Geld ist das Problem!
Kernideen der Demonetarisierung
von Andreas Exner, Justin Morgan, Franz Nahrada, Anitra Nelson und Christian Siefkes
von Andreas Exner, Justin Morgan, Franz Nahrada, Anitra Nelson und Christian Siefkes
von Franz Schandl
Der Großteil der wirtschaftlichen Tätigkeit hat mit Produktion und Dienstleistung nichts zu tun, er folgt ausschließlich geschäftlichen = monetären Erfordernissen. Der Großteil der Arbeit gehorcht nicht nur der Geldreligion, er gehört selbst dem Religionsdienst an. Rechnungen sind Gebetszettel und Bilanzen sind Gebetsbücher dieser seltsamen aber militanten Kommunikationsform.
Denn um Brot oder Kuchen zu produzieren, brauchen wir kein Geld, wir brauchen Mehl, Wasser, Zucker, Milch Butter, Nüsse, vielleicht Safran. Nicht so im Kapitalismus. Da ist die Kostenfrage unumgänglich, auch wenn kein Gramm des Geldes in den Stoff einzudringen versteht. Kurzum: Wirklich wird nicht, was möglich ist, real wird erst das, was bezahlbar ist. Der Kosmos der Wirtschaft sind nicht Menschen und deren Bedürfnisse, sondern folgt der Logik von Geld und Ware.
Was wir beobachten ist die Dichte, ja zunehmenden Verdichtung der Matrix diverser Beschäftigungen, die ausschließlich oder größtenteils nur um des Geldes Willen verrichtet werden müssen. Sie machen nur Sinn im Sinne der permanenten Kostenrechnung und haben sich aufgebläht wie eine Blase, der wir Muskel, Nerv und Hirn zuführen, obwohl alle diese Leistungen weder gegessen, getrunken, geschmeckt, gefahren, gesorgt werden können.
Zahlenkolonnen und Daten, Tabellen und Statistiken, Kurven und Kurse, das erscheint als objektiviertes Material ökonomischer Sachverhaltes. Dies alles türmt sich vor uns auf. Mit dem leben wir, tagtäglich verfolgt es uns, wenngleich wir es als gegeben hinnehmen. Wir, die Geldsubjekte haben nichts anderes gelernt. Fast alles, was wir tun, endet in einer Rechnung, entweder sollen wir zahlen oder wollen bezahlt werden.
In der Wirtschaft geht es nicht um das Brot und den Pudding, um Tomaten und Schuhe, um Kühlschränke und Badeausflüge, es geht um das Geschäft: jedes Vorhaben muss nach seinen Kosten fragen, es geht um Geld, um Löhne und Preise, um Renten und Profite. Zwischen Wie komme ich durch? bis Wie zocke ich ab? – vor dem Hintergrund dieser beiden Extrembeispiele gibt es eine bereite Palette geschäftlichen Lebens. Unser aller Leben ist durch das Geschäft okkupiert. Die Frage ist also nicht: wie kommt jemanden etwas zu, sondern stets was kann sich jemand leisten? Welcher Kauf geht sich aus, welcher Verkauf kann sich rechnen? Wie Dienstboten des Geldes laufen wir durch die Gegend.
Geldverrichtung meint Zeitvernichtung. Der Unnötigkeiten sind viele: Zahlung, Rechnung, Kontrolle, Kontoführung, Buchhaltung, Besteuerung, Bezuschussung, Bewerbung – wir stecken im Geldverkehr, er ist der eigentliche Stoffwechsel, obwohl er diesem doch nur dienen soll.
Rechnungen der Zukunft haben Rechnungen über Materialien und Dienste zu sein, nicht über Kosten derselben. „Denken wir uns die Gesellschaft nicht kapitalistisch, sondern kommunistisch, so fällt zunächst das Geldkapital ganz fort, also auch die Verkleidungen der Transaktionen, die durch es hineinkommen. Die Sache reduziert sich einfach darauf, dass die Gesellschaft im voraus berechnen muss, wie viel Arbeit, Produktionsmittel und Lebensmittel sie ohne irgendwelchen Abbruch auf Geschäftszweige verwenden kann, die, wie Bau von Eisenbahnen z.B. für längere Zeit, ein Jahr oder mehr, weder Produktionsmittel noch Lebensmittel, noch irgendeinen Nutzeffekt liefern, aber wohl Arbeit, Produktionsmittel und Lebensmittel der jährlichen Gesamtproduktion entziehn. In der kapitalistischen Gesellschaft dagegen, wo der gesellschaftliche Verstand sich immer erst post festum geltend macht, können und müssen so beständig große Schwierigkeiten eintreten.“ (Karl Marx. MEW 24:316−317)
Die Liste fulminanter Abschaffungen und Reduzierungen wäre jedenfalls eine lange. Das hätte weitreichende Folgen: Exemplarisch würde der Energieverbrauch (Erdöl/Erdgas/Strom) sinken, ebenso der Konsum an Pharmazeutika. Und wenn der Mobilitätszwang fiele, gingen die Verkehrsunfälle sukzessive zurück, das hieße wiederum weniger Chirurgen und weniger Rehabilitationen. Weniger Flugkilometer bedeuten weniger Lärm, weniger Abgase, weniger Klimaerwärmung. Und so weiter und so fort.
Wir wollen also die Leute um ihre Jobs bringen? Genau das!! Durch ein Transformationsprogramm eminenter Abschaffungen oder großer Freisetzungen könnten in einigen Durchgängen wahrscheinlich mehr als drei Viertel der Arbeiten einfach eingespart und entsorgt werden, ohne dass wir etwas verlieren. Einerseits würde viel Kraft und Energie für die Individuen frei werden, andererseits würden die Belastungen von Mensch und Umwelt abnehmen. Der von diversen Schwachsinnigkeiten befreite Alltag wäre dann tatsächlich ein anderer.
