisierung ist ein neuer, schillernder Begriff im emanzipatorischen Diskurs. So ist es nicht verwunderlich, wenn sich schnell Missverständnisse und Abgründe auftun. Einige von ihnen sollen hier diskutiert werden.

Naiv-anekdotisch tritt manchmal die lustig gemeinte Forderung auf, alle mögen ad hoc ihre Geldbörsen leeren, worauf man gleich zur Demonetarisierung durch Verbrennen der Geldscheine schreiten könne. Mit diesem „Witz“ verwandt ist die durchaus ernsthaft gemeinte moralische Anforderung, Befürworter_innen der Demonetarisierung dürften nicht nach Einkommen streben. Auf diese Weise wird jedoch ein gesellschaftliches Struktur- in ein individuelles Verhaltensproblem umgedeutet. Geld als dingliche Inkarnation des sich gesellschaftlich konstituierenden Werts kann nicht individuell umgangen werden. Daher sind alle gezwungen, in irgendeiner Form nach Geld zu streben.

Eine verwandte Diskursfigur ist die des moralischen Rankings von Einkunftsquellen. Danach gilt die staatliche Alimentation als akzeptabel, die abhängige Beschäftigung als legitim, die selbstständige Tätigkeit als zweifelhaft und die unternehmerische Tätigkeit mit der Größe des Unternehmens als wachsend verwerflich. Hierbei wird oftmals nicht die konkrete Handlungsweise beurteilt, sondern die Position als solche. Die dabei implizit vorgenommene „Adelung“ von Armut wird nur noch getoppt durch die agitatorische Denunziation des „arbeitslosen“ Einkommens von Kapitalist_innen, die nahtlos anschlussfähig ist an reaktionäre Diskurse, welche sich dann allerdings gegen die Ärmsten richten. Der Klassenkampffetisch lässt grüßen.

Selbstverständlich gibt es Unterschiede im Gleichen. Das Gleiche ist die monetäre Strukturlogik der Warengesellschaft. Sie bestimmt den Rahmen, in dem sich alle bewegen. Unterschiedlich ist die Position, die im gleichen Funktionszusammenhang eingenommen wird – ob als erfolgreiche oder -lose Selbst- oder Fremdverwerter_innen von Arbeitskraft. Die Position und die relative monetäre Verfügungsmasse bestimmt die Größe des Raums der Handlungsmöglichkeiten. Strukturell nahegelegte Handlungsformen determinieren keineswegs das individuelle Tun, doch die Weigerung, sich auf Kosten von anderen zu behaupten, muss man sich auch „leisten“ können. So redet es sich auch leichter von Demonetarisierung mit einem wohlgefüllten Bankkonto im Hintergrund als auf der Rutschbahn von einem Dispokredit zum nächsten.

Dabei ist Demonetarisierung als Befreiungsprojekt gedacht, als allgemeine Befreiung von der Not, sich oder andere verwerten und „zu Geld machen“ zu müssen. Warum rutschen wir trotzdem so oft in die moralische Schlangengrube? Weil heute die Miete bezahlt werden will, so einfach ist das. Die alltägliche Bedrückung lähmt. Umso wichtiger ist es, dass wir dies in unseren Zusammenhängen nicht noch verlängern – ohne der Illusion zu erliegen, wir könnten die Bedrückung interpersonal aufheben. Zwar gibt es Einzelne, die ohne Geld über die Runden kommen, jedoch nur, weil andere dies nicht tun.

Eine weitere Denkfigur ist die der solidarischen Demonetarisierung. Danach sei es möglich, die monetäre Logik durch Entfernung und Ersetzung von Befehlshierarchien in Unternehmen zurückzudrängen. Krönung dieser Idee ist der selbstverwaltete und -geleitete Betrieb, etwa Genossenschaften. Zunächst ist auch hier die Nähe zu neoliberalen Diskursen auffällig, die Schlüsselworte heißen hier Verschlankung, Abflachung der Hierarchien, Verbetriebswirtschaftlichung des Handelns, Eigenverantwortung am Markt usw. Doch wie oben erklärt, gibt es immer Handlungsmöglichkeiten. Man kann sich der Logik des Marktes vollständig unterordnen – darauf zielen die liberalen Ideologeme – oder versuchen, eigene Bedürfnisse gegen die Logik des Marktes zur Geltung zu bringen.

So wäre die Gleichsetzung von solidarischen mit gewöhnlichen Betrieben am Markt verfehlt. Genauso verfehlt ist jedoch die Glorifizierung von solidarischer Ökonomie als dem ganz Anderen. Solange sich Unternehmen am Markt bewegen und dort bewähren müssen, solange also die Warenform die Aktivitäten bestimmt, ist Demonetarisierung eine Illusion. Allenfalls Umverteilung – auch eine mögliche, aber keine grundsätzliche andere Handlung – ist möglich. Daraus kann man, so meine These, die zentrale Bedingung für eine strategisch angelegte Demonetarisierung ableiten: Keine Demonetarisierung ohne Entwarenformung.

Entwarenformung bedeutet, von der Warenform loszukommen. Produkte nehmen dann Warenform an, wenn sie in getrennter Privatproduktion hergestellt und anschließend in der Regel gegen Geld getauscht werden. Die Alternative sind Commons. Produkte nehmen Commonsform an, wenn ihre Herstellung und Nutzung jenseits des Tausches organisiert wird. Statt die Verteilung im Nachhinein über das Geld zu vermitteln, wird sie von vornherein gemäß der Bedürfnisse der Beteiligten verabredet.

Bedeutet diese Forderung aber nicht doch, dass wir bei allen Aktivitäten und Projekten von Geld absehen müssen? Wären wir also wieder in der moralischen Schlangengrube gelandet? Nein, keineswegs. Wie dargestellt entkommen wir der Geldbenutzung vorerst nicht, solange das Warenparadigma dominant ist. Aber es ist ein Unterschied ums Ganze, ob Geld etwa zum Zweck der Umwandlung von Waren in Commons eingesetzt wird oder weiterhin seine Funktion im erweiterten Kreislauf der Verwertung einnimmt. Ob wir also commons-basierte Produktionsstrukturen aufbauen, die eben keine Waren, sondern Commons herstellen und erhalten, die nicht getauscht, sondern nach Verabredung genutzt werden. Und dabei geht es nicht nur um immaterielle Güter wie Software und Wissen, sondern um ganz handfeste Dinge wie Kartoffeln und Maschinen.

Muss ich erwähnen, dass dies ein ungeheuer schwieriger und widersprüchlicher Prozess ist? Dass damit der Kapitalismus nicht hier und heute aufgehoben wird? Wohl kaum. Wenn eine freie Produktionsweise in der Zukunft Waren, Tausch, Geld und Markt nicht mehr kennen soll, dann muss heute begonnen werden, eben jene Produktionsweise aufzubauen – noch unter den alten dominanten monetären Imperativen. Das ist dann tatsächlich Demonetarisierung. Wenn es nötig ist, unter Einsatz von Geld.

Kein Umgang nicht

Streifzüge 54/2012
Homestory

von Severin Heilmann

Den ersten erinnerlichen Umgang damit hatte ich in zartem Kindesalter: Zwei Sumsi-Mitarbeiter nahmen die Entleerung eines jeden Büchslein vor und der jeweilige Auswurf am Tisch wurde allseits aufmerksam gemustert und taxiert. Da war es feierlich still. Dass ich nun hingeben musste, was doch als überaus wichtig galt, ging mir nur schwer ein. „Sparen“ heißt das, und irgendwann lernten wir die Lektion alle: Das Weniger heute ist das Mehr von morgen.

Demgemäß machte ich mir, so mit 19, Gedanken über die bevorstehende Pensionierung. Eines Freundes Bekannte hatte scheinbar hilfreiche Interessen: sie vermittelte Lebensversicherungen. Nach dem dritten Beitragsjahr schwächelte mein Sparwillen jedoch – 25 Jahre Laufzeit!?, da sträubte sich der Wirklichkeitssinn: Totalverlust. Der Ruhestand sollte doch schon vorher zu haben sein, nicht erst wenn körperlich eh nichts anderes mehr drin ist!

Die ehebaldige Verrentung im Anschlag, kamen mir sog. Finanzprodukte mit kürzeren Laufzeiten unter, wie sie auch der gut gewandete Bekannte meiner gutgläubigen Mutter im Portfolio hatte. Goldgruber hieß er und sein Name war Programm; allerdings in einem ruinösen Sinne. Nachdem gut die Hälfte in die Grube versenkt war, beschloss ich mit dem verbliebenen ethisch zu investieren; vielleicht, dass die Verluste dann weniger schmerzten! Die 2000er-Krise dezimierte auch diesen Bestand, ethisch korrekt.

Irgendwie war ich der Sache überdrüssig. Ich hatte aufs falsche Pferd gesetzt. Oder viel wahrscheinlicher war ich überhaupt beim falschen Rennen! Einer recht fraglichen Zukunft die Gegenwart so schamlos zu opfern, erschien mir denn zunehmend obszön. Arbeiten wollte ich gern, arbeiten gehen aber nicht. Ich hatte zwar einiges probiert, doch es gefiel nicht recht. Ich mied folglich die Lohnarbeit und sie mich. Wir sind nicht füreinander geschaffen, das war klar. So besann ich mich wieder meiner vorzüglichen Interessen und finde seitdem innerfamiliär Verwendung, auch sonst wo; als so eine Art Hausarchitekt ungefähr; eine Lebensstellung. Der bescheidene Lebensunterhalt speist sich derweil aus der großmütterlichen Privatschatulle, was ihr nicht billig und nur so einigermaßen recht ist.

Die Schmach meiner monetären Unselbstständigkeit tritt zu Tage, sowie die allerorten beliebte Frage ergeht, wovon man denn eigentlich lebe? Na, vom Essen und Trinken, und auch was zum Anziehen braucht der Mensch! Das ist den meisten zu hoch, es wird nachgebohrt. Ich kann auf keine Erwerbstätigkeit verweisen und komme nicht selten in Erklärungsnotstand. Will ich aber erklären – das mit dem Geld, der Arbeit und so – hab ich prompt ein Legitimationsproblem: Man könne leicht herumkritteln, im Elfenbeinturm eines leistungslosen Hinfristens.

Pfiffiger Schluss: Nachdem man mich zum Schwerpunktverantwortlichenstellvertreter der sog. Lustnummer (Streifzüge Nr. 55) berief, beschloss ich nach 35 Jahren strenger Enthaltsamkeit, ein viel versprechendes Feld zu bestellen, namentlich jenes der sexuellen Leidenschaften, um mich doch auch praktisch hierin kundig zu machen. Ein hübsches und kluges Mädchen ward alsdann gefunden und alles ließ sich zunächst recht gut an. Zunächst … denn aus heiterem Himmel wurde mir das Verhältnis aufgekündigt. Ich war bestürzt, wollte wissen, warum um alles in der Welt? Die Antwort ließ warten, war aber von verblüffender Folgerichtigkeit: Ich hätte keinen Job, könne also kein Geld verdienen, wäre also im Falle einer allfälligen Fortpflanzung nicht in der Lage, für den Spross angemessen (monetär) zu sorgen und wäre also kein guter Umgang, ja, auch ein Versager gar. Drum besser gleich einen Schlussstrich ziehen. Seltsam, es ging hier ja überhaupt nicht ums Nicht-Geld-Haben, sondern ums Nicht-Geld-Verdienen-Können, wozu ich tatsächlich, aufgrund meiner hierzu mehrfach geäußerten Ansichten nicht sonderlich befähigt schien. Beherzter Rettungsversuch meinerseits: „Die Prinzen im Märchen haben doch auch allesamt keinen Job.“ Blieb freilich erfolglos … zunächst.

From: streifzuege.orgBy: SeverinComments

Bitcoin – endlich ein faires Geld?

von Junge Linke gegen Kapital und Nation

Bitcoin (BTC) wurde von Satoshi Nakamoto im Jahr 2009 als eine neue elektronische oder besser virtuelle Währung vorgestellt, die ein Äquivalent zum Bargeld im Internet1 sein soll. Anstatt Kreditkarten oder Überweisungen zum Einkaufen im Netz zu benutzen, installiert man eine Software auf seinem Computer, den Bitcoin Client. Dieser erlaubt dann, unter einem Pseudonym Bitcoins an andere Nutzer zu senden, d.h. man gibt die Anzahl an Bitcoins und den Empfänger ein und die Transaktion wird anschließend über ein Peer-to-Peer-Netzwerk2 abgewickelt. Bitcoins können zur Zeit auf ein paar hundert Websites zum Einkaufen verwendet werden, darunter um Währungen, Web Hosting, Web Space, Web Design, DVDs, Kaffee, Kleinanzeigen zu kaufen. Auch kann man dank Bitcoin via Internet an Wikileaks3 spenden oder Glücksspielseiten benutzen, was praktisch sein kann, wenn diese im betreffenden Land verboten sind. Was allerdings Bitcoin zumindest für kurze Zeit große öffentliche Aufmerksamkeit verschaffte, war die Möglichkeit über eine Kleinanzeigenseite namens „Silk-Road“4 verbotene Drogen zu kaufen.

Am 11. Februar 2012 kostete 1 BTC ungefähr $5,85 USD. Insgesamt wurden bis zu diesem Zeitpunkt 8,31 Millionen BTC ausgestellt. An diesem Tag wurden 0,3 Mio. BTC in 8.600 Transaktionen verwendet und circa 800 Bitcoin-Clients waren im Netzwerk angemeldet. Das zeigt, dass es mehr als eine bloße Idee oder nur ein Vorschlag für ein neues Bezahlsystem ist, auch wenn dessen Umfang noch sehr deutlich hinter dem gängiger Währungen zurücksteht.

Es gibt drei Eigenschaften von Bargeld, die Bitcoin versucht nachzuahmen: Anonymität, Unmittelbarkeit und sehr kleine bzw. das Fehlen von Transaktionsgebühren. Diese Eigenschaften hat der aktuelle Onlinehandel mit Kreditkarten oder Bankenüberweisungen nicht. Bitcoin ist Peer-to-Peer in Reinform, genauso wie Bargeld im Gebrauch Peer-to-Peer ist.