Die große Freisetzung wäre eine Befreiung der Menschen eine Entlastung der Natur. Sie würde die soziale und die ökologische Misere lösen. Vor allem wäre sie aber auch der große Schritt vom Disponiert-Werden zum Disponieren, vom Passiv zum Aktiv. Unser Möglichkeiten sind aus zwei Gründen heute immens eingeschränkt, erstens weil jedes Anliegen der Zahlung bedarf und zweitens dafür jede Unmenge von Arbeit und Zeit in Anspruch genommen wird. Weniger übrigens was die Herstellung und Verteilung betrifft als der Aufwand, den der Fetischdienst erfordert. Wir leben in einer finsteren Periode der vom Geld- und Warenfetisch beschlagnahmten Zeit.
Die gemeinsamen Verbindlichkeiten hätten ein viel geringeres Pensum. Unser Leben wäre nicht mehr von Pflicht geprägt und umstellt, wenngleich einigen Aufgaben schon nachgekommen werden sollte. Unserer Möglichkeiten wären aber gänzlich andere, denn sie würden nicht mehr schlicht an der beschlagnahmten Zeit scheitern. Man müsste nicht mehr Geld verdienen, also (und die Sprache verrät es) dem Geld dienen. Auch dieses Hetzen und Stressen, dieses geschäftige Getue, dieses ständige von Termin zu Termin eilen wäre over.
Die letzte These lautet nun, dass wir, die bürgerlichen Subjekte, aufgrund unserer gesellschaftlichen Situation, den Großteil des Lebens eigentlich versäumen, dass das Leben, vor allem das gute Leben sich gegenwärtig nur in Nischen entfalten kann. Die große Freisetzung könnte nun das versäumte Leben in das gute Leben überführen. Wir ersparen uns das Leben zu versäumen. Es gäbe endlich die Möglichkeit, sich zu seinem Leben emotional und geistig reflektiert und nicht bloß reflexartig und affektiert zu verhalten. Vor allem müssten wir dann nicht dauernd ans Geld denken und in seinem Sinne, also für das Geld zu handeln. Die Zwangsanbeterei des Fetischs („Wir wollen weil müssen dich haben“) wäre Geschichte.
aus: Solidarisch Wirtschaften. Dokumentation des Kongresses “Solidarische Ökonomie 2013”, S. 56-57.
Weitere Infos unter: www.solidarische-oekonomie.at
Post from: Streifzüge. Liebe Leute: Allein hier zu schreiben, dass wir ein Leben ohne Geld wollen, kostet welches. Wer unsere Texte mag, soll dazu beitragen, dass sie hier (ent)stehen können. Wenn wer sich’s leisten kann. Eh klar. Dann aber seid so lieb: Her mit der Marie! Löst uns aus!
VORLAUF FETISCH Streifzüge 58/2013
von Franz Schandl
Wir haben gelernt, zu glauben. Warum sollte es mit dem Kapital anders sein. Es ist sogar zu vermuten, dass viele Keime unserer Imaginationen in der Ökonomie des Alltags stecken. Dass die dort erforderliche Sicht von Tausch und Täuschung alle anderen Phänomene zumindest prägt, wenn nicht dominiert. Fiktiv ist gar vieles. Fiktionen sind nicht Folge des Kapitals, sondern Bestandteil seiner rationalen und rationellen Grundkonstitution.
Bereits Karl Marx schrieb im dritten Band des „Kapital“: „Als Papier hat das Gelddasein der Waren ein nur gesellschaftliches Dasein. Es ist der Glaube, der selig macht. Der Glaube in den Geldwert als immanenten Geist der Waren, der Glaube in die Produktionsweise und ihre prädestinierte Ordnung, der Glaube in die einzelnen Agenten der Produktion als bloße Personifikation des sich selbst verwertenden Kapitals.“ (MEW 25:606) Die Ökonomie selbst spricht eine deutliche Sprache, sogar vordergründig. Nicht zu Unrecht redet sie vom Schein, wenn sie vom Geldschein spricht. Und der wird allgemein akzeptiert, genauso wie Münzen oder Kreditkarten. Diese Einbildung verbindet die Leute und verwirklicht sich in Geschäften, wo man ja tatsächlich mit solchen Scheinen reale Dinge wie Bananen oder Brötchen, Gewehre oder Windschutzscheiben erstehen kann. Hier herrscht (insbesondere was Hartwährungen wie Euro und Dollar, Yen und Franken betrifft) eine Übereinkunft, die zum Ziel, den Gebrauchswerten, führt.
An Gebrauchswerten kann nie mehr konsumiert werden als produziert worden ist. Wohl aber kann mehr produziert als konsumiert werden. Das Stoffliche kennt also Mucken, die das Geld wenig scheren. Geld kann nämlich in Unmengen vorhanden sein, egal ob es real gedeckt ist oder nicht. Das sieht man dem Geld auch nicht an. Wert und Erscheinung fallen unmittelbar zusammen. So will es der herrschende Glaube. Denn der Waren sind nicht zu wenige (im Gegenteil), sie können aber nicht gekauft werden, weil den Leuten das Geld fehlt. Schon jetzt regiert der virtuelle Vorgriff. Mittels Kredit (insbesondere auch Kreditkarte) verschafft man sich durch imaginierte zukünftige Einkommen realen Zugang zu gegenwärtigen Produkten und Leistungen.