Was das Projekt aber tatsächlich so ambitioniert macht, ist der Versuch, eine neue Währung zu etablieren. Bitcoins sollen kein Weg sein, Euros, Dollars oder Pfund zu transferieren, sie sollen selbst als neues Geld verstanden werden. Sie werden als BTC gehandelt und nicht als GBP oder EUR. Vielmehr noch, Bitcoins sind sogar als Geld gedacht, welches auf anderen Prinzipien aufbaut als das heute übliche Geld. Am markantesten fällt das daran auf, dass es keine „vertrauenswürdigen Dritten“ gibt, d.h. es gibt keine Zentralbank. Weiterhin sind Bitcoins auf die Anzahl von 21 Millionen insgesamt beschränkt – mehr Bitcoins soll es nicht geben. Aus diesem Grund spricht diese neue Währung marktradikale Liberale an, die zwar den freien Markt schätzen, dem Staat bzw. dessen Einmischung in den Markt allerdings skeptisch gegenüber stehen.5

Bitcoin ist also der Versuch, etwas Bekanntes, nämlich das Geld, unter einem anderen Ansatz anzugehen und bietet dadurch einen neuen Blick auf diese alltägliche Sache. Es muss durch den Verzicht auf „vertrauenswürdige Dritte“ in seiner Konstruktion einige technische Probleme oder Fragen lösen, damit es als Geld auch wirklich brauchbar ist. Damit verweist Bitcoin mit seinen technischen Probleme auf die Eigenschaften, die eine Gesellschaft hat in der die Wirtschaft über Geld abgewickelt wird.

Unter Verwendung von so wenig Fachjargon wie möglich wollen wir versuchen zu erklären, wie Bitcoin funktioniert und was uns dies Funktionieren über eine Gesellschaft lehrt, in der freier und gleicher Tausch die vorherrschende Form von wirtschaftlicher Interaktion ist. Daraus folgt auch eine Kritik an der Ideologie von marktradikalen Liberalen.
Als erstes kann man von Bitcoin lernen, dass die Beschreibung des freien Marktes von Bitcoin-Anhängern genauso falsch ist, wie die der meisten anderen Leute auch. Die Behauptung nämlich, dass sich im Austausch folgendes ausdrücke:

Gegenseitiger Nutzen, Kooperation und Harmonie
Auf den ersten Blick mag eine Wirtschaft, welche auf freiem und gleichem Austausch beruht, wie eine harmonische Sache erscheinen. Menschen produzieren Dinge in Arbeitsteilung und so erhalten sowohl Kaffeebauer als auch Schuhmacher jeweils Schuhe und Kaffee. Das vermittelnde Element, damit Konsumenten zu diesen beiden Dingen kommen, ist das Geld. Die Arbeit der Produzenten ist zu deren gegenseitigen Nutzen oder auch zum Nutzen der ganzen Gesellschaft. In den Worten eines Bitcoin Anhängers:

„Wenn wir beide eigennützige rationale Wesen sind und wenn ich Dir mein X für Dein Y anbiete und Du diesem Handel zustimmst, dann bewerte ich Dein Y notwendigerweise mehr als mein X und Du bewertest mein X mehr als Dein Y. Mit diesem freiwilligen Handel haben wir beide etwas, dass wir als wertvoller erachten, als das, was wir ursprünglich hatten. Wir sind beide besser dran. Das ist nicht ausbeuterisch, das ist kooperativ.“6

Die Bitcoin-Gemeinschaft stimmt damit dem Konsens der Wirtschaftswissenschaft zu, dass Kooperation Geld richtiggehend benötige:

„Eine Gemeinschaft ist definiert durch die Kooperation ihrer Teilnehmer und effiziente Kooperation benötigt ein Mittel des Tausches (Geld)…“7
Sie stimmen also mit modernen Ökonomen darin überein, dass freier und gleicher Austausch Kooperation bedeutet und Geld ein Mittel ist, um beidseitigen Vorteil zu ermöglichen. Sie malen eine Idylle des freien Marktes, dessen negative Eigenschaften dem (wie sie meinen: falschem) Eingreifen des Staates zugeschrieben werden; manchmal auch den Banken und deren Monopolstellung8.

Bargeld
Einer dieser Eingriffe des Staates ist die Bereitstellung von Geld und dagegen richtet sich Bitcoin ja auch. Denn Bitcoin basiert darauf, keine „vertrauenswürdigen Dritten“ zu benötigen und damit keinen Staat, der Geld herausgibt und dieses verwaltet. Stattdessen ist Bitcoin nicht nur Peer-to-Peer in seinem Umgang mit Geld, sondern auch in dessen Aufrechterhaltung und Erzeugung: Ganz so, als ob es keine Europäische Zentralbank gäbe und alle Menschen in der deutschen Wirtschaft gemeinschaftlich Geld drucken und sich ebenso gemeinschaftlich um dessen Verbreitung kümmern würden. Um dies zu bewerkstelligen, müssen einige technische Hürden überwunden werden. Manche sind trivial, andere nicht. Zum Beispiel muss Geld teilbar sein, also zwei Fünfeuronoten müssen das Gleiche sein wie eine Zehneuronote und jeder gleichwertige Teil eines Geldes muss genauso gut sein wie ein anderer, so dass es keinen Unterschied macht, welchen Zehneuroschein ich nun in der Hand halte. Diese Eigenschaft lässt sich recht einfach erreichen, wenn man Zahlen auf Computern als Geld hat.

Jedoch sind die zwei folgenden Eigenschaften des Geldes nicht ganz so einfach zu bewerkstelligen:

Digitale Signaturen: Garantien wechselseitigen Schadens
Wenn man mit physischem Geld hantiert, also Bargeld, ist der Eigentumswechsel offensichtlich. Wenn zum Beispiel Anna einen Zehneuroschein an Bernd gibt, dann hat Bernd den Schein und nicht Anna. Nach einem Austausch (oder auch Raub) ist es offensichtlich, wer das Geld hat und wer nicht. Es gibt für Anna nach dem Bezahlen keine Möglichkeit zu behaupten, sie hätte Bernd das Geld nicht gegeben, weil sie es nunmal getan hat. Umgekehrt kann aber Bernd vor dem Händewechsel den Geldschein nicht einfach in seine Tasche stecken ohne Annas Zustimmung, außer natürlich mit Gewalt. Letzteres soll durch das Gewaltmonopol des Staates verhindert werden. Wenn man seine Zahlungen über Banken abwickelt, ist es die Bank, welche dieses Verhältnis durchsetzt, in letzter Instanz aber auch wieder die Polizei.

Online in einem Peer-to-Peer-Netzwerk ist das natürlich nicht so einfach. Eine Banknote ist nun durch nichts anderes repräsentiert als durch eine Nummer oder eine Zeichenkette. Nehmen wir mal an, 0xABCD sei eine 1 BTC Note9. Man kann diese Zeichenkette ganz einfach kopieren. Es gibt erst einmal keine Möglichkeit nachzuweisen, dass jemand diese Zeichenkette nicht irgendwo gespeichert hat und weiter benutzt oder anders herum, dass jemand diese vielleicht auch gar nicht mehr besitzt, sie mir aber als Bezahlung weiterreicht. Weiterhin kann Bernd die Banknote (hier ausgedrückt durch diese Zeichenkette) von Anna einfach kopieren, wenn er sie gesehen hat. Der Eigentumswechsel ist also schwierig: Wie kann man sicherstellen, dass Anna Bernd den Bitcoin wirklich gezahlt hat?10

Damit hat man das erste Problem an der Hand, welches virtuelle Währungen und somit auch Bitcoin lösen müssen.

Um zu beweisen, dass Anna wirklich die Zeichenkette 0xABCD an Bernd übergeben hat, unterzeichnet sie digital einen Vertrag. Dieser gibt an, dass die Zeichenkette nicht mehr ihr selbst, sondern ab jetzt Bernd gehört. Eine digitale Signatur ist auch nichts anderes als eine weitere Zeichenkette oder eine große Zahl. Jedoch hat dieser spezielle kryptografische und mathematische Eigenschaften, die sie – soweit man weiß – unfälschbar machen. Also ähnlich wie Menschen normalerweise Eigentum übertragen, zum Beispiel den Titel auf ein Grundstück durch die Unterzeichnung eines Vertrages verschriftlichen, wird das Eigentum am Geld im Bitcoin-Netzwerk auch über Unterschriften unter Verträgen transferiert. Nur eben digital. Die Zeichenkette. die unsere Geldnote darstellen sollte, an sich zählt nicht. Nur der Vertrag, der anzeigt wer die Note gerade besitzt macht sie gültig. Dieses Verfahren der digitalen Unterschriften ist inzwischen so weit verbreitet, das es kaum Beachtung erfährt, nicht mal im Designdokument von Bitcoin selbst.11

Die Frage nach dem Eigentum an Bitcoins zeigt aber schon ein Problem mit dem idyllischen Bild auf, welches Menschen von der Wirtschaft mit und ohne Bitcoins haben. Es zeigt, dass es bei einem Geschäft mit Bitcoins – oder allgemeiner: bei jeglicher Art von Tausch – eben nicht damit getan ist, dass Anna, die Kaffee macht, aber Schuhe haben möchte, die wiederum Bernd hergestellt hat. Wenn es nämlich wirklich so einfach wäre, würden sie sich einigen, wie viel Kaffee und Schuhe sie benötigen und würden dies dem jeweils anderen einfach zur Verfügung stellen und jeder könnte glücklich werden mit Kaffee und Schuhen.

Stattdessen aber tauscht Anna ihre Dinge gegen die von Bernd – über das Geld vermittelt. Sie benutzt also ihren Kaffee als einen Hebel, um an Bernds Dinge zu kommen. Ihre Waren sind ihre jeweiligen Mittel, um an die Produkte zu gelangen, die sie konsumieren möchten oder müssen. Sie erzeugen also ihre Produkte nicht für ihr eigenes Bedürfnis und auch nicht direkt für das eines anderen. Vielmehr verkaufen sie ihre Produkte, damit sie sich dann das kaufen können, was sie tatsächlich brauchen. Bernd benutzt also Annas Abhängigkeit von Schuhen, um an ihr Geld zu gelangen und Anna macht das umgekehrt mit Bernd. Daraus ergibt sich, dass man dem jeweils anderen so viel seiner Mittel wie möglich versucht abzunehmen – was ich nicht unmittelbar brauche, ist für mich immer noch Material für künftige Tauschgeschäfte. Gleichzeitig möchte man so viel der eigenen Mittel behalten möchte wie möglich: billig kaufen, teuer verkaufen.

In anderen Worten ausgedrückt. Dies ist keine harmonische Arbeitsteilung für den gemeinschaftlichen Nutzen. Es wird eher versucht im Austausch einen Vorteil zu erlangen, weil man es eben muss. Mehr noch, der Vorteil der einen ist gleichzeitig der Nachteil des anderen. Ein geringer Preis für Bernds Schuhe bedeutet nämlich weniger Geld für Bernd und mehr Geld für Anna, welches sie noch für andere Sachen ausgeben kann. Das Geld löst diesen Interessenkonflikt nicht, es vermittelt ihn. Damit ist es übrigens auch nicht der Grund für den Konflikt. Der ist im Tausch selbst schon angelegt. Die Tauschenden müssen zu einer Einigung kommen, was aber nicht bedeutet, dass sie nicht lieber einfach das nehmen würden, was sie brauchen.

Dieses gesellschaftliche Verhältnis gibt also Gründe ab zum Betrügen, Rauben und Stehlen. Unter diesen Umständen ist es schon sehr notwendig zu wissen, wer den Zehneuroschein besitzt und wer nicht, weil es eben darum geht, ob man das bekommt, was man braucht oder nicht.

Diese systematisch und damit dauernd auftretenden Situationen, in denen des einen Vorteil des anderen Nachteil ist, verlangen nach einem Gewaltmonopol des Staates. Der Tausch als das zentrale Mittel wirtschaftlicher Interaktion ist auf breiter Basis überhaupt nur möglich, wenn die Tauschpartner sich darauf beschränken: auf den ausgemachten Tausch. Nähmen sie sich einfach mit Gewalt, was sie wollten, würde das Tauschprinzip nicht mehr funktionieren. Die marktradikalen Liberalen hinter Bitcoin mögen staatliche Einmischung verabscheuen, ihre Wirtschaft jedoch setzt sie voraus.

Wei Dai beschreibt die Online-Gemeinschaft als
„eine Gemeinschaft, in der die Angst vor Gewalt machtlos ist, da Gewalt unmöglich ist und Gewalt unmöglich ist, weil ihre Teilnehmer nicht mit ihren Realnamen oder ihrem Aufenthaltsort in Verbindung gebracht werden können“.

Er erkennt damit nicht nur an, dass die Menschen in der virtuellen Wirtschaft durchaus Gründe haben sich gegenseitig zu schaden, sondern auch, dass diese Wirtschaft nur ohne direkte Gewalt der Teilnehmer läuft, weil Menschen gar nicht richtig miteinander in Kontakt treten. Durch die Staatsgewalt in der physischen Welt geschützt, können sie im eingeschränkten Bereich des Internets miteinander in Kontakt treten, ohne Angst vor Gewalt haben zu müssen.

Online oder offline, es sind ganz schön umfangreiche Sicherheitsmaßnahmen nötig, um diesen Laden am Laufen zu halten. Bei Bitcoin sind es die „unknackbaren“ digitalen Signaturen, offline hingegen kümmert sich der Staat mit seiner Strafverfolgung z.B. darum, Dieben das Handwerk zu legen. Und das alles, um eine so einfache Transaktion wie den Transfer von Gütern vom Produzenten zum Verbraucher zu sichern. Das verweist auf einen grundsätzlichen Interessenkonflikt zwischen den beteiligten Tauschparteien. Wenn das liberale Bild des freien Marktes als eine harmonische Kooperation zum Nutzen aller wahr wäre, bräuchte man keine fälschungssicheren Signaturen. Die Bitcoin-Konstruktion, also das marktradikale Projekt einer Alternative zum Status Quo zeigt, dass diese Theorie falsch ist.

Man könnte dagegen einwenden, dass es nun einmal immer schwarze Schafe gäbe, die sich an der gesellschaftlichen Harmonie versündigen würden. Dann würde sich allerdings die Frage stellen, in welchem Verhältnis Aufwand (Polizei, digitale Signaturen, etc.) und Nutzen (ein paar schwarze Schafe) stehen. Der Aufwand, mit dem diese schwarzen Schafe in die Schranken gewiesen werden sollen, zeigt ziemlich anschaulich, dass man davon ausgeht, dass es ganz schön viele wären, gäbe es diese Schranken nicht. Dem mögen manche prinzipieller entgegenhalten, dass die Menschen nun mal so seien, es läge quasi in unserer Natur. Damit hat man aber erstens schon mal den Punkt eingesehen, dass es mit der Harmonie hier nicht so weit her ist. Zweitens ist der Satz „es ist halt so“ keine Erklärung, auch wenn er so daher kommt; zu den Gründen, warum Leute so aufeinander losgehen, wie sie hierzulande aufeinander losgehen, stehen oben ein paar Argumente.

Kaufkraft
Mit digitalen Unterschriften hat man erst einmal nur die Seite des Geldes am Wickel, welche die Beziehung zwischen Anna und Bernd betrifft. Aber wenn es um Geld geht, ist auch Annas Beziehung zum Rest der Gesellschaft wichtig. Die Frage ist nämlich, wie viel Kaufkraft Anna insgesamt hat. Physisches Geld, also eine Banknote, kann Anna nicht verwenden, um zwei verschiedene Leute auf einmal zu bezahlen. Mehrfachausgeben desselben Geldscheins gibt es nicht. Ihre Kaufkraft ist auf das beschränkt, was sie an Geld besitzt.

Wenn es nun aber um virtuelle Währungen geht, die mit digitalen Unterschriften gesichert sind, hält jedoch Anna erst mal nichts davon ab, viele Verträge auf einmal zu unterschreiben, um ihr Eigentum mehrfach zu übertragen. Sie kann das, weil sie selbst es ist, die unterschreibt. In diesem Fall würde sie Verträge unterschreiben, die besagen, dass 0xABCD nun gleichzeitig Bernd, Christian, Eva und so weiter gehören.

Der zentrale technische Durchbruch von Bitcoin ist, dieses Problem des Mehrfachausgebens gelöst zu haben – und zwar ohne eine Zentralbehörde zu brauchen. Das ist ein Fortschritt gegenüber allen früheren Ansätzen für digitales Geld, die auf irgendeiner Art von Zentralstelle aufbauten. Diese stellte sicher, dass Anna ihr Geld nicht mehr als einmal ausgeben kann, indem alle Transaktionen über diese Zentralstelle abwickelt werden.

Das Problem wird im Bitcoin-Netzwerk dadurch gelöst, dass alle Transaktionen öffentlich sind. Also anstatt Annas Vertrag einfach an Bernd zu schicken, wird dieser von Annas Software im Netzwerk veröffentlicht. Anschließend unterschreibt die Software eines anderen Teilnehmers im Netzwerk dass sie diesen Vertrag gesehen hat. Jemand fungiert bei dieser Unterschrift also als Notar, unterschreibt die Unterschrift von Anna und bezeugt damit die Transaktion. Ehrliche Zeugen unterschreiben nur das erstmalige Ausgeben eines Bitcoins und verweigern ihre Unterschrift bei weiteren Versuchen derselben Person, denselben Bitcoin gegen die Regeln noch einmal ausgeben zu wollen. Sie bestätigen, dass Anna das Geld, welches sie ausgibt, auch tatsächlich besitzt. Die Unterschrift dieses Zeugen wird auch wieder veröffentlicht. All diese eben beschriebenen Vorgänge werden von der Software übrigens im Hintergrund automatisch erledigt.

Allerdings könnte sich Anna einfach mit Christian zusammentun und ihn bitten, all ihre Verträge zu unterschreiben, egal ob sie ihr Geld mehrfach ausgibt. Sie würde damit also ein falsches Zeugnis von einem unehrlichen Zeugen bekommen. Dies wird im Bitcoin-Netzwerk dadurch verhindert, dass ein Zeuge zufällig für alle Transaktion zu einem bestimmten Zeitpunkt gewählt wird. Also kann sich Anna gar keinen Zeugen aussuchen. Diese zufällige Auswahl wird als eine Art Lotterie organisiert. Die Teilnehmer konkurrieren um das Recht, Zeuge für den aktuellen Zeitraum zu werden. Als Einsatz müssen sie dafür Rechenzeit auf ihren Computern zur Verfügung stellen. Diese wird dazu verwendet, Lösungen für ein mathematisches Rätsel zu finden. Dieses Rätsel ist so konstruiert, dass es die beste Strategie ist, zufällige Lösungen auszuprobieren. Wendet man dafür mehr Rechenzeit auf, erhöht man seine Chance, ausgewählt zu werden. Um jedoch eine ordentliche Wahrscheinlichkeit zu haben als Zeuge ausgewählt zu werden und zu gewinnen, bräuchte man so viel Rechenzeit, wie ungefähr der Rest des Bitcoin-Netzwerks zusammen.

Eine Nebenwirkung von diesem Ansatz ist natürlich, dass viele Computer im Bitcoin-Netzwerk Rechenzeit für das Lösen dieser Aufgaben verschwenden, nur um die Lotterie zu gewinnen. Wie dem auch sei, Anna und Christian müssten erhebliche Rechenzeit aufwenden, um diese Lotterie zu gewinnen. Zu viel, als dass es sich lohnen würde – zumindest ist das die Hoffnung. Betrug in diesem Sinne ist somit unwahrscheinlich, weil ehrliche, nämlich zufällig ausgewählte, Zeugen Fälschungen zurückweisen werden.

Falschgeld
Was aber ist nun eigentlich Falschgeld und warum ist das eigentlich so schlimm? So schlimm, dass erheblicher Aufwand dafür betrieben und Rechenzeit verschwendet wird, um sein Aufkommen zu verhindern? Unmittelbar verhält sich Falschgeld nicht viel anders als echtes Geld: Man kann damit Dinge kaufen und Rechnungen bezahlen. Das ist ja genau das Problem. Es ist erst einmal von echtem Geld nicht zu unterscheiden, andernfalls würden Leute es ja auch nicht akzeptieren. Mit normalem Geld und Falschgeld zusammen steht allerdings mehr Geld derselben Warenmenge gegenüber, der Wert des Geldes könnte also sinken.

Was ist also dieser Wert des Geldes? Was bedeutet es, dass Geld Wert hat? Es bedeutet Kaufkraft zu haben und damit Zugriffsmacht auf den gesellschaftlichen Reichtum. Erinnern wir uns, dass Anna und Bernd beide ihr mehr oder weniger armseliges Eigentum haben. Wollen sie was damit anfangen, treten in ein Tauschverhältnis zueinander; sie geben ihre Dinge nicht einfach her, nur weil jemand anders sie braucht. Sie bestehen auf ihrem Recht, über ihr eigenes privates Eigentum zu verfügen. Unter diesen Umständen nun ist Geld die einzige Möglichkeit, um an des anderen Dinge zu kommen. Geld „überzeugt“ die andere Seite, dieser Transaktion zuzustimmen. Zugriff auf Privateigentum eines anderen zu erlangen, ist auf der Basis von staatlicher Privateigentumsgarantie nur möglich, indem man sein eigenes zum Tausch anbietet. Auf wie viel Reichtum jemand in der Gesellschaft zugreifen kann, wird dabei in Geld gezählt. Damit wird Privateigentum als solches gemessen. Es wird darin ausgedrückt, von wie viel Reichtum als solchem jemand Gebrauch machen kann. Also nicht nur Kaffee oder Schuhe, sondern Kaffee, Schuhe, Gebäude, Dienstleistungen, Arbeitskraft, fast alles. Auf der anderen Seite wird in Geld aber auch angegeben, wie viel Reichtum mein Kaffee wert ist. Kaffee ist nicht nur Kaffee, sondern ein Mittel Zugang zu all den anderen Waren auf dem Markt zu bekommen. Er wird gegen Geld eingetauscht, so dass man damit Sachen kaufen kann. Der Preis von Kaffee drückt aus, auf wie viel Kram ganz generell – und eben nicht nur Kaffee – man zugreifen kann. Ganz klar, dass unter diesen sozialen Umständen, also dem freien und gleichen Tausch, diejenigen, die nichts haben, auch nichts bekommen. Alles in allem zeigt das Geld auf meinem Konto an, wie viel ich mir leisten kann – also die Grenze meiner Zugriffsmacht. Denn es zeigt nicht nur an, was ich mit leisten kann, sondern auch, was jenseits der Macht in meinem Geldbeutel liegt. Anders ausgedrückt: von wie viel Reichtum ich ausgeschlossen bin.

Geld ist Macht, die man in seiner Tasche tragen kann. Es drückt aus, wie viel Kontrolle über Land, Menschen, Maschinen, Produkte usw. ich habe. Daher macht eine Fälschung den Zweck des Geldes zunichte. Es verwandelt diese Grenze, diese Größe in eine unendliche Anzahl von Möglichkeiten. Alles ist im Prinzip verfügbar – und zwar nur, weil ich es will. Wenn jeder unendliche Macht hätte, verlöre Macht ihre Bedeutung. Es würde nicht zahlungskräftige Nachfrage zählen, sondern einfach die Tatsache, dass Bedarf besteht.

Zusammengefasst ist Geld ein Ausdruck von bestimmten sozialen Verhältnissen und nicht von Kooperation ganz generell. Solche sozialen Verhältnisse nämlich, in denen Privateigentum die Bedürfnisse von den Mitteln ihrer Befriedigung trennt. Damit Geld diese Qualität des Privateigentums vermitteln kann, ist es zwingend erforderlich, dass ich nur das ausgeben kann, was ich auch besitze. Diese Qualität und die damit einhergehende Ignoranz und Brutalität gegenüber den Bedürfnissen muss gewaltsam von Staat und Polizei durchgesetzt werden. Im Internet, wo es schwierig ist, jemandes habhaft zu werden, wird dies durch ein sorgfältig ausgearbeitetes Protokoll von Zeugen, Zufälligkeit und schweren mathematischen Problemen gelöst.

Der Wert von Geld
Es bleiben zwei Probleme übrig:

1.Wie kommt neues Bitcoin Geld in die Welt (bis jetzt haben wir ja nur den Transfer behandelt)?

2.Wie werden die Teilnehmer überzeugt Rechenzeit aufzuwenden um Transaktionszeuge zu werden?

Letzteres Problem wird im Bitcoin-Protokoll durch das Erste gelöst. Um die Teilnehmer nämlich dazu zu bewegen, Rechenzeit zur Überprüfung von Transaktionen bereitzustellen, werden diese mit einer bestimmten Anzahl an Bitcoins belohnt, wenn sie als Zeuge gezogen werden. Momentan bekommen sie jedes Mal, wenn sie gezogen werden, 50 BTC und darüber hinaus noch Transaktionsgebühren für jedes Geschäft, dass sie bezeugen. Das ist die Antwort auf die Frage, wie neue Bitcoins erzeugt werden: Sie werden „abgebaut“, wie das Lotteriegewinnen im Bitcoin-Netzwerk heißt.

Im Bitcoin-Netzwerk „fällt“ das Geld also „einfach vom Himmel“, indem Computer ziemlich sinnlose mathematische Rätsel lösen. Entscheidend ist, dass sich das mathematische Rätsel nur mit erheblichem Aufwand lösen lässt. Worauf es letztendlich ankommt, wenn es darum geht, ob Bitcoin als Geld zählt: Händler müssen sich auf Bitcoin als Geld beziehen und es auch so benutzen. Wie es auf die Welt kam, ist dabei zweitrangig.12

Fazit
Ein systematischer Gegensatz von Interessen, der resultierende Ausschluss vom Reichtum, die Unterwerfung von allem unter das kapitalistische Wachstum – so sieht eine Gesellschaft aus, in der Tausch, Geld und Privateigentum die Produktion und den Konsum bestimmen. Das ändert sich auch nicht, wenn dieses Geld seine Substanz in Gold oder Bitcoins statt in Geldscheinen und herkömmlichen Währungen. Armut hat ihren systematischen Grund in Tausch, Geld und Wirtschaftswachstum überhaupt. Das mag die marktradikalen Liberalen nicht stören, aber das sollte durchaus auf Kritik von Linken stoßen, die sich zum Teil auch für Bitcoin begeistern.

 

Fußnoten:

1) Das zentrale Dokument über Bitcoin, in dem die Idee dieser digitalen Währung beschrieben wird, ist „Bitcoin: A Peer-to-Peer Electronic Cash System“ von Satoshi Nakamoto. Einige Details des Netzwerks sind jedoch nirgends in der Literatur explizit beschrieben, sondern nur im offiziellen Bitcoin-Client eingebaut. So weit wir wissen, gibt es keine offizielle Spezifikation außer: https://en.bitcoin.it/wiki/Protocol_specification
2) Als Peer-to-peer-Netzwerk wird ein Netzwerk bezeichnet, in dem die Teilnehmer sich direkt verbinden ohne die Notwendigkeit zentraler Server (wobei einige Funktionen dennoch einen Server benötigen können). Berühmte Beispiele einer solchen Technik sind Napster, BitTorrent oder auch Skype.
3) Vermutlich auf Druck der US-Regierung haben alle großen Online-Bezahlsysteme die Zahlungen an Wikileaks eingestellt (http://www.bbc.co.uk/news/business-11938320). Auch das Benutzen von Kreditkarten für Online-Spielplattformen ist meist von deren Herausgebern verboten.
4) Nach der Veröffentlichung eines Artikels auf einer amerikanischen Newsplattform (http://gawker.com/5805928/the-underground-website-where-you-can-buy-any-drug-imaginable) wurden zwei US-Senatoren darauf aufmerksam und baten den Kongress die Seite abzuschalten. Bis jetzt scheinen allerdings scheinen diese Versuche nicht wirklich erfolgreich gewesen zu sein.
5) Eine Strömung, die vor allem in den USA Anhänger findet, wo sie als „Libertarians“ bekannt sind. Im deutschsprachigen Raum sind solche Ideen vor allem in der Hacktivism-Szene verbreitet.
6) Übersetzt von (https://forum.bitcoin.org/index.php?topic=5643.0;all): „If we’re both self-interested rational creatures and if I offer you my X for your Y and you accept the trade then, necessarily, I value your Y more than my X and you value my X more than your Y. By voluntarily trading we each come away with something we find more valuable, at that time, than what we originally had. We are both better off. That’s not exploitative. That’s cooperative.”
7) Übersetzt von: “A community is defined by the cooperation of its participants, and efficient cooperation requires a medium of exchange (money)…” Wei Dai, „bmoney.txt“(http://weidai.com/bmoney.txt). In diesem Text wird die grundsätzliche Idee, auf der Satoshi Nakamoto’s Bitcoin-Protokoll aufbaut, zum ersten Mal beschrieben.
8) „The real problem with Bitcoin is not that it will enable people to avoid taxes or launder money, but that it threatens the elites’ stranglehold on the creation and distribution of money. If people start using Bitcoin, it will become obvious to them how much their wage is going down every year and how much of their savings is being stolen from them to line the pockets of banksters and politicians and keep them in power by paying off with bread and circuses those who would otherwise take to the streets.“  (http://undergroundeconomist.com/post/6112579823)
9) Wir sind uns bewusst, dass Bitcoin durch nichts anderes als durch die Liste der Transaktionen repräsentiert wird. Zur einfacheren Präsentation hier nehmen wir aber einfach an, dass es so ein eindeutiges Merkmal gibt wie die Seriennummer auf einem Euroschein.
10) „Commerce on the Internet has come to rely almost exclusively on financial institutions serving as trusted third parties to process electronic payments. […] Completely non-reversible transactions are not really possible, since financial institutions cannot avoid mediating disputes. […] With the possibility of reversal, the need for trust spreads. Merchants must be wary of their customers, hassling them for more information than they would otherwise need. A certain percentage of fraud is accepted as unavoidable. These costs and payment uncertainties can be avoided in person by using physical currency, but no mechanism exists to make payments over a communications channel without a trusted party.” Satoshi Nakomoto, „Bitcoin: A Peer-to-Peer Electronic Cash System“, 2009.
11) Für eine Einführung in das Thema kryptografisches Geld siehe Burton Rosenberg (Ed.), „Handbook of Financial Cryptography and Security“, 2011.
12) Manchen, die „Das Kapital“ von Marx gelesen haben, könnte jetzt einfallen, dass dies implizieren würde, das Bitcoin auf einem Wertkonzept aufbaue, dessen Substanz nicht vergegenständlichte abstrakt menschliche Arbeit sei. Viel eher würde es auf dem Wert von abstrakter Computerarbeit oder etwas ganz anderem beruhen. Dieser Einwand beruht jedoch auf einem Missverständnis. Mit Rechenzeit verdient man, wenn man Glück hat, 50 BTC. Dies ist jedoch nur eine bedeutungslose Nummer. Was man mit 50 BTC anstellen kann, wie viel Verfügungsmacht oder Befehlsgewalt über sozialen Reichtum diese repräsentieren, ist eine ganz andere Sache. 50 BTC haben Wert, weil sie auf gesellschaftlichen Reichtum zugreifen und nicht, weil ein Computer zufällig die richtige Nummer ausgewählt hat. Für die Wertbestimmung ist es nicht zuerst wichtig, wie das Geld in die Gesellschaft kommt, sondern als was es in dieser gilt.