Gehandelt wird nicht nur mit Waren, sondern auch mit Geld selbst. „Das Borgen und Verleihen von Geld wird zu einem besonderen Geschäft.“ (MEW 25:416) Zentral sind die Geldhändler oder deren System, die Banken. Spätestens hier sieht man, dass Geld nicht als bloßes Instrument zu fassen ist, sondern als Geldkapital. Die Bank, das ist vielen Sparern nicht klar, ist auch keine Aufbewahrungsanstalt von Geldern, sondern eine Verflüssigungsanstalt derselben. Geld als Kapital gibt es nur flüssig, nicht als Schatz. Diese Wirtschaft ist nur in einer fieberhaften und ausdauernden Dynamik der Zirkulation am Leben zu erhalten.
Man könnte das Bankkapital ja auf die Probe stellen, indem alle Leute auf einmal ihre Einlagen abheben. Das Finanzsystems würde augenblicklich kollabieren, was aber auch heißt, dass die Realität der Gelder auch unter besten Bedingungen nur im Konjunktiv gegeben ist und eine Realisierung derselben nur gewährleistet werden kann, wenn lediglich ein Bruchteil der den Banken Geld Gebenden es auch wieder haben will. Die tatsächlich verbrieften Optionen können also gar nicht auf einmal in Anspruch genommen werden. Auch hier handelt es sich im besten Fall um pure Fiktion, die aber ihren Zweck erfüllt. Wirkung und Wirklichkeit haben wenig miteinander zu tun.
Diese Realität ist nur möglich, weil sie nicht realisiert wird. Und den Satz sollte man in seiner vollen Bedeutung erfassen. Also still sitzen, reflektieren, pausieren, spazieren gehen. – Und dann noch einmal: Diese Realität ist nur möglich, weil sie nicht realisiert wird. Realisieren meint einlösen und begreifen. Die Aussetzung nicht nur des Denkens, sondern auch des Verwirklichens ist Voraussetzung der Funktion. Würde die Realität realisiert werden, wäre es um sie geschehen. Realisieren meinte liquidieren. Das Geld, das wir besitzen, das gibt es nur unter bestimmten Konditionen. Es ist nicht einfach da. Das gilt es wahrzunehmen.
Via Kredit nimmt man Geld zu einem Preis auf, der über dem liegt, was die erhaltene Summe ausmacht. Ein Kredit ist nichts anderes als Vorschuss oder Vorwegnahme auf noch zu produzierenden Wert. „Das Kreditwesen beschleunigt daher die materielle Entwicklung der Produktivkräfte und die Herstellung des Weltmarkts, die als materielle Grundlagen der neuen Produktionsform bis auf einen gewissen Höhegrad herzustellen, die historische Aufgabe der kapitalistischen Produktionsweise ist. Gleichzeitig beschleunigt der Kredit die gewaltsamen Ausbrüche dieses Widerspruchs, die Krisen, und damit die Elemente der Auflösung der alten Produktionsweise“, schreibt Karl Marx (25:457). Inzwischen ist der Großteil der wirtschaftlichen Tätigkeit auf Kredit gebaut, und somit der Dynamik des Finanzmarkts ausgeliefert. Ohne ihn würde der Warenmarkt gar nicht erst funktionieren, er ermöglicht die notwendige Bewegung.
Wichtigste Basis für die Vergabe von Krediten ist das Vertrauen der Kreditgeber in die Kreditnehmer. Das Versprechen hält nur so lange es geglaubt wird. Glaubwürdigkeit ist also ihr wahres „Kapital“. Viele Finanzgeschäfte funktionieren wie Pyramidenspiele. Solange sich Mitspieler finden, kann das Spiel laufen, sobald jedoch die Kette unterbrochen wird, droht der Kollaps. Können die Schulden nicht gedeckt oder zumindest umgeschuldet werden, dann entpuppt sich die Struktur als nicht tragfähiges Kartenhaus.
Fiktives Kapital ist Folge des Kreditwesens. Sein Auftritt auf dem Finanzmarkt scheint unabhängig von der Produktion, der so genannten Realwirtschaft, Zinsen gebären, also G in G’ verwandeln zu können. „Die Bildung des fiktiven Kapitals nennt man kapitalisieren. Man kapitalisiert jede regelmäßig sich wiederholende Einnahme, indem man sie nach dem Durchschnittszinsfuß berechnet, als Ertrag, den ein Kapital zu diesem Zinsfuß ausgeliehen, abwerfen würde (…) Aller Zusammenhang mit dem wirklichen Verwertungsprozess des Kapitals geht so bis auf die letzte Spur verloren, und die Vorstellung vom Kapital als einem sich durch sich selbst verwertenden Automaten befestigt sich.“ (MEW 25:484) Geld scheint hier wirklich für sich zu arbeiten.
Fiktives Kapital ist nicht gedeckt, aber es „existiert“ trotzdem. Es ist ein reelles Trugbild, an das geglaubt wird, weil andere ebenfalls daran glauben. Dieser kollektive Glaube trägt so lange, bis das Spiel auffliegt, die Blasen platzen, und fiktives Kapital sich als Luftnummer herausstellt. Solange die Blase aber nicht geplatzt ist und die kapitale Frömmigkeit sie als ein Füllhorn betrachtet, vermag dieses sich durchaus real im Wirtschaftsprozess einbringen, kann Waren und Dienstleistungen kaufen, Geschäfte in Gang setzen und die Produktion ankurbeln. Man sieht dem Geld nicht unmittelbar an, ob es Substanz hat oder nicht. Der Schein kann tragen, aber auch trügen. Das fiktive Kapital ist die Hochstapelei des Realkapitals. Früher oder später wird jenes auf dieses zurückgeworfen werden. Aber dazwischen gibt es Zeitfenster.