Weg mit dem Handel

Streifzüge 54/2012

von Bernd Mullet

Jahrhunderte lang haben Geld und Handel das gesellschaftliche Leben der Menschheit geprägt. Doch heute stehen diese beiden Dinge der weiteren Entwicklung dieser Spezies mehr den je im Weg, bewirken mehr Negatives als Positives. Eine Gesellschaft ohne diese beiden Elemente zu denken scheint selbst den revolutionärsten Kräften zu unrealistisch, zu radikal – oder auch nur zu einfach.

Kunden fischen

Es ist vier Uhr früh. Für unzählige andere, genauso wie für mich, die Zeit, zu welcher der Tag beginnt. Mühsam quäle ich mich aus dem warmen, weichen Bett in die harte, kalte Wirklichkeit. Duschen, Frühstück und dann raus aus der Wohnung. Ein roter Schimmer am Horizont ziert die Dämmerung, die meinen Weg zur Arbeit begleitet. Ich denke daran, was uns in der Schulzeit alles über die Arbeit so erzählt wurde: von Selbstverwirklichung war da die Rede. Doch meine Arbeit dient hauptsächlich zum Selbsterhalt. Dazu reicht es eben gerade noch. „Meine Arbeit soll mir durch das Einkommen Freiräume bieten“ – doch der Freiraum, den mir mein Einkommen bietet ist gerade mal der, meine Arbeitskraft zu erhalten. Es reicht für Lebensmittel, die Miete, ab und zu ein bisschen Kleidung. Was man halt so braucht.

Und doch sehe ich die Lichter der Stadt funkeln und blinken, in beleuchteten Schaufenstern, in Leuchtschriften und großformatigen, leuchtenden Plakaten, auf denen mich junge Frauen mit perfektem, softwaregestyltem Körper und dem typischen Adobe-Hautglanz anlächeln. Sie wollen alle, deren Blick sie streift, zum Kaufen verführen, zum Geld-Ausgeben. Aus der Auslage eines Mobilnetz-Betreibers glänzen mir die neuesten Handys entgegen. Natürlich habe ich schon eines, mit dem ich durchaus zufrieden bin. Aber mit dieser Zufriedenheit machen weder der Betreiber des Ladens noch die Handy-Hersteller einen Gewinn. Ich könnte hundert Handys besitzen, so würden sie dennoch versuchen mir ein weiteres zu verkaufen. Denn nur aus dem Verkauf, nur aus einem Vertragsgeschäft mit mir, erzielen sie den Gewinn. Mit diesem Gewinn würden sie, käme es dazu, neue Geräte zum erneuten Verkauf bestellen, ihre Mitarbeiter und die Miete für den Laden bezahlen, und natürlich ihren vermeintlichen Reichtum weiter steigern, ihr Kapital vermehren. Lediglich der Mobilfunkbetreiber würde sich freuen, wenn ich mehr telefoniere. Aber ich möchte nicht nur mein Handy sondern auch mein Geld behalten.

Es ist schon sonderbar, dass diese Menschen, die mir das alles verkaufen möchten, einfach davon ausgehen, dass ich und all die anderen um mich herum, Geld haben. Genug Geld, um alle die Dinge kaufen und ihre Preise bezahlen zu können. Als läge es nur an meiner Entscheidung, mich für den Kauf der einen oder anderen Sache zu entschließen.

Arbeit

Der Himmel ist ein Stück heller geworden, doch am Zenit funkeln noch ein paar Sterne. Ich fahre weiter zur Arbeit, damit ich mir die Dinge leisten kann, die ich brauche, nur um leben, besser; überleben zu können, eine Wohnung zu haben und ein paar Klamotten. Damit ich mir diese Dinge kaufen kann, brauche ich ein Einkommen. Und ich gehe arbeiten, damit ich ein Einkommen habe und mir diese Dinge kaufen kann. Ich muss also meine Arbeitskraft verkaufen, mit ihr Handel treiben, damit ich mit dem erhaltenen Geld wieder Handel treiben kann, um meine Arbeitskraft zu erhalten, die ich dann wieder verkaufen muss, um sie erhalten zu können. Der Erhalt meiner Arbeitskraft ist also der Sinn meines Lebens, Sinn und Zweck meines Daseins. Der Verkauf meiner Arbeitskraft, um Lohn zu erhalten, mit dem ich mich selbst, meine Arbeitskraft erhalte, die ich dann wieder verkaufe, um mich erhalten zu können. Welche Selbstentfaltung! Ich kaufe um zu verkaufen, aber der Wert meiner Arbeit reicht nicht aus, um daraus Kapital zu schlagen.

Dass es anderen genauso geht ist kein Trost, es stimmt mich eher traurig. Auch sie gehen arbeiten, um ihren Lebensunterhalt bezahlen zu können. Klar, mein Vermieter verlangt das Geld ja nicht einfach so aus purer Bosheit, auch er muss seine Kosten tragen. Auch er hat Handelsgeschäfte abgeschlossen und muss, wie mit seinen Geschäftspartnern abgesprochen, Geld als Gegenleistungen erbringen, also für Energie, Wasser, Lebensmittel, Kleidung und Steuernbezahlen; also weitere Handelsgeschäfte, die er mit der von mir gezahlten Miete durchführen kann. Genauso die Bäckereiverkäuferin, bei der mein Vermieter seine Brötchen holt, und deren Chef, der Filialleiter des Supermarktes, in dem ich einkaufe. Wir alle sind in einem Netz von Handelsgeschäften miteinander verbunden und so zwangsweise auf eine Art von einander abhängig, die wir eigentlich gar nicht wollen, bei der es keinem von uns auf Dauer besser geht. Sogar immer schlechter, wenn man den permanent steigenden Arbeitsdruck und die genauso permanent sinkenden Reallöhne mitberücksichtigt. Wir alle treiben also Handel, um Handel treiben zu können, um zu überleben. Klasse!

Abhängigkeit

Den Chef des Supermarktes interessiert mein Wohlergehen eigentlich nicht. Vor allem deshalb, weil wir uns persönlich nicht näher kennen. Was ihn an mir als Kunden, als Käufer interessiert, ist, dass ich möglichst viel bei ihm kaufe. Je mehr ich bei ihm kaufe, desto höher ist sein Umsatz. Einen höheren Lohn erhält er eventuell, wenn er an Umsatz oder Gewinn beteiligt ist – eher unwahrscheinlich. Aber er und sein Chef sehen es als Bestätigung, dass ersterer seine Arbeit gut macht. Es gilt als Erfolg, wenn er den Umsatz permanent steigert. Permanentes Wachstum – das Prinzip des Kapitalismus. Damit sichert er sich auch seinen Arbeitsplatz. Ob er diesen Job gerne tut? Seiner Laune nach zu urteilen, die ich öfter in seiner Mimik und Gestik lese, eher weniger. Der jahrelange Umgang mit teilweise nervenden, besserwissenden und überklugen Kunden hat auch bei ihm Spuren im Gemüt hinterlassen. Aber letztlich interessiert das nicht. Ihn interessiert, dass er einen Job hat, mit und von dem er leben kann. Und in diesem Job hat ihn nur der Umsatz zu interessieren und wie er diesen Jahr für Jahr steigern kann. Seinen Chef interessiert, dass er gut arbeitet, damit auch er und seine Chefs leben können und so weiter in der Hierarchie.

Würde ich nicht arbeiten gehen, hätte ich kein Einkommen. Ich wäre nicht mehr lebensfähig. Andere sind davon abhängig, dass ich mein Einkommen ausgebe. Das tue ich eben, wenn ich einkaufen gehe. Einkommen erhalten wir, wenn wir etwas verkaufen, entweder Arbeitskraft oder andere Waren. Wenn ich kein Einkommen mehr habe, kann ich bald nichts mehr ausgeben. Wenn vielen das Einkommen fehlt und keiner mehr kaufen kann, sinkt die Konjunktur, die „Wirtschaft“. Wenn dann die Händler weiter auf das System von „Leistung für Gegenleistung“ bestehen, geraten Menschen in Not. Unsere Lebensfähigkeit in einem auf Geld und Handel basierenden Gesellschaftssystem hängt also unmittelbar von dem Vorhandensein eines Einkommens ab. Denn nur wer Geld hat, kann kaufen.

Geld im Getriebe

Inzwischen verlaufen die Farben des Himmels von dunkelblau, direkt über mir, bis türkis, nahe am Horizont. Sämtliche Sterne werden bereits vom Licht des bevorstehenden Sonnenaufgangs überstrahlt. Sie selbst fehlt noch, doch es scheint ein wunderschöner, heißer Sommertag zu werden. An einer Kreuzung sehe ich, wie ein Zeitungsverkäufer gerade seine Arbeit tut. Ob sich er oder sein Kunde darüber bewusst sind, was sie gerade gemacht haben? Welche Tragweite dieser unscheinbare Vorgang hatte? Der Kauf der Zeitung war ein mündlicher Vertrag, bei dem vereinbart wurde, dass der Zeitungsverkäufer eine Zeitung gibt und dafür Geld bekommt. Auf der anderen Seite, dass der Käufer Geld gibt und dafür eine Zeitung bekommt. Ebenfalls wurde vereinbart, dass die Zahlung sofort zu erfolgen hat und die Ware, die Zeitung, auch gleich zu liefern bzw. zu übergeben ist. Beide waren mit der jeweiligen Gegenleistung und den Bedingungen einverstanden und es kam zum Leistungstausch. Ich weiß, dass ich auch für meine Arbeitsstelle einen Handelsvertrag abgeschlossen habe, auch wenn der Arbeitsvertrag heißt. Solche Verträge werden permanent gemacht, in jedem Supermarkt, in der Trafik, bei Schaustellern auf dem Jahrmarkt, bei Friseuren, Taxifahrern. Der Supermarkt wickelt seine Vertragsgeschäfte meistens schriftlich ab. Genauso die Auto- oder Möbelhändler. Beim alltäglichen Einkauf denken wir aber nicht mal mehr darüber nach, weil es hier nur mündliche Verträge gibt oder gar nur durch schlüssiges Verhalten abgeschlossene. Gültig sind sie alle.

Es ist für uns so selbstverständlich, so normal, scheint so natürlich, dass wir für jede Leistung, die wir erhalten, Geld als Gegenleistung erbringen müssen. Wir geben Geld für eigentlich ganz elementare Dinge wie Nahrung, Wohnung und Kleidung. Für Händler sind diese Bereiche sichere Absatzmärkte, sichere Einkommen, solange es nicht zu viele Anbieter gibt. Essen muss schließlich jeder und einen Platz zum Schlafen, ein Zuhause, brauchen wir auch. So sind wir abhängig von Lohnarbeit, die dadurch als Druckmittel eingesetzt werden kann.

Das ist die Tretmühle, das Hamsterrad, in dem sich die Arbeiter befinden, und der Grund, warum ich gerade zur Arbeit fahre. Der nicht enden wollende Kreislauf, aus dem der Profit kommt und das permanente Wachstum der Unternehmen finanziert wird. Diesen Profit gibt es aber nur, wenn permanent gekauft bzw. verkauft wird, also Vertragsgeschäfte bzw. Handelsgeschäfte abgeschlossen werden, Handel betrieben wird. Nur wenn viele Menschen tun, was der Zeitungsverkäufer und sein Kunde gerade getan haben, erhalten der Zeitungsverleger, die Druckerei und die Papierfabrik ihre Gewinne, mit denen sie ihr Kapital zu vergrößern hoffen, und alle, die dranhängen, ihre Löhne mit denen sie sich erhalten müssen. Wir alle sind also in diesem Spiel finanziell voneinander abhängig. Denn haben einige keine Einkommen mehr, die sie ausgeben könnten, so wirkt sich das auch auf andere aus.

Soziale Vernetzung

Voneinander abhängig sind wir aber sowieso, und zwar mit unseren Fähigkeiten. Brot backen und Kleidung herstellen sind keine einfachen Aufgaben. Es gibt Menschen, die sich dafür interessieren und darin auch erheblich geschickter sind als andere. Wir Menschen sind verschieden, jeder hat andere Stärken und Schwächen. Das – und anderes – macht doch eigentlich unsere Individualität aus.