Die Zirkulation von fiktivem Kapital ist eine im Himmel des Geldfetischs. Geld ist scheinbar nur noch sich selbst verpflichtet und selbstschöpferisch tätig. Wenn A dem B 100 borgt und B dem C auch 100, sodann C dem D wieder 100, auf dass dieser dem A 100 borgt, dass dieser es B borgen kann, wie viel haben sie? 0, 100, 400, 500, 700, 8.000, 90.000, 1 Million? Das ist wahrlich ein philosophisches Problem. Aber ganz ähnlich funktionieren viele Hochrechnungen des Kapitals. Zwar nicht so primitiv wie das angeführte Beispiel, sie sind komplexerer Architektur. Da werden fensterlose Pyramiden mit versteckten Kammern, dunklen Kanälen, Labyrinthen, Schlupflöchern, Falltüren und Spiegelkabinetten gebaut. Glänzende Postkarten besorgen die PR. Die tatsächlichen Konstruktionen sind also viel abgedrehter, so dass zum Schluss oft niemand mehr durchblickt. Glasperlenspieler sitzen um eine Illusionsmaschine, deren Betätigung aber Waren und Dienste bewegt und somit selbst real sein muss, denn sonst könnte sie das doch nicht bewerkstelligen. Oder? Das mag tautologisch sein, aber nicht anders ist die Logik eines sich entrückenden Kapitals.
Im bürgerlichen Himmel fortwährender Geldzirkulation ist der Phantasie keine Grenze gezogen. Sich vorzustellen, dass hier zukünftig irgendwelche weltlichen Aufsichtsbehörden gleich Fetischbeschwörungspolizisten den Ton angeben und sagen, was erlaubt ist und was nicht, ist töricht. Das wird es nicht spielen, weil es das gar nicht spielen kann. Transparenz und Kontrolle sind dem Kapital wesensfremd. Es kann nur bestehen und sich entwickeln als private „Black Box“, wo Geschäftsergebnisse, also nackte Zahlen interessieren, nicht deren Zustandekommen und deren Ingredienzien, also die lebendigen Prozesse. Wir haben auch nicht zu wissen, wir haben selbst so zu handeln und zu kaufen. Und wenn wir dann doch was erfahren, was wir nicht wissen sollten, dann haben wir aufgeregt „Skandal!“ zu schreien, um in aller Ohnmacht das Ideelle gegen das Reelle anzuflehen.
Die mentale Basis des fiktiven Kapitals ist Realhalluzination. Nichtvorhandenes Geld kauft real vorhandene Ware. Der Kapitalismus ist in ein autosuggestives Stadium getreten. Aber selbst die, die das spüren, misstrauen dem und verdrängen das, weil sie, obwohl sie nicht mehr glauben können, glauben müssen. Woran sollen sie sonst glauben? Diesen Glauben in Frage zu stellen, hieße, unsere ganze Konstitution über den Haufen zu werfen. Das Dogma kapitalistischer Metaphysik lautet: Die Leute müssen daran glauben! Sie tun das, in doppeltem Sinne. Gegenwärtig ist zwar vieles erschüttert, aber der schiere Glaube an das Geld als Form gesellschaftlichen Stoffwechsels, der ist selbst in Zeiten der großen Verunsicherungen, vorerst unangefochten geblieben. Alle versuchen sich nicht vom Geld zu retten, sondern ins Geld. Jedes Kind meint zu wissen, dass Geld nur dann eine Bedrohung ist, wenn eins zu wenig davon hat.
Im fiktiven Kapital träumt das Kapital seinen ureigenen Traum. Völlig unabhängig von seinen Produktionsgrundlagen agiert es losgelöst von seinen stofflichen Resten, wird Geist, dass es geistlicher gar nicht mehr geht. Das Kapital hat sich von der Arbeit „befreit“, ist zu sich selbst gekommen, ist reine Geldbewegung. Losigkeit in Zahlen und Kurven. Eine Hochschaubahn, die erst während der Fahrt ihre Schienen plant und baut. Vor allem in der Wirtschaftsstatistik – und das betrifft auch Aktienkurse – stellt Ökonomie nichts anderes dar als hochgefahrene Daten fiktiver Ketten: Attrappenkapital. Indes, wenn viele glauben, da seien keine Attrappen, dann sind da keine Attrappen, auch wenn es Attrappen sind. Wiederum wird durch synthetische Übereinkunft Nicht-Existierendes existent. Wahrlich, der Glaube kann Zwerge versetzen.
Es ist wie beim Fernsehen: Auch da vermögen wir in den gelieferten Bildern reale Gebäude von Kulissen in keiner Weise zu unterscheiden. Es ist naheliegend, das fiktive Kapital mit den Fiktionen in Televison und Unterhaltung, Werbung und Alltag kurz zu schließen, d.h. die mentalen Beschaffenheiten mit den ökonomischen Grundlagen in Verbindung zu setzen. Es sind wohl mehr als zufällige Parallelen, die sich da in den diversen Sphären auftun. Kritik der politischen Ökonomie heißt mehr denn je den ideologischen Charakter einer irren Kommunikationsform offen zu legen. Der Ökonomie ist nicht ökonomisch zu begegnen bzw. beizukommen.
Schulden entstehen durch Kauf ohne Zahlung oder wenn eine Zahlung zwar geleistet, aber mit fremdem Geld bedient wird. In der Ökonomie meinen Schulden das Noch-nicht-Bezahlte. Kauf und Zahlung fallen auseinander. Entschuldung erfolgt durch Zahlung. Die Fiktion besteht darin, dass beide Seiten von der Kreditwürdigkeit des Schuldners ausgehen, insbesondere freilich der Gläubiger. Er muss darauf spekulieren, nur so kann er selbst Geschäfte tätigen und Gewinne lukrieren. Ohne Schulden läuft heute gar nichts. Sie sind das Treibmittel der Ökonomie.