Auf einer kahlen Wand des Betriebsgebäudes zeichnet die Sonne mit ihren parallelen Strahlen scharfe Silhouetten von Fahrzeugen des gegenüberliegenden, fast vollends belegten Betriebsparkplatzes. Selbst die Lenkräder sind manchmal in den Schatten zu erkennen. Die übrigen Flächen taucht sie in ein warmes leuchtendes Orange. Sieht man ihr entgegen, brennt ihr gleißendes Licht in den Augen und regt den Körper an, Endorphine auszuschütten, welche auch noch die letzten Spuren von Schlafbedürfnis vernichten und endlich wach machen. Leider ist dieses wunderschöne Bild auch das letzte, was ich und die anderen rund 500 Mitarbeiter und Kolleginnen für die nächsten acht Stunden von diesem herrlichen Tag sehen werden. Statt das Sonnenlicht zu genießen werden sich meine Augen mit weißem kalten Neonlicht aus Reflektorlampen begnügen müssen. Ich passiere gerade die Stechuhr, die voraussichtlich die nächste halbe Stunde keine Ruhe finden wird. Sie hat meine Anwesenheit und die meiner Kollegen minutengenau registriert. Ab jetzt sind wir bis zum Feierabend quasi Eigentum des Betriebs. Unser ganzes Denken und Tun hat jetzt nur dem Betrieb zu dienen. Was immer wir tun, hat möglichst wenig zu kosten, aber viel Output, viel Produkt zu bewirken, um möglichst viel verkaufen zu können.

Noch im Nebel der vorher gehegten Gedanken betrachte ich den Betrieb. Viele Menschen fahren Auto, aber reparieren können es die wenigsten. Sie erfüllen andere Aufgaben und haben andere Fähigkeiten. Ich selbst würde es sicher fertig bringen, eine Hütte zusammenzubrettern, aber ein Haus oder gar eine Fabrik zu bauen ist doch etwas ganz anderes. Bestimmt ist für manche eine einsame Waldhütte in Kanada, in der man ganz auf sich allein gestellt ist, alles selbst herstellen muss, eine erstrebenswerte Lebensweise. Für mich und viele andere jedoch nicht. Ich bin durchaus gerne von den Fähigkeiten anderer abhängig. Ich muss nicht alles können, und meist bringt eine Spezialisierung auf eine Arbeit auch eine Erhöhung der Produktqualität mit sich.

Auch hier im Betrieb hat jeder seine Aufgabe, auf seinem speziellen Gebiet. Ohne das würde der Betrieb nicht funktionieren. Ich sehe Staplerfahrer, welche die Ausgangsprodukte an die Maschinen führen, Hilfsmittel herbeischaffen und die Endprodukte von den Maschinen abholen und zur nächsten oder zum Versand fahren. Ich sehe Mechaniker, welche die Maschinen instandhalten oder für andere Produktionsserien umrüsten. Ich laufe an der Qualitätskontrolle vorbei, die Stichproben der ganz oder teilweise fertigen Produkte überprüft.

Mir fällt auf, dass wir zwar miteinander arbeiten, aber untereinander für die notwendigen Dienste kein Geld verlangen. Das verlangen wir nur von der Geschäftsführung. Ich überlege, wie lange der Betrieb wohl funktionierte, würden wir beginnen für jeden erforderlichen Dienst vom Kollegen Geld zu verlangen oder die Leistungen gegeneinander aufzurechnen? Vor jedem Handgriff gäbe es vielleicht erst Verhandlungen über den Preis, einige würden gegeneinander konkurrieren, einiges wäre nicht getan, weil niemand dafür zahlte. Vermutlich ginge der Betrieb pleite, weil einige Aufträge nicht einzuhalten wären. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das funktionieren würde. Man stelle sich vor, ein Arbeiter, der vom Lager Material holt, müsste dieses, vielleicht mit einer innerbetrieblichen Währung, bezahlen. Und er würde wieder eine Forderung an den stellen, dem er das evtl. verarbeitete Material weiterreicht…

Misstrauen

Warum aber zwängen wir uns in dieses unbequeme Korsett des immerwährenden Kampfes ums finanzielle und damit generelle Überleben? Warum eine Gesellschaft, welche die Verteilung, die Herausgabe lebensnotwendiger Güter fast nur in Handelsgeschäften, gegen Geld zulässt?

In vielen Grundsatztexten sozialistischer Organisationen liest man über „gerechte Löhne“ „auf dem Niveau eines Facharbeiters“.

Man hält also auch noch bei revolutionären Sozialisten am Lohnsystem und damit am Handel fest. Die Betonung liegt meist auf dem „gerechten“ Lohn für jeden, wobei der Lohn eines Facharbeiters als solcher betrachtet wird. Lohn aber bedingt ein Geldsystem, die Existenz von Handel und damit wieder die Abhängigkeit von Lohn. Und genau diese Abhängigkeit soll Freiheit bringen – sehr logisch.

Und was ist ein gerechter Lohn? Die meisten meiner Kollegen finden, dass Arbeiter sich von ihrem Lohn jedenfalls ein Auto und ein Haus leisten können sollten. Einige finden es gerecht, wenn der Chef wegen der höheren Verantwortung ein bisschen mehr verdient, während andere genau das als ungerecht empfinden, weil er zwar anders, aber bestimmt nicht mehr arbeitet. Wieder andere meinen, es genügt, wenn jeder von seinem Lohn leben kann. Wenn ich aber die obige Tretmühle betrachte, bezweifle ich, ob das so überhaupt möglich ist. Denn letztlich tragen die Arbeiter eines Betriebes ja auch den Lebensunterhalt der Führungsschichten des Unternehmens mit. Deren Aufgabe ist es, das Unternehmen zu koordinieren und zu versuchen, mit Hilfe der Marketingabteilung immer wieder neue Absatzmärkte für ihre Produkte zu finden oder neue Produkte zu entwickeln und so die Möglichkeit für immer neue Aufträge aufzutun. Viele Arbeiter und Angestellte sehen jene nur in Anzügen herumlaufen – sie haben den Eindruck, dass diese Menschen zwar wesentlich mehr Geld bekommen, aber wesentlich weniger arbeiten.

Angst

Der Lohn, den Arbeiter und Verkäufer, für ihre Arbeit erhalten, ist für manche dann gerecht, wenn sie davon leben können. Für andere erst dann, wenn sie sich den Luxus der Führungsetagen oder ihres Nachbars leisten können. Wenn Menschen von ihrem Gehalt nicht mehr leben können oder ihr Realeinkommen und damit der Lebensstandard sinkt, so empfinden sie es als ungerecht. Auch dass sich der Chef, wegen der massenhaft gemachten Handelsgeschäfte, die andere für ihn durchgeführt haben, einen höheren Lebensstandard leisten kann, empfinden einige so.

Genauer betrachtet ist Gerechtigkeit also nichts anderes als der Name der Angst vor irgendeiner Benachteiligung, meist materieller Art, oder gar vor dem Verlust der Lebensfähigkeit auf Grund mangelnden Einkommens, zu geringen Lohns. Gerechtigkeit hat also letztlich etwas mit der Verteilung zu tun. Mit der Verteilung von Arbeit und Gütern. Es geht um die Befürchtung, der andere könnte mehr bekommen, als er leistet, oder dass man selbst mehr leisten muss, als man bezahlt bekommt.

In wie vielen Jobangeboten liest man von „leistungsgerechter Bezahlung“. Und hat man uns nicht beigebracht: „Wer viel leistet, kann sich viel leisten“, oder „Leistung muss sich lohnen“? Wer nach Gerechtigkeit schreit, schürt also nicht nur Misstrauen, er hat schlicht Angst, sich nicht mehr ausreichend versorgen zu können, hat Angst vor einer Benachteiligung die vielleicht existenzbedrohend wird. Jedes Handelsgeschäft, und sei es auch nur der Kauf einer Zeitung, ist somit Ausdruck und Bedienung dieser Angst.

Abgrund

In der Pause überfliege ich eine Zeitung, die ein Kollege mitgebracht hat. Fast auf jeder Seite, in fast jeder Schlagzeile lese ich vom immer härter, immer aggressiver werdenden Kampf um Kunden, um jedes einzelne Vertragsgeschäft, um jeden Cent Gewinn. Ob ich die Angebote einer Handelskette in einer ganzseitigen Werbeanzeige ansehe, Berichte über Absatzmärkte oder Aktienkurse, Nachrichten über Preiserhöhungen von Fahrkarten bis Lebensmittel lese oder über ein Unternehmen, das von einem anderen aufgekauft wurde. Ob Versicherungen, Krankenkassen, Autos, Benzinpreise, Schuhe, Möbel, Löhne in allen Branchen, immer geht es um Handel, um Kauf und Verkauf. Und natürlich um den daraus resultierenden Gewinn, der nur dann möglich ist, wenn wir uns gegenseitig misstrauen und miteinander handeln.

Auch die Bildung mit Leistungsstipendien und leistungsgerechter Benotung nimmt sich da nicht aus. Dadurch, dass die Leistung aber nicht an den eigenen Fähigkeiten, sondern an den durchschnittlichen Fähigkeiten einer Klasse, einer Schule, einer Bildungseinrichtung gemessen wird, werden die sich Bildenden zueinander in Konkurrenz gesetzt, Neid geschürt, Druck, Angst und auch Misstrauen erzeugt. Die Angst, vielleicht nicht lebensfähig zu sein in dieser Gesellschaft, ausgeschlossen zu werden, zu schwach zu sein, um dem Leistungsdruck standzuhalten. Somit wird hier und im Arbeitsleben in den Augen der Gesellschaft die Schuld des Versagens vom System genommen und auf den Versager geschoben. Damit sind die vielen Burn-Out-Kranken, Arbeitsdepressiven selbst an ihrer Krankheit schuld. Die berufsbedingten Selbstmorde in aller Welt werden dadurch als Opfer einer „natürlichen Auslese“ diffamiert: Sie waren zu schwach für dieses System, das in seinem Streben nach immer mehr Gewinn die Ausbeutung immer weiter treibt, immer mehr Leistung bei fast gleichbleibender Gegenleistung fordert.

Weg mit der Angst. Eine kleine Fantasie

Als ich den Betrieb verlasse, ist es früher Nachmittag. Auf der Heimfahrt begegnen mir einige sonnenverbrannte, aber gut gelaunte „Wasserratten“, die offenbar der Hunger nach Hause treibt. Sie trösten mich ein wenig mit dem Gedanken, dass ich vom Neonlicht keinen Sonnenbrand bekommen kann. Dennoch werde ich versuchen irgendwo in einem Park noch ein paar warme Strahlen einzufangen. Ach ja: Einkaufen muss ich ja auch noch.

Würde nun einer allein aufhören, für seine Leistung Geld zu verlangen, keinen Handel mehr betreiben, wäre er in dieser Umgebung nicht mehr lebensfähig. Würden das aber einige tun, vielleicht noch mit verschiedenen Fähigkeiten, die sie haben oder sich aneignen, wäre das vielleicht der Beginn einer anderen Gesellschaft.

Als ich im Park liege und in den dunkler werdenden Himmel schaue, beginne ich zu träumen: Nehmen wir an, ich wäre ein Landmaschinenmechaniker. Und nehmen wir weiter an, die Filialleiterin eines größeren Supermarktes würde gerade im Laden stehen und ein wenig mithelfen. Und weil wir uns ein wenig kennen, meint sie plötzlich, sie würde mir jetzt einfach vertrauen und ich könnte bei ihr holen, was ich brauche, ohne bezahlen zu müssen. Sicher würde ich jetzt nicht anfangen, tonnenweise Lebensmittel und andere Dinge nach Hause zu schaffen. Wozu? Damit sie bei mir vergammeln, während andere sie brauchen? Im Laden steht alles unter besten Lagerbedingungen. Die Filialleiterin und ihre Kolleg_innen kümmern sich darum und ich habe während der Öffnungszeiten jederzeit Zugang. Ich finde die Sache riesig und repariere die Landmaschinen künftig ohne Bezahlung, weil mir der Job Spaß macht und ich alles, was ich zum Leben brauche, im Supermarkt ohne Bezahlung holen kann.

Einige Landwirte sind auch davon begeistert und beliefern den Markt künftig ebenfalls umsonst, worauf die Marktleiterin auch diesen kostenlose Produktverteilung zusagt. Das Beispiel macht Schule und plötzlich braucht die ganze Gegend bis zum nächsten Horizont keine Angst mehr zu haben vor Armut oder Hunger, da alle sich mit ausreichend Nahrung und anderen Gütern versorgen können. Da kein Handel mehr existiert, braucht es auch kein Geld mehr. Da es keinen Handelsmarkt mehr gibt, wird auch nicht für einen potenziellen Markt produziert, sondern nur noch das, was voraussichtlich benötigt wird, was anhand des durchschnittlichen Produktverbrauchs festgestellt werden kann. Banken werden überflüssig.

Natürlich ist dieses Beispiel noch voller Haken und völlig unvollständig. Es entsteht hierbei ein Netzwerk, eine Gesellschaft, in der man ohne Geld und ohne Handel leben kann. Diejenigen, die bei dieser Geschichte irgendwann übrigbleiben könnten, sind die Besitzer der Produktionsmittel. Denn sie erhalten ihren Lebensunterhalt aus dem Gewinn der Verkäufe ihrer Produkte. Aber auch die Stellen von Finanzdienstleistern und deren Angestellten werden überflüssig, da sie genau mit dem arbeiten, das es dann nicht mehr gibt. Wenn diese jetzt was anderes arbeiten, reduziert sich die für den einzelnen notwendige Arbeitszeit, was zu mehr Freizeit führt.

Die wirkliche Revolution wäre, wenn jemand eine solche Insel realisieren könnte, in der man sich einfach vertraut und Leistungen ohne Handel, ohne Bedingung und Aufrechnung einer Gegenleistung gegenseitig erbringt, soweit und sobald erforderlich. Die handelsfreie Versorgung der Menschen ist also offensichtlich weniger Resultat einer Gesellschaftsveränderung, sondern eher ihre unbedingte Voraussetzung.

Beginnen muss das aber weder plötzlich noch global. Eine kleine Gruppe einander versorgender Menschen würde genügen, natürlich mit dem Bestreben, immer mehr Menschen einzubinden und die Gruppe nach und nach immer weiter zu vergrößern. Nahrung, Wohnung, Energie und Kleidung stellen in dieser Reihenfolge die wichtigsten Ressourcen dar und würden die Kosten aller Teilnehmer bereits massiv reduzieren. Je mehr Menschen hinzukommen, je vielfältiger die Fähigkeiten und Kenntnisse werden, desto niedriger die monetären Kosten und desto weiter entfernt man sich von Geld und Handel, bis zu deren völligem Ausbleiben. Ohne Handel braucht es kein Geld, gibt es keinen Gewinn, keine Ausbeutung und nichts, was damit zusammenhängt.

Womit aber nicht gesagt werden soll, dass es dann nicht andere Probleme gibt, die bewältigt werden müssen. Durch den Wegfall der gegenseitigen Konkurrenz, der gegenseitigen Befremdung hin zu mehr Menschlichkeit und Zusammenarbeit bin ich jedoch zuversichtlich, dass auch dafür Lösungen gefunden werden.

Produktionsverhältnis weg, Staat weg – Geld passé!

Streifzüge 54/2012

von Alfred Fresin

Um einer Dämonisierung des Geldes entgegenzutreten und einen klaren Blick für die Demonetarisierung zu gewinnen, seien ein paar Anmerkungen zum derzeitigen Geldwesen eingebracht.

Politische Ökonomie des kapitalistischen Geldes

Tausch und Geld gab es schon in vorkapitalistischen Zeiten. Was ist das Spezifische der kapitalistischen Tauschwirtschaft?
Alle Bürger werden darauf festgelegt, mit dem Warentausch ihre Reproduktion zu gewährleisten. Mit ihrem Eigentum haben sie ihre Reproduktion zu bewerkstelligen. Für Leute, die nichts anderes als ihre Arbeitskraft zu verkaufen haben, sieht die Transaktion auf dem Markt folgendermaßen aus: W(are)–G(eld)–W(are). Mit dem verdienten Geld erschließt sich für die Konsumenten die Vielfalt der Warenwelt – dass sich da nicht allzu viel mit dem Lohn erschließt, ist den meisten Lohnarbeitern bekannt. Ganz anders sieht die Transaktion bei Leuten aus, die ihr Eigentum einsetzen, um andere für sie arbeiten zu lassen. Sie kaufen die nötigen Produktionsmittel und Arbeitskräfte, lassen produzieren, verkaufen die Produkte am Markt mit einem, so ist es bei allen geplant, Gewinn, der beim Verkauf realisiert werden soll. Die Bewegung hat nun die Form G–W–G’: Aus dem Vorschuss soll Überschuss werden. Dieser Zuwachs an Geld entsteht nicht im Austauschprozess oder etwa per se aus dem Geld, sondern durch Schaffung von Mehrwert im Produktionsprozess. Dieser nicht unwesentliche Vorteil der Erhöhung der Geldsumme (G’), der durch den erfolgreichen Verkauf der Ware realisiert wird, stellt sich also bei den Eigentümern von Produktionsmitteln und den produzierten Waren ein, allerdings nicht bei den eigentlichen Produzenten, den Verkäufern der Ware Arbeitskraft. Es ist dieser Zuwachs, auf den es im Kapitalismus ankommt, ausgedrückt nicht in zunehmendem Nutzen, Genuss und zunehmender Muße, sondern in Geld. Das G’ ist das treibende Moment für die Produktion, es ist die notwendige Grundlage des Kapitalismus. Kapital wird Geld dann, wenn es diese Potenz zur Vermehrung innehat (also nicht in der Geldbörse der Konsumenten).

Das treffendste Kürzel für den Kapitalismus lautet demnach G–G’ – auf diese Bewegung kommt es an. Die Ware stellt bei der Bewegung G–W–G’ nur mehr einen Zwischenprozess dar, auf den eine gewisse Branche von vornherein verzichtet. Die Banken statten die Unternehmer mit Kredit aus, weil diese Vorschüsse brauchen, damit ihre Geschäfte keine Stockung erfahren und sie diese auf höherer Stufenleiter betreiben können, um sich Konkurrenzvorteile zu schaffen. Dieser Kredit ist „fiktives“ Kapital, da es bloß den Anspruch auf Vermehrung hat und vorerst einmal eine Geldforderung ist, welche die Banken vorweg verzinsen. Die Banken sind die für den Kapitalismus unverzichtbaren Geldschöpfer, und sie machen dies aus dem gleichen Prinzip wie alle anderen Unternehmen – nämlich um ihr Kapital zu vermehren. Sie stellen ihre „Dienste“ nur zur Verfügung, wenn Letzteres gewährleistet ist.

Für all diese schönen Sachen, die er als politische Klammer betreut, ist der bürgerliche Staat mitverantwortlich. Er legt jede Bürgerin und jeden Bürger darauf fest, aus ihrem (seinem) Eigentum etwas, nämlich Geld, zu machen. Dafür sind schon einige Gesetze und seine Gewalt nötig (siehe dazu auch Artikel „Der bürgerliche Staat“ in Streifzüge Nr. 49, S. 11 ff.) – und außerdem ein staatliches Geld, das auch dem Anspruch genügt, Reichtum zu sein, sowohl im In- als auch im Ausland. Der Staat budgetiert alle steuerbaren Leistungen und Leistungen, die er erbringt, in Geld und bedient sich des Finanzkapitals, um seinerseits Kredite aufzunehmen. Dabei behält er immer seine Kreditwürdigkeit und die Tauglichkeit seiner Währung im Auge. Längerfristig und rücksichtslos neues Geld zu drucken, was ihm hoheitlich zusteht, um damit Ausgaben zu tätigen bzw. Schulden zu bedienen, wird ein Staat, eingebunden in den globalisierten Handel und Finanzmarkt, im Hinblick auf die Güte seines Geldes zu vermeiden trachten. Wenn er es dennoch tut, dann läuft er Gefahr, das Vertrauen der Finanzwelt auf die „Werthaltigkeit“ seiner Währung zu verlieren. Starke Inflation, Abwertung, Währungsreform und schließlich Staatsbankrott können Resultate dieses Vertrauensverlustes sein.

Krise als Geldkrise

Die Banken schaffen Geld als fiktives Kapital. Dabei folgen die Banken in ihrem Geldschöpfungsprozess weiter beharrlich dem Prinzip G–G’. Sie verlangen Zinsen für die Potenz auf Gewinne des noch fiktiven Kapitals. Sie vermehren Geld unabhängig von der Produktion von Werten und deren „Versilberung“ durch erfolgreichen Verkauf.

Im entwickelten modernen Kapitalismus wurde dieses Geschäftsmodell noch weiter vorangetrieben. Zwei Faktoren haben dazu beigetragen: Erstens die Loslösung des Geldes von seiner metallischen Form. Für die Einlösbarkeit des Papiergeldes zum angegebenen Wert steht der Staat mit seiner Gewalt gerade. Zweitens, als Vollendung dieses Anspruches, die Aufhebung der Golddeckung (Aufkündigung von Bretton Woods 1973, eingeleitet von der Abschaffung der Goldeinlösepflicht bzgl. des Dollars durch Nixon 1971).

Heutzutage kursiert eine enorme Menge „fiktiven“ Kapitals in der Finanzwelt. Die exorbitanten Buchwerte, welche das Finanzkapital akkumuliert, sind auch Kapital, jedoch fußen sie auf dem allgemeinen Vertrauen der Spekulanten, dass sie etwas „wert“ sind. Wird dieses Vertrauen beschädigt, indem Schuldner massenweise in Schwierigkeiten geraten, ihre Schulden auch bedienen zu können, und stellt sich der ganze Finanzüberbau als tatsächlich fiktiv heraus, dann ist Krise angesagt. Wann und aufgrund welches Ereignisses das Vertrauen in Misstrauen umschlägt, das ist nicht vorherzusagen. Ob nun die überhandnehmenden Schwierigkeiten von Unternehmen, ihre Schulden bedienen zu können (Dot-Com-Krise), der Wertverfall von Hypotheken aufgrund der prekären Situation vieler Immobilieneigentümer (Immobilienkrise), der Zusammenbruch großer Banken (Bankenkrise) oder die Bankrotterklärung von Staaten (Staatsschuldenkrise) sich zu einer veritablen Krise auswachsen, ist nicht mit Notwendigkeit zu bestimmen. Systemnotwendig ist allerdings, dass es von Fall zu Fall zu einer Entwertung von Kapital kommt, eben kommen muss. Und diese Entwertung vollzieht sich über das Misstrauen in Kredit. Die Banken verhelfen der Krise zum Durchbruch, indem sie Kredite einfordern, nicht mehr vergeben oder massiv verteuern. Wenn sie sich untereinander nur mehr eingeschränkt oder überhaupt nicht mehr kreditieren, kommt es zu einer Kreditklemme. Diese schlägt mit Notwendigkeit auf das produktive Kapital durch. Kredite stellen sich als zu viel vergeben heraus, Produkte erweisen sich als zu viel für die zahlungskräftige Nachfrage. Aus einer Überakkumulation von Kredit wird eine Überakkumulation von Waren.
An den Gebrauchswerten hat sich nichts geändert, und es wird weiter fleißig gearbeitet, doch das nötige G’ kommt nicht mehr so richtig in die Gänge. Und zwar nicht weil es zu viel bzw. zu wenig Waren gibt, sondern weil das Geld nicht mehr in gewünschtem Maße „arbeitet“. Es kracht im monströsen Finanzüberbau und der „Unterbau“ leidet. In konjunkturell guten Zeiten ist es zwar auch kein Honiglecken für die Lohnabhängigen, doch in Krisenzeiten sind sie umso betroffener. Obwohl man Geld bekanntlich nicht essen kann, werden die Sorgen um das Geld zu einem allgemeinen Anliegen erhoben. Die ganze Gesellschaft ruft nach „gutem“ Geld, welches durch vertrauensbildende Maßnahmen wieder hergestellt werden soll. Der Staat bzw. die Staaten sehen sich dabei herausgefordert, denn das „Blut“ ihres Wirtschaftskreislaufes und ihre wirtschaftliche Souveränität stehen auf dem Spiel. Eine Neuaufstellung des Finanzsektors, eine neue Durchsortierung der Staaten oder eine Währungsreform stehen an.

Geldfetisch

Besonders in der Krise wird jedem vor Augen geführt, worum es in dieser Gesellschaft geht.
Die Basis für modernes Geld – nämlich Arbeit als Lohnarbeit und deren Produktion von mehrwertträchtigen Waren – erscheint im bürgerlichen Bewusstsein umgekehrt als Konsequenz funktionierenden Geldes. Geld wird als nützliches, quasi als natürliches Schmiermittel des Wirtschaftens, erachtet und geachtet. Dabei werden die Voraussetzungen für das heutige Geld, arbeitsteilige Produktion, Privateigentum der Produktionsmittel, Markt (Tausch), Lohnarbeit und deren politische Klammer, der bürgerliche Staat, als naturgesetzlich gültige Grundlagen unterstellt. Die Notwendigkeit des (gut funktionierenden) Geldes für diese Ökonomie wird wie ein Naturgesetz behandelt und Leute, die sich mit Überlegungen hinsichtlich einer Gesellschaft ohne Geld auseinandersetzen, als „Phantasten“ bzw. „Spinner“ betrachtet.
Die bürgerliche Wissenschaft untermauert die „Nützlichkeit“ des Geldes, indem sie es nicht erklärt, sondern über seine Tauglichkeit bestimmt:

„In der Volkswirtschaftslehre werden im Wesentlichen drei Funktionen des Geldes unterschieden:
Geld hat Zahlungsmittelfunktion. Unter einem Tausch- oder Zahlungsmittel versteht man ein Objekt oder auch ein erwerbbares Recht, das ein Käufer einem Verkäufer übergibt, um Waren oder Dienstleistungen zu erwerben. Geld vereinfacht den Tausch von Gütern und die Aufnahme und Tilgung von Schulden.

Geld ist ein Wertaufbewahrungsmittel. Um diesen Zweck erfüllen zu können, muss es seinen Wert dauerhaft behalten können.
Geld ist Wertmaßstab und Recheneinheit. Der Wert einer Geldeinheit wird als Kaufkraft bezeichnet.“ (Wikipedia „Geld“)
Damit wird nicht die Frage „Was ist das Geld?“, sondern „Wozu braucht es das Geld, welche Funktionen hat es?“ beantwortet und die Bestimmung der Notwendigkeit des Geldes im Kapitalismus durch die Darstellung seiner Nützlichkeit für das Wirtschaften schlechthin ersetzt.

Diese funktionelle Sichtweise verstellt selbst Kritikern der Marktwirtschaft oftmals den Blick auf radikale Alternativen. Viele von ihnen kritisieren nicht das Geld und dessen Grundlagen, sondern die Auswüchse der Geldwirtschaft und die abhandengekommene Nützlichkeit des Geldes für alle Staatsbürger. Die Finanzkrise wird nicht als Notwendigkeit begriffen, welche aus dem Prinzip G–G’ folgt, sondern als Missbrauch des Geldes durch die (Investment-)Banken und als Folge deren Profitgier – und staatliche Schuldenpolitik als Knechtung unter den Erpressungen des Finanzkapitals.

Demonetarisierung

Aus den Erläuterungen ergibt sich, dass eine demonetarisierte Gesellschaft nicht wie der Kapitalismus – nur ohne Geld – organisiert sein kann. Mit der Abschaffung des Geldes sind auch alle anderen Grundlagen des Kapitalismus abzuschaffen, auf denen das Geld basiert. Das ganze Produktionsverhältnis ist auszuhebeln, das Privateigentum und damit auch die Tauschwirtschaft sowie auch die Lohnarbeit und schließlich auch der Staat, der diese Verhältnisse einrichtet und betreut. Wie immer eine demonetarisierte Gesellschaft dann im Detail aussieht, so wird sie auf einer Vergesellschaftung der Produktionsmittel beruhen, auf einer Produktion von Gütern, die nicht getauscht, sondern gemäß der vorhandenen Bedürfnisse verteilt werden. Geld ist in solch einer Gesellschaft überflüssig, denn dem Tauschwert ist die Grundlage, nämlich Privateigentum, die Lohnarbeit und der Markt abhandengekommen. (Nicht getan wäre es, das Privateigentum durch Staatseigentum zu ersetzen und das Produktionsverhältnis unangetastet zu lassen, so wie es im sogenannten realen Sozialismus der Fall war.) Auch ein wie immer gearteter geldloser Tausch würde in einer vergesellschafteten, arbeitsteiligen Produktion, deren Güter verteilt werden, obsolet sein.

Es ist nun eine Sache, sich zu überlegen, wie eine demonetarisierte Gesellschaft beschaffen sein wird, eine andere, vielleicht schwierigere, wie diese entwickelt werden könnte.