Es ist bezeichnend, dass der Schuldige in der politischen Ökonomie als Schuldner erscheint. Schuld ist verbunden mit einer Personalisierung von Defiziten, schnell wird man vom Zahlungsunfähigen zum Zahlungsunwilligen und so zum Bösen und Üblen. Und da sind sie sich einig von links bis rechts, auch wenn sie stets verschiedene Schuldige finden und unterschiedliche Gerechtigkeiten einfordern. Die Begriffe Schuld, Schulden, Schuldige treiben nun schon Jahrhunderte ein Verwesen, das stark nach Leichen riecht, weil es fortwährend welche produziert. Die aktuelle Dynamik der globalisierten Wirtschaft spitzt das noch zu: Mächtige Konzerne, mittlere Betriebe und auch immer mehr Einzelpersonen schlittern in den Konkurs. Dies noch produktive Zerstörung zu nennen gleicht einem Euphemismus.
Zweifellos, der Schuldner ist ein Schuldiger, er hat zu zahlen. Kann er nicht mehr, ist sein Status als Wirtschaftssubjekt in Frage gestellt. Wenn allerdings nicht nur kleine Fische, sondern Unternehmen, Banken, Versicherungen oder gar Staaten zahlungsunfähig werden, dann wird es gefährlich für die herrschende Ordnung, denn als gesamtgesellschaftliches Aggregat, als Wirtschaftsobjekt ist es auf Zahlungsfähigkeit aufgebaut, und kann diese nicht ewig durch Hin- und Herschieben, durch Umgruppieren oder noch gewagtere fiskalische Machenschaften, also Täuschungs- und Ablenkungsmanöver mannigfaltiger Art, substituieren. Die Zeitstreckungen sind begrenzt und die Raumplatzierungen ebenso.
Das Versprechen der fälligen Abdeckung ist inzwischen an zu vielen Stellen porös geworden. Liquidität ist oft nicht mehr gegeben, sodass ein System der Umschuldung jenes der Entschuldung abgelöst hat. Umschuldung meint nichts anderes als die Schulden A durch die Schulden B zu ersetzen, etwa die Außenstände auf der Kreditkarte C mit der neu besorgten D abzugelten. Nicht mehr herstellbare Zahlungsfähigkeit simuliert sich in diversen Rechenkünsten und Versteckspielen. Umschuldung ist aber nichts anderes als Vertröstung auf Entschuldung, kann diese letztlich nicht ersetzen. Sie benennt die Verpflichtungen um und verlegt das, was morgen zu zahlen ist auf übermorgen, und das, was übermorgen gezahlt werden soll auf überübermorgen…
Das Börsenspiel ist ein großes Monopoly. Alle spielen mit, nicht nur windige Börsenhaie und wendige Junghechte, alle tierischen Charaktere sind vertreten: Karpfen, Frösche, Rinder, Hirsche, Spatzen, Habichte, Krokodile, Eichkätzchen, Kreuzottern, Motten und viele viele Mäuse, die sich insgeheim für Ratten halten, aber das nicht laut sagen. Die zu Schaden gekommenen Kleinaktionäre, die Pensionsglücksritter und Lebensversicherungskünstler waren nichts anderes als Möchtegernmitspekulanten, die sich jetzt ärgern, dass das Spiel anders gelaufen ist, als die Berater ihnen und sie sich selbst versprochen haben.
Selten folgt Kritik der eigenen Beschränktheit, sondern meist das dumpfe Ressentiment gegen üble Mitspieler. Nicht das Spiel halten sie für übel, sondern nur, dass man ihnen übel mitgespielt hat. Die, die gerne Diebe gewesen wären, fühlen sich ausgeraubt. Nun schreien sie nach Gerechtigkeit. Fiktionen werden nicht verworfen, sondern neue gesucht. Denn mit dem Markt habe das alles nichts zu tun, fein säuberlich meinen sie edle Ritter von bösen Raubrittern auseinander halten zu können.
Zwischen Betrag und Betrug, da ist der Unterschied ein kleiner Selbstlaut und dem ist auch inhaltlich so. Beide sind Abpressungen, wenngleich der Betrag unter freiwillig firmiert, der Betrug aber unter unwillig. Wobei das Unwillige sich erst a posteriori als solches herausstellt, und somit sich auch diesbezüglich nicht fundamental von vielen anderen Fehlkäufen abhebt. Diese Differenz ist schon deswegen minimal, weil via Reklame man den Leuten stets etwas andrehen wird müssen. Zu kaufen, was man nicht braucht oder will, ist obligat. Jeder Trottel beherrscht diese Kunst. Das Angeschmiert-Sein, wie oft erleben wir es? Trügerische und betrügerische Komponenten sind beim Spiel mit Fiktionen, also bei allen ökonomischen Aktivitäten ehern vorhanden. Nicht wenige nennen das Geschäftstüchtigkeit und hätten gern mehr davon.
Kredite, das lehrt auch diese Krise, sind organischer Bestandteil des Kapitals und können daher zu faulen beginnen. Die Frage ist nur, fault der Kern oder ist er wie alle Apologeten behaupten, noch kerngesund. Es ist wohl so, dass nicht nur einige Kredite faul sind. Morsch sind die Balken und Stützen des Systems. Immer weniger überzeugt die vermeintliche Festigkeit. Der Kapitalismus bewegt sich wohl im Zustand einer modernden Moderne. Dagegen helfen nur neue Duftformate. Wir sind auf Blasensuche.