Nach wie vor wird es wohl angebracht sein, möglichst viele Menschen auf die Schädlichkeit des Kapitals und ihre funktionelle Rolle als Arbeitnehmer und Staatsbürger hinzuweisen, d.h. auch ihre verkehrten Vorstellungen darüber zu kritisieren. Denn um eine neue Gesellschaft ohne Geld aufzubauen, wird es eine Menge Leute brauchen, die wissen sollten, was sie nicht wollen, wogegen sie vorgehen und wer ihre Gegner sind. Geld kann erst dann erfolgreich abgeschafft werden, wenn es nicht als das Übel der Marktwirtschaft gesehen wird, sondern als notwendiger Ausdruck des kapitalistischen Produktionsverhältnisses und deren Einrichtung und Betreuung durch die politische Gewalt.

From: streifzuege.orgBy: SeverinComments

Peer-Produktion und gesellschaftliche Transformation

Zehn Diskursfiguren aus dem Oekonux-Projekt

Streifzüge 54/2012
von Stefan Meretz

Alle Mittel für unsere Emanzipation entwickeln sich direkt vor unseren Augen, aber wir müssen auch in der Lage sein, sie theoretisch zu erfassen.

Oekonux wurde als Reflexionsprojekt rund um Freie Software gegründet, aber von Beginn an gab es die These der Verallgemeinerung von Beobachtungen über Freie Software in andere Bereiche sowohl immaterieller wie materieller Produktion.

In der Folge stelle ich zehn Diskursfiguren vor, die aus Debatten im Oekonux-Projekt hervorgegangen sind.

Diskursfigur 1: Jenseits des Tausches

In Freier Software oder allgemeiner commons-basierter Peer-Produktion geht es nicht um Tausch. Geben und Nehmen sind nicht aneinander gekoppelt. Auch heute noch basieren traditionelle linke Ansätze auf der Annahme, dass jemand nur etwas bekommen sollte, wenn er/sie auch bereit ist, etwas zurückzugeben, da sonst alle in der Gesellschaft verhungern würden. Diese Position geht zurück auf die leidvolle sozialistische (und christliche) Tradition, die besagt, dass derjenige, der nicht arbeiten wolle, auch nicht essen solle.

Ein wichtiger Ansatz, der die neuen Entwicklungen der Freien Software zu erfassen versuchte, war der Ansatz der „Geschenkökonomie“. Nicht zufällig lautet die korrekte Bezeichnung eigentlich „Geschenktausch -Ökonomie“: Der/die Gebende kann erwarten, etwas zurückzubekommen, da dies eine moralische Verpflichtung in Gesellschaften ist, die auf dem Austausch von Geschenken basieren. Diese Art von gegenseitiger moralischer Verpflichtung existiert in Freier Software nicht. Commons-basierte Peer-Produktion gründet allgemein in bedingungslosen freiwilligen Beiträgen.

Aus einer linken Perspektive ist die Entkoppelung von Geben und Nehmen nur in einer fernen Zukunft – Kommunismus genannt – möglich. Zuvor jedoch muss eine unfreundliche Zwischenphase, der Sozialismus, durchschritten werden, in dem das Tausch-Dogma volle Gültigkeit besitzt.

Wenn man den Tausch nicht aufgeben will, dann ist Kapitalismus die einzige Option.

Diskursfigur 2: Jenseits der Knappheit

Es ist eine übliche Fehlannahme, dass materielle Dinge knapp seien und immaterielle nicht. Es scheint gerechtfertigt zu sein, materielle Dinge als Waren zu behandeln, während immaterielle Güter frei sein können. Diese Annahme verkehrt jedoch eine soziale in eine natürliche Eigenschaft der Dinge. Kein hergestelltes Gut ist von Natur aus knapp. Knappheit ist das Ergebnis der Produktion von Gütern als Waren. Knappheit ist der soziale Aspekt einer Ware, die für den Markt hergestellt wird. Im digitalen Zeitalter liegt das für immaterielle Güter auf der Hand, da die Verknappungsmaßnahmen offensichtlich sind. Dazu gehören Gesetze (basierend auf dem sogenannten geistigen Eigentum) und technische Hürden, die den freien Zugriff auf das Gut verhindern sollen. Für materielle Güter scheint das weniger klar zu sein, da wir an die Unzugänglichkeit materieller Güter – solange wir nicht für sie gezahlt haben – viel eher gewöhnt sind. Aber die Maßnahmen sind die gleichen: Gesetze und technische Hürden, begleitet von der andauernden Zerstörung von Gütern, die die Waren knapp genug machen soll, um einen entsprechenden Preis auf den Märkten zu erzielen.

Weiterhin scheint es offensichtlich zu sein, dass wir alle von materiellen Gütern abhängen, deren Verfügbarkeit begrenzt sein kann. Aber auch immaterielle Güter hängen von einer materiellen Infrastruktur ab. Im Falle des Wissens brauchen wir wenigstens unsere Gehirne, die mit Nährstoffen versorgt sein wollen. Das hat aber nichts mit „natürlicher Knappheit“ zu tun. Da alle Güter, die wir brauchen, hergestellt werden müssen, ist die einzige Frage, wie wir das auf gesellschaftliche Weise tun. Die Warenform ist eine Möglichkeit, die Commonsform ist eine andere. Waren müssen in knapper Form produziert werden, damit sie ihren Preis auf dem Markt erzielen können. Commons-Güter können nach den Bedürfnissen der Menschen und gegebenen produktiven Möglichkeiten hergestellt werden. Dabei mag es aktuelle Begrenzungen geben, aber Grenzen waren stets Aufgaben für menschliche Kreativität, um sie zu überwinden.

Manche Begrenzungen mögen niemals überwunden werden, aber dies ist kein Grund, Güter künstlich zu verknappen. In solchen seltenen Fällen können soziale Verabredungen getroffen werden, um den verantwortlichen Umgang mit der begrenzten Ressource (oder dem Gut) zu organisieren. Die Commons-Bewegung hat gelernt, dass sowohl rivale wie nicht-rivale Güter als Commons hergestellt werden können, aber sie benötigen unterschiedliche soziale Umgangsweisen. Während nicht-rivale Güter verabredungsgemäß für alle frei verfügbar sein können, um ihre Unternutzung zu verhindern, ist es sinnvoll, die Übernutzung rivaler Güter durch geeignete Regeln und Maßnahmen zu verhindern – entweder durch eine limitierte nachhaltige Nutzung oder durch Ausdehnung der kollektiven Produktion und damit Verfügbarkeit des rivalen Gutes.

Knappheit ist ein soziales Phänomen, das unvermeidbar auftritt, wenn Güter als Waren hergestellt werden. Häufig wird Knappheit mit Begrenzungen verwechselt, die durch menschliche Anstrengungen und Kreativität überwunden werden können.

Diskursfigur 3: Jenseits der Ware

Sowohl Märkte wie der Staat sind ungeeignete Formen, produzierten Reichtum zu verteilen und destruktive Effekte zu vermeiden. Die besten Ergebnisse werden erzielt, wenn Menschen sich entsprechend ihren Bedürfnissen, Erfahrungen und ihrer Kreativität selbst organisieren und Ressourcen und Güter nicht als Waren, sondern als Commons-Ressourcen behandeln.

Genau das ist bei der Freien Software der Fall. Ein schwacher Aspekt der traditionellen Commons-Forschung und frühen Phase der Freien Software war, dass es keinen klaren Begriff von Ware und Nicht-Ware gab. Es war das Oekonux-Projekt, das zuerst formulierte: Freie Software ist keine Ware. Dieses Diktum ist eng mit der Einsicht verbunden, dass Freie Software nicht getauscht wird.

Linke Kritiker_innen argumentierten, dass die Existenz von Nicht-Waren wie Commons auf den Bereich der immateriellen Güter beschränkt sei. Aus ihrer Sicht ist Freie Software nur eine „Anomalie“, während „normale“ Güter im Kapitalismus Waren sein müssen. Diese Sicht stellt die wirklichen Verhältnisse auf den Kopf. Kapitalismus konnte sich nur etablieren durch Einhegung der Commons und durch Beraubung der Menschen von ihren traditionellen Zugängen zu Ressourcen, um sie in Arbeiter_innen zu verwandeln. Diese Einhegung der Commons ist ein anhaltender Prozess. Kapitalismus kann nur existieren, wenn die Menschen kontinuierlich durch künstliche Verknappung von Ressourcen getrennt werden. Eine Ware – so nett sie in den Einkaufszentren erscheinen mag – ist das Ergebnis eines fortlaufenden gewalttätigen Prozesses der Einhegung und Enteignung.

Der gleiche Prozess betrifft auch Software. Proprietäre („unfreie“) Software enteignet die wissenschaftliche und schöpferische Gemeinschaft von ihrem Wissen, ihren Erfahrungen und ihrer Kreativität. Freie Software war zunächst ein defensiver Akt, um gemeinschaftliche Güter als Commons zu erhalten. Da jedoch Software in der vordersten Linie der Produktivkraftentwicklung steht, wandelte sich die Freie Software schnell in einen kreativen Prozess, um Grenzen und Entfremdungen proprietärer Software zu überwinden. Im Sonderfeld der Freien Software entfaltete sich eine neue Produktionsweise, die sich schnell in andere Bereiche ausdehnt.

Güter, die nicht künstlich verknappt und getauscht werden, sind keine Waren, sondern Commons.

 

Diskursfigur 4: Jenseits des Geldes

Geld ist kein neutrales Mittel, Geld kann in unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen vorkommen. Es kann Lohn, Investition (Kapital), Profit, Bargeld usw. sein. Verschiedene Funktionen müssen unterschiedlich analysiert werden. In Freier Software gibt es keine Warenform, Geld im engeren Sinne des Verkaufs einer Ware zu einem Preis existiert nicht. Eric Raymond hat erklärt, wie man mit einer Nicht-Ware trotzdem Geld verdienen kann: indem man sie mit einem knappen Gut kombiniert. In einer kapitalistischen Gesellschaft, in der nur wenige Güter aus dem Warenreich ausbrechen, existieren die meisten Güter weiterhin als Waren. Sie werden knapp gehalten und mit kostenlosen Gütern kombiniert. Aus der Sicht der Verwertung ist das nichts Neues (z.B. Geschenke verteilen, um Kunden zu gewinnen). In der Keimform-Perspektive beginnt hier die Entwicklung einer neuen Produktionsweise innerhalb des bestehenden alten Modells.

Aber warum geben Unternehmen Geld, wenn das Geld keine Investition im traditionellen Sinne ist? Warum hat IBM eine Milliarde Dollar in die Freie Software gesteckt? Weil sie sich dazu gezwungen sahen. Ökonomisch ausgedrückt mussten sie ein Geschäftsfeld entwerten, um andere profitable Geschäftsfelder zu sichern. Sie mussten Geld verbrennen, um eine teure Infrastruktur für ihre anderen Verkäufe zu schaffen (z.B. Server-Hardware).

Es gab viele Versuche, die nicht-tauschende, nicht-warenförmige, commons-basierte freie Zirkulation Freier Software in das traditionelle Paradigma, das auf Tausch und Ware basiert, zu integrieren. Der prominenteste Versuch war die „Aufmerksamkeitsökonomie“, die besagt, dass die Produzenten nicht Güter, sondern Aufmerksamkeit austauschen. Aufmerksamkeit sei die neue Währung. Das war jedoch nur ein verzweifelter Versuch, sich an die alten Begriffe zu klammern, der weder funktionierte noch neue Einsichten lieferte.

Jenseits des Geldes zu sein resultiert direkt aus dem Nicht-Ware-Sein.

 

Diskursfigur 5: Jenseits der Arbeit

Freie Software und Commons im Allgemeinen sind jenseits von Arbeit. Das kann nur verstanden werden, wenn Arbeit als spezifische Form produktiver Aktivität aufgefasst wird, die mit einer bestimmten historischen Gesellschaftsform verbunden ist. Der Verkauf der Arbeitskraft – also der Fähigkeit zu arbeiten – an einen Kapitalisten, der diese einsetzt, um mehr zu produzieren, als die Arbeitskraft wert ist, ist historisch einzigartig. Das hat zwei wichtige Konsequenzen.

Erstens verkehrt es produktive Aktivität – die Menschen immer aufwenden, um ihre Lebensbedingungen herzustellen – in entfremdete Arbeit. Diese Entfremdung ist nicht Ergebnis personaler Herrschaft, sondern strukturellen Zwangs. Im Kapitalismus können Menschen nur überleben, wenn sie für ihren Lebensunterhalt bezahlen, was sie zwingt, Geld einzunehmen. Um Geld einzunehmen, kann man entweder die eigene Arbeitskraft verkaufen oder die Arbeitskraft anderer kaufen und verwerten. Das Ergebnis ist ein deformierter Prozess, bei dem strukturelle Anforderungen vorgeben, was eine Person zu tun hat.

Zweitens erzeugt es den Homo oeconomicus , das isolierte Individuum, das nach Nutzenmaximierung strebt. Die traditionelle Ökonomie behauptet, dass der Homo oeconomicus der Archetyp eines menschlichen Wesen sei, womit eine besondere historische Erscheinung zur natürlichen Voraussetzung verkehrt wird.

Anstatt auf Arbeit basiert Freie Software auf Selbstentfaltung. Auf der einen Seite geht es um das „Jucken in den Fingern“ (Eric Raymond), darum, „das zu tun, was man wirklich, wirklich will“ (Frithjof Bergmann), und um „eine Menge Spaß“ (Entwickler_in Freier Software). Auf der anderen Seite geht es um die Einbeziehung anderer Entwickler_innen zur Erzielung der bestmöglichen Lösung. Es schließt eine positive Reziprozität zu anderen ein, also auf eine solche Weise nach dem gleichen Ziel zu streben, dass die Selbstentfaltung des/der einen, die Voraussetzung der Selbstentfaltung der anderen ist. Nicht zufällig erinnert das an das Kommunistische Manifest, worin die „freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller“ ist (Marx, Engels, 1848).

Anstatt die eigene Energie für fremde Zwecke zu verkaufen, üblicherweise Arbeit genannt, basiert Freie Software auf Selbstentfaltung, die die freie Entwicklung aller produktiven Kräfte der Menschen ist.

 

Diskursfigur 6: Jenseits von Klassen

Kapitalismus ist eine Gesellschaft der Spaltungen. Kaufen vs. verkaufen, produzieren vs. konsumieren, Arbeit vs. Kapital, konkrete vs. abstrakte Arbeit, Gebrauchswert vs. Tauschwert, private Produktion vs. gesellschaftliche Verteilung usw. Die kapitalistische Entwicklung wird von den Widersprüchen zwischen den getrennten Teilen vorangetrieben. Arbeit und Kapital ist nur ein Widerspruch unter vielen, aber es scheint der wichtigste zu sein. Eine Person scheint per Definition entweder ein Arbeitskraft-Verkäufer oder ein Arbeitskraft-Käufer, ein Arbeiter oder ein Kapitalist zu sein. Tatsächlich sind Arbeit und Kapital keine Eigenschaften von Individuen, sondern gegensätzliche gesellschaftliche Funktionen, die wie alle anderen Spaltungen den Kapitalismus erzeugen und von ihm erzeugt werden.

Beide Seiten einer Spaltung hängen von der jeweils anderen ab. Arbeit produziert Kapital, und Kapital erzeugt Arbeit. Es ist ein entfremdeter Zyklus der permanenten Reproduktion der kapitalistischen Formen. Beide Seiten dieser Spaltungen sind folglich notwendige Funktionen des Kapitalismus. Der sogenannte Antagonismus von Arbeit und Kapital repräsentiert in Wirklichkeit einen bloß immanenten Modus der historischen Entwicklung des Kapitalismus. Die Arbeiter_innenklasse repräsentiert nicht die Emanzipation.

Freie Software und Peer-Produktion im Allgemeinen sind eine Keimform einer neuen Produktionsweise, die grundsätzlich nicht auf Spaltungen basiert, sondern auf die Einbeziehung unterschiedlicher persönlicher Bedürfnisse, Verhaltensweisen und Wünsche als kraftvolle Quelle der Entwicklung setzt. Ausbeutung gibt es nicht, da der Kauf und Verkauf von Arbeitskraft nicht existiert.

Selbstentfaltung als sich frei entwickelnde Menschen ist die Quelle des gesellschaftlichen Übergangs zu einer freien Gesellschaft, nicht die Klassenzugehörigkeit.

 

Diskursfigur 7: Jenseits der Exklusion

Eine der basalen Spaltungen, die der Kapitalismus erzeugt, ist die zwischen denen, die drinnen sind, und denen, die es nicht sind. Dieses Drinnen-Draußen-Muster ist ein struktureller Mechanismus der Inklusion und Exklusion entlang aller möglichen gesellschaftlichen Differenzen: Arbeitsplatzbesitzer_innen vs. Arbeitslose, Reiche vs. Arme, Männer vs. Frauen, Nicht-Weiße vs. Weiße, Bosse vs. Untergeordnete, Eigentümer_innen der Produktionsmittel vs. Eigentumslose, Krankenversicherte vs. Nichtversicherte usw. Die Spaltungen müssen als strukturelles Grundprinzip des Kapitalismus begriffen werden: Ein Einschluss auf der einen Seite bedeutet einen Ausschluss auf der anderen Seite. Für das Individuum heißt das, dass jedes persönliche Vorankommen stets zu Lasten von anderen geht, die nicht vorankommen oder zurückfallen.

Im Allgemeinen sind Commons jenseits der Mechanismen der Exklusion. Je mehr aktive Menschen zum Beispiel bei Freier Software in einem Projekt mitmachen, desto schneller und besser kann ein Ziel erreicht werden. Hier wird die Beziehung zwischen den Menschen nicht durch Inklusions-Exklusions-Mechanismen bestimmt, sondern durch eine inklusive Reziprozität . Der Maintainer eines Projekts versucht so viel wie möglich aktive Leute einzubeziehen, strebt nach einer kreativen Atmosphäre und versucht Konflikte in einer Weise zu lösen, dass so viele Leute wie möglich dem „groben Konsens“ und dem „lauffähigen Programm“ folgen können („rough consensus, running code“).

Wenn ein Konsens nicht möglich ist, dann ist die beste Lösung ein Fork, die Aufteilung eines Projekts. Es ist eine riskante, aber machbare Option, um verschiedene Richtungen der Entwicklung auszuprobieren. Viele der bestehenden Forks arbeiten eng zusammen oder halten eine Atmosphäre der Kooperation aufrecht.

Während der Kapitalismus strukturell auf Exklusionsmechanismen basiert, erzeugt und befördert die commons-basierte Peer-Produktion die Inklusion.

 

Diskursfigur 8: Jenseits des Sozialismus

Ein Großteil der Linken teilt die Annahme, dass der Sozialismus als eigenständige Phase zwischen der freien Gesellschaft (Kommunismus) und dem Kapitalismus unvermeidlich ist. Nach dem allgemeinen Konzept besitzt dort die Arbeiter_innenklasse die Macht und kann die gesamte Ökonomie entsprechend ihrer Interessen und damit der Mehrheit der Gesellschaft umstrukturieren. Kurz: Zuerst muss die Macht errungen werden, dann wird die neue Produktionsweise folgen, um eine wirklich freie Gesellschaft aufzubauen. Dieses Konzept (z.B. als „Realexistierender Sozialismus“) ist historisch gescheitert.

Es war stets eine neue Produktionsweise, die aus der alten Art zu produzieren entstand und den historischen Übergang vorbereitete. Der Kapitalismus entwickelte sich ursprünglich aus dem Handwerk der mittelalterlichen Städte, das dann in Manufakturen integriert wurde und schließlich zum System der großen Industrie führte. Die Frage der Macht wurde „auf dem Weg“ dorthin gelöst. Das schmälert nicht die Bedeutung von Revolutionen, aber Revolutionen können nur das realisieren und befördern, was sich bereits entwickelt. Die Revolutionen des Arabischen Frühlings erschaffen nichts Neues, sondern sie versuchen die Potenzen der normalen demokratischen und bürgerlichen Gesellschaft umzusetzen.

Der historische Übergang kann nicht als Übernahme der politischen Macht realisiert werden – sei es über das Parlament oder durch Aktionen auf der Straße –, sondern nur als Entwicklung einer neuen Produktionsweise. Die Kriterien für die neue Qualität können aus den praktischen Negationen der alten Produktionsweise gewonnen werden. Statt Waren: Commons-Produktion; statt Tausch und Geldvermittlung: freie Verteilung; statt Arbeit: Selbstentfaltung; statt Exklusionsmechanismen: Inklusion aller Menschen.

Die commons-basierte Peer-Produktion überschreitet sowohl den Kapitalismus wie auch den warenproduzierenden Sozialismus.

 

Diskursfigur 9: Jenseits der Politik

Da es bei der commons-basierten Peer-Produktion vor allem um die Entfaltung einer neuen Produktionsweise geht, ist sie grundsätzlich eine nicht-politische Bewegung. Hierbei wird Politik als eine Aktivität verstanden, die sich an den Staat und seine Institutionen richtet und Forderungen nach Veränderungen in eine gewünschte Richtung stellt. Eine solche Politik basiert auf Interessen, die im Kapitalismus stets gegeneinander gerichtet sind. In diesem Sinne sind Commons jenseits von Politik, da sie grundsätzlich nicht im Modus von Interessen, sondern im Modus von Bedürfnissen agieren.

Es ist wichtig, zwischen Bedürfnissen und Interessen zu unterscheiden. Bedürfnisse müssen in Form von Interessen organisiert werden, wenn der übliche Realisationsmodus der des Ausschlusses der Interessen von anderen ist. Commons basieren auf einer Vielfalt von Bedürfnissen der Beteiligten, die als Quelle der Kreativität genutzt wird. Die Vermittlung dieser verschiedenen Bedürfnisse ist Teil des Prozesses der Peer-Produktion. Es ist nicht notwendig, die Bedürfnisse zusätzlich in Form von Interessen zu organisieren, um sie anschließend politisch zu realisieren. Stattdessen wird die Bedürfnisvermittlung und -befriedigung direkt erreicht.

Ein Aspekt, der dies verdeutlicht, ist die Frage der Hierarchien. Normalerweise sind Hierarchien Teil der kapitalistischen Warenproduktion. Daher ist ein üblicher linker Topos, jegliche Hierarchien abzulehnen, um Herrschaft zu vermeiden. Das jedoch ignoriert die Tatsache, dass Hierarchien als solche keine Herrschaft erzeugen, sondern die Funktion, die Hierarchien in einem bestimmten Kontext haben. In einem Unternehmen repräsentieren Hierarchien unterschiedliche Interessen, zum Beispiel die Interessen der Arbeiter_innen und die des Managements. In der Peer-Produktion könnte eine Hierarchie jedoch unterschiedliche Niveaus von Kompetenz, Erfahrung oder Verantwortlichkeit abbilden, was von denen geteilt wird, die jemanden in einer herausgehobenen Position akzeptieren. Ein Maintainer zu sein bedeutet nicht, unterschiedliche Interessen auf Kosten der Projektmitglieder zu verfolgen. Ein solches Projekt würde nicht gedeihen. Im Gegenteil, ein Maintainer ist in der Regel erpicht darauf, so viele aktive und kompetente Projektmitglieder zu integrieren wie möglich. Das verhindert nicht Konflikte, aber Konflikte können so auf der Grundlage der gemeinsam geteilten Projektziele gelöst werden.

Commons-basierte Peer-Produktion erfordert nicht, die Bedürfnisse der Menschen in Form gegensätzlicher Interessen zu artikulieren, sie ist daher jenseits von Politik.

 

Diskursfigur 10: Keimform

Zum Abschluss zur wichtigsten Diskursfigur, dem Keimform- oder Fünfschritt-Modell. Ziel des Modells ist, die gleichzeitige Existenz von Phänomenen unterschiedlicher Qualität zu verstehen. Die Diskussion um die Peer-Produktion wird häufig von zwei Gruppen dominiert: Jenen, die die Peer-Produktion befürworten und zu beweisen versuchen, dass die Peer-Produktion antikapitalistisch ist, und jenen, die die Peer-Produktion nur als Modernisierung des Kapitalismus ansehen. Die Herausforderung besteht darin, beides zusammen zu denken. Das Keimform-Modell erreicht dies, indem es das Aufkommen und die Entwicklung der commons-basierten Peer-Produktion als einen über die Zeit sich widersprüchlich entfaltenden Prozess auffasst.

Normalerweise ist die Anwendung des Fünfschritt-Modells ein retrospektiver Vorgang, bei dem das Ergebnis der analysierten Entwicklung bekannt ist. Durch gedankliche Vorwegnahme des Ergebnisses eines Übergangs zu einer freien Gesellschaft auf Grundlage commons-basierter Peer-Produktion kann die Herausbildung der freien Gesellschaft rekonstruiert werden. Hier ist eine sehr grobe Skizze der fünf Schritte angewendet auf den Fall der Peer-Produktion.

1. Keimform. Eine neue Funktion tritt auf. In dieser Phase darf die neue Funktion nicht als vollständiger Keim oder Samen verstanden werden, der bereits alle Eigenschaften der endgültigen Form enthält und nur noch wachsen muss. Die Keimform zeigt nur Prinzipien des Neuen, ist aber nicht schon das Neue selbst. Daher ist auch die commons-basierte Peer-Produktion nicht schon selbst das Neue, sondern das qualitativ Neue an ihr ist die bedürfnisbasierte Vermittlung zwischen den Peer-Produzent_innen (basierend auf Selbstentfaltung). Während dieser Phase ist dies zudem nur auf lokaler Ebene sichtbar.

2. Krise. Nur wenn das umgreifende alte System in eine Krise kommt, kann die Keimform ihre Nische verlassen. Die kapitalistische Weise der gesellschaftlichen Produktion und Vermittlung über Waren, Märkte, Kapital und den Staat hat die Menschheit in eine tiefe Krise gebracht. Sie ist in die Phase des sukzessiven Verfalls und der Erschöpfung der historisch akkumulierten Systemressourcen eingetreten.

3. Funktionswechsel. Die neue Funktion verlässt ihren Keimform-Status in der Nische und bekommt Bedeutung für die Reproduktion des alten Systems. Die frühere Keimform hat nun ein doppeltes Gesicht: Einerseits kann sie zum Zweck des Erhalts des alten Systems genutzt werden, andererseits ist und bleibt ihre eigene Logik inkompatibel mit der Logik des dominanten alten Systems. Peer-Produktion ist nutzbar für Kosteneinsparungen und die Schaffung neuer Umgebungen für kommerzielle Aktivitäten, aber ihre eigenen Aktivitäten beruhen weiterhin auf nicht-warenförmiger Entwicklung. Kooptation und Absorption in die normale Warenproduktion sind möglich. Nur wenn die Peer-Produktion in der Lage ist, ihre commons-basierten Prinzipien zu verteidigen, kann der nächste Schritt erreicht werden.

4. Dominanzwechsel. Die neue wird zur vorherrschenden Funktion. Die alte Funktion verschwindet nicht sofort, sondern tritt als vormals dominante Funktion in Randbereiche zurück. Die commons-basierte Peer-Produktion hat ihre Vernetzungsdichte auf globaler Ebene erhöht, so dass sich Input-Output-Verbindungen schließen und geschlossene Kreisläufe entstehen. Getrennte Privatproduktion mit nachfolgender Marktvermittlung unter Benutzung von Geld ist nicht mehr erforderlich. Die bedürfnisorientierte soziale Vermittlung organisiert Produktion und Verteilung. Das gesamte System hat nun qualitativ seinen Charakter geändert.

5. Umstrukturierung. Die Richtung der Entwicklung, die Grundstrukturen und die basale Funktionslogik haben sich geändert. Dieser Prozess umfasst mehr und mehr gesellschaftliche Felder, die sich nun auf die neue bedürfnisbasierte gesellschaftliche Vermittlung ausrichten. Der Staat ist abgewickelt, neue gesellschaftliche Institutionen entstehen, die keinen einheitlichen Staatscharakter mehr besitzen, sondern Mittel der kollektiven Selbstentfaltung sind. Neue Widersprüche können auftreten, ein neuer Zyklus der Entwicklung könnte beginnen.

Dies ist nur ein erkenntnistheoretisches Modell, kein Schema für die unmittelbare Aktion. Der Hauptvorteil liegt in der Möglichkeit, den fruchtlosen Entweder-oder-Debatten zu entkommen. Es ermöglicht das Denken parallel auftretender Phänomene: das Aufkommen einer neuen Produktionsweise, die für das alte System nützlich ist und gleichzeitig ihre überschreitende Potenz in Richtung auf eine freie Gesellschaft beibehält.

Das Keimform-Modell, das im Oekonux-Kontext angepasst wurde, ermöglicht die dialektische Konzeptualisierung historischer Übergänge.

Eine Langfassung dieses Textes steht unter kurzlink.de/oekonuxdiskurs zur Verfügung.