Geldeigner befinden sich zur Zeit in einer komischen Situation. Geben sie es auf der einen Seite aus, das Geld, kommt es möglicherweise auf der anderen nie wieder zurück. Halten sie es jedoch fest, fürchten sie (mehr instinktiv als bewusst), dass es gleich anderen Anlagen verfallen könnte. Wahrlich, die Geschäftsgrundlagen, die wanken. Aufgabe der ideologischen Apparate ist es, die Verunsicherung zu eskamotieren. Da helfen nur noch Fürbitten in der Art: „Mehr Stimmung bitte! Auf das richtige ‚mindset’ kommt es an.“ (Die Presse, 15. März 2009, Karrieren Beilage) Im autosuggestiven Stadium geht Innovation in Animation über. Das aktuelle Beispiel etwa sind die Verschrottungsprämien für Altautos und Anreize verschiedenster Art, nur um das Geld ja zirkulieren zu lassen. Politik und Medien sind fieberhaft auf Blasensuche.
So will das bürgerliche Gemüt die Blasenstörungen auch nicht als Platzen von Organen wahrnehmen, sondern bloß als zeitweiligen Blasenkatarrh. Es mag zwar brennen, einiges Kapital sogar verbrennen, aber morgen, nach der Kur mit Blasentee Marke Earl Keynes wird alles wieder ganz normal laufen. „Das Weltfinanzsystem – vom Absturz zum Neuanfang. Ist ethisches Investment ein Ausweg aus der Krise?“, lautet eines dieser typischen Symposien, wie sie jetzt laufend abgehalten werden. Und es ist auch nicht gänzlich auszuschließen, dass staatlich oder gar überstaatlich organisierte Megablasen entstehen und ein Stück weit die Menschen mit neuem Kredit erfüllen können. In der Wirtschaft sei vieles Psychologie, sagen die Vertreter der ersteren. Dem ist noch viel mehr so. Eifrig wird diskutiert, welche Narkose noch wirken könnte. An welche Blasen gedenken wir noch zu glauben?
Am Wichtigsten ist jetzt die Rekonsolidierung der Kreditwürdigkeit. Daher tritt die öffentliche Hand auf den Plan, um die unsichtbaren Hände des Markts wieder zum Handeln zu bringen. Der viel gescholtene Staat hat jetzt Vertrauen zu schaffen mit Bürgschaften und Unterstützungen, also einer Sicherung durch Geld, das er zwar nicht hat, aber von dessen Verzinsung er sich sogar Gewinne einredet. Dann, wenn die Krise vorbei ist und alles brav retourniert wird. Notfalls wird Geld gedruckt und gehofft, dass es sich am Finanzmarkt doch noch einmal rechnet. Blasen wir uns nochmals auf.
Dass hingegen die Steuerzahler einspringen könnten, um die drohenden Verluste zu decken, ist unwahrscheinlich, denn woher sollen sie das viele Geld nehmen. Zu Hause drucken? Trotz allem Privatisierungswahn, hat das noch niemand vorgeschlagen. Es ist somit die Frage zu stellen, ob Verluste dieser Dimension überhaupt noch sozialisierbar sind. Ob „Wir zahlen eure Krise nicht“ nicht eher ein Faktum als eine Forderung ist, weil die staatlichen Garantien durch die Steuerzahler nicht mehr aufgebracht werden können. Aber selbst wenn es ginge und man tatsächlich den Leuten das Letzte weg nähme – womit sollen sie dann die Autos und Lebensversicherungen bezahlen? Die Melkkuh ist erschöpft, was also kann man ihr wegschneiden, auf dass die Schulden gedeckt werden, und Staat und Wirtschaft florieren? Brust oder Keule? Der ehemalige österreichische Finanzminister und jetzige Unternehmer Hannes Androsch hat vorgeschlagen mit dem Helikopter über das Land zu fliegen und Geld abzuwerfen. Das ist keineswegs verrückter als das, was sonst läuft. Blasen wir das Geld doch einfach aus den Hubschraubern…
Ein staunendes Publikum sitzt vor der Glotze und sieht wie astronomische Summen verschwinden, andererseits aber immer wieder solche eingefordert und versprochen werden. Geld ist genug da, sagen unbeeindruckt viele Traditionslinke. Aber ob genug oder nicht genug, warum wollen wir (wer auch immer) die Krise eigentlich ausfinanzieren? Warum soll es Opfer geben? Wozu? Was versprechen wir uns davon, wenn alles wieder in geordnete Kostenrechnungen mündet? Einen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz?
aus: Streifzüge 45/2009 (25.03.2009)
Post from: Streifzüge. Liebe Leute: Allein hier zu schreiben, dass wir ein Leben ohne Geld wollen, kostet welches. Wer unsere Texte mag, soll dazu beitragen, dass sie hier (ent)stehen können. Wenn wer sich’s leisten kann. Eh klar. Dann aber seid so lieb: Her mit der Marie! Löst uns aus!
VORLAUF FETISCH Streifzüge 58/2013
von Franz Schandl
Er spukt also wieder in den Hirnen, und er war auch nie ganz draußen. Gemeint ist der Mehrwert, jene Größe, um die es eigentlich gehen soll. Unsere Aufgabe besteht nun darin, die Mehrwertkritik in ihre Schranken zu weisen, sie bloß als das gelten zu lassen, was sie ist, ein integrierter Bestandteil der Wertkritik, nicht ihre Gegensetzung. Wird sie als diese verstanden und gar zum Zentrum der Gesellschaftskritik aufgeblasen, dann ist sie als eine Form verkürzter Kapitalismuskritik zu interpretieren, deren Implikationen alles andere als unproblematisch sind.
Mit Alfred Sohn-Rethel betrachten wir den Zusammenhang von Wert und Mehrwert wie folgt: “Denn damit die Produktion Mehrwert erzeuge, wird offenbar vorausgesetzt, dass die Produkte die Wertform haben, und das eigentliche Problem des Mehrwerts liegt daher nicht in der Produktion, sondern in dieser Wertform der Produkte. Nur weil der Produktion im Kapitalismus das Wertgesetz auferlegt ist, macht die Seinswirklichkeit der Produktion sich gerade gegen die Wertform durch den Widerspruch des Mehrwerts geltend. Was wir daher allein überhaupt analysieren können, ist immer nur die Wertform und ihr Ursprung.” (Soziologische Theorie der Erkenntnis (1936), Frankfurt am Main 1985, S. 110) Analytisch ist es nur so zu fassen: Nicht der Wert hat im Mehrwert ein äußeres Problem, sondern der Mehrwert ist zweifellos eine durch den Wert gesetzte Kategorie. Mehrwert ist bloß MehrWert; ein Komparativ ohne selbständigen Charakter und unabhängige Qualität. Ein Schlüssel zum Kapital mag im Mehrwert liegen, aber der Schlüssel zum Mehrwert liegt im Wert.
Mehrwert kann ohne Wert nicht gedacht werden. Jener ist eine abgeleitete Größe, ein Aspekt desselben, nichts Eigenständiges, schon gar nicht das, was die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse definiert. Der Mehrwert ist auch nichts, was den Wert verzerrt, sondern etwas, das diesen hinsichtlich der Vernutzung menschlicher Arbeitskraft zum Ausdruck bringt. Nicht der Wert der menschlichen Arbeit ist einzufordern – denn der Wert der menschlichen Arbeitskraft wird sowieso bezahlt -, sondern Verwertung als auch In-Wert-Setzung menschlicher Tätigkeiten sind kategorisch zu verwerfen.
Akkumulation meint “Kapitalisierung von Mehrwert” (MEW 24: 326). Die Verwertung ist jener Prozess, in dem das konstante Kapital sich Mehrwert einsaugt, aus GG’ wird. Verwertung ist aber mehr und weniger als Mehrwert. Mehr meint jene, weil der gesamte Prozess der Akkumulation damit gekennzeichnet wird, weniger meint sie, weil nicht der gesamte Mehrwert verwertet wird, sondern nur der abzüglich des Konsums der Kapitaleigner. “Ein Teil des Mehrwerts wird vom Kapitalisten als Revenue verzehrt, ein anderer Teil als Kapital angewandt oder akkumuliert.” (MEW 23: 617-618)
Die Kategorien Mehrwert und Verwertung dürfen nicht verwechselt werden, sie bedeuten jeweils Unterschiedliches. Letztere meint den Prozess der Kapitalbildung, ersterer den Zusatz, der diese ermöglicht. Zurecht schreibt Moishe Postone: “Marx analysiert den Verwertungsprozess – den Prozess der Schaffung von Mehrwert – als Prozess der Schaffung von Wert.” (Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx, Freiburg 2003, S. 464)
Karl Marx bezeichnet daher den Wert als “automatisches Subjekt” (MEW 23: 169): “In der Tat aber wird der Wert hier das Subjekt eines Prozesses, worin er unter dem beständigen Wechsel der Formen von Geld und Ware seine Größe selbst verändert, sich als Mehrwert von sich selbst als ursprünglichem Wert abstößt, sich selbst verwertet. Denn die Bewegung, worin der Mehrwert zusetzt, ist seine eigne Bewegung, seine Verwertung also Selbstverwertung. Es hat die okkulte Qualität erhalten, Wert zu setzen, weil er Wert ist.” (Ebenda) Mehrwert ist nichts anderes als das Repellieren und Attrahieren des Werts selbst. Von sich, zu sich, aber immer aus sich. “Das Produkt der kapitalistischen Produktion ist nicht nur Mehrwert, es ist Kapital. Kapital ist, wie wir sahen, G-W-G’, sich selbst verwertender Wert, Wert, der Wert gebiert.” (Karl Marx, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, Archiv sozialistischer Literatur 17, Frankfurt am Main 1969, S. 84)
Ziel des Kapitals ist also die “Verwertung des Werts” (MEW 23: 167), dass aus Wert mehr Wert (nicht: Mehrwert! ) wird, G-W-G’. Der Mehrwert ist aber das Inkrement, das diese Verwertung ermöglicht, das garantiert, dass hinten mehr rauskommt als vorne reingesteckt wurde, dass der Kostpreis der Ware (c+v) geringer ist als der Wert der Ware (c+v+m). Der Mehrwert ist das Inkrement der Verwertung, aber m ist nicht G’, sondern lediglich Dv, das dafür sorgt, dass am Ende nicht bloß wieder G erscheint. Würde der Wert der Ware dem Kostpreis entsprechen, wäre überhaupt keine Akkumulation von Kapital möglich. “Die Formel G… G’ist also charakteristisch, einerseits, dass der Kapitalwert den Ausgangspunkt und der verwertete Kapitalwert den Rückkehrpunkt bildet, so dass der Vorschuss des Kapitalwerts als Mittel, der verwertete Kapitalwert als Zweck der ganzen Operation erscheint; andrerseits, dass dies Verhältnis in Geldform ausgedrückt ist, der selbständigen Wertform, daher das Geldkapital als Geld heckendes Geld.” (MEW 24: 63)
Der Schlüssel zum Mehrwert liegt darin, dass es eine “Differenz zwischen dem Wert und der Verwertung des Arbeitsvermögens” (MEW 26.1: 13-14) gibt. Der Lohn des Arbeiters deckt den Wert seiner Arbeitskraft, die jedoch als lebendige Arbeit mehr Wert bildet, als ihre Arbeitskraft gekostet hat. Der Wert der Arbeitskraft ist kleiner als das von ihr erzeugte Wertprodukt. “Der Wert der Arbeitskraft und ihre Verwertung im Arbeitsprozess sind also zwei verschiedne Größen. Diese Wertdifferenz hatte der Kapitalist im Auge, als er die Arbeitskraft kaufte.” (MEW 23: 208) “Vergleichen wir nun den Wertbildungsprozess und Verwertungsprozess, so ist der Verwertungsprozess nichts als über einen gewissen Punkt hinaus verlängerter Wertbildungsprozess. Dauert der letztre nur bis zu dem Punkt, wo der vom Kapital gezahlte Wert der Arbeitskraft durch ein neues Äquivalent ersetzt ist, so ist er einfacher Wertbildungsprozess. Dauert der Wertbildungsprozess über diesen Punkt hinaus, so wird er Verwertungsprozess.” (MEW 23: 209)
Marx noch deutlicher: “Die in den Produktionsmitteln bereits enthaltene Arbeit ist dieselbe wie die neu zugesetzte. Sie unterscheiden sich nur dadurch, dass die eine vergegenständlicht ist in Gebrauchswerten und die andre im Prozess dieser Vergegenständlichung begriffen, die eine vergangen, die andre gegenwärtig, die eine tot, die andre lebendig, die eine vergegenständlicht im Perfektum, die andre sich vergegenständlichend im Präsens ist. Im Umfang, worin die vergegenständlichte Arbeit lebendige ersetzt, wird sie selbst ein Prozess, verwertet sie sich, wird sie ein Fluens, das eine Fluxion schafft. Dieses ihr Einsaugen zusätzlicher lebendiger Arbeit ist ihr Selbstverwertungsprozess, ihre wirkliche Verwandlung in Kapital, in sich selbst verwertenden Wert, ihre Verwandlung aus einer konstanten Wertgröße in eine variable und prozessierendeWertgröße. Allerdings kann diese zusätzliche Arbeit nur in der Gestalt konkreter Arbeit und daher den Produktionsmitteln nur in ihrer spezifischen Gestalt als besonderen Gebrauchswerten zugesetzt werden und wird auch der in diesen Produktionsmitteln enthaltene Wert nur durch ihren Konsum als Arbeitsmittel durch die konkrete Arbeit erhalten.” (Karl Marx, Resultate, S. 21-22. )
Der spezifische Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft liegt darin, dass sie als Arbeit im Produktionsprozess mehr Wert erzeugt als sie in der Zirkulation kostete. Das Geheimnis lässt sich so ausdrücken: Die Konsumtion des Gebrauchswerts der Arbeit durch das konstante Kapital erzeugt mehr Tauschwert als diese zuvor hatte. Gekauft wird diese Ware ob ihres eigentümlichen Gebrauchwerts mehr Tauschwert abzuwerfen als sie gekostet hat. “Wie den Warenbesitzer der Gebrauchswert der Ware nur als Träger ihres Tauschwerts interessiert, so den Kapitalisten der Arbeitsprozess nur als Träger und Mittel des Verwertungsprozesses.” (Marx, Resultate, S. 38)
Mit jeder Ware wird etwas gekauft, das produziert wurde und via Markt für die Konsumtion freigegeben wird. Im Prinzip trifft das auch auf die Ware Arbeitskraft zu. Nur: In der Ware Arbeitskraft wird etwas getauscht, das zwar produziert wurde, aber in futurum noch produzierend tätig wird. Die Ware Arbeitskraft ist die einzige, bei deren Konsum Tauschwert und Gebrauchswert nicht untergehen, sondern neu erschaffen werden und nicht bloß als Reproduktion, sondern als Zusatz, durch produktive Arbeit. Im Gegensatz zu jedem anderen Produkt toter Arbeit ist die Arbeitskraft tote Arbeit, die lebendige Arbeit emaniert, somit etwas Produziertes Produzierendes. Sie ist das Fertige, das weiter fertigt. Das ihr Vorausgesetzte setzt mit dem Tausch nicht aus, sondern es setzt nochmals ein. Das natürlich ist Okkultismus pur.
Interessenslagen sind komplizierter, nicht so eindeutig, wie man allgemein annimmt. Den einzelnen Arbeiter interessiert am Wert seiner Ware Arbeitskraft in erster Linie einmal die Höhe des Lohnes; je mehr er erhält, desto mehr kann er sich leisten, desto gesellschaftsfähiger ist er. Gleichzeitig interessiert ihn aber an der Höhe der zu bezahlenden Preise das andere Extrem, sie sollen niedrig sein. Da die Preise aber nichts anderes sind als transformierte Löhne, ist er indirekt für niedrige Löhne. Was meint: Er darf jenen nicht gönnen, was er selbst haben will. Darin liegt der Grundfunke der Konkurrenzsubjektivität, wir könnten durchaus von einem mentalen (wenn auch gesellschaftlichen) Apriori unserer Seele sprechen, dem wir uns praktisch kaum entziehen können. Solche fundamentale Widersprüche hausen also im einzelnen Produzenten wie im einzelnen Marktteilnehmer selbst. Bürgerliche Gesellschaftlichkeit bedeutet den Bestand anderer zu gefährden um selbst bestehen zu können.
Den Kapitalisten hingegen interessieren am Preis seiner Waren primär Rate und Masse des Mehrwerts, die er sich anzueignen versteht, er will den Mehrwert steigern, nicht den Wert, im Gegenteil, Tauschwert und Preis als dessen letzte Formen möchte er im Normalfall senken. Er will den Arbeitslohn niedrig halten, andererseits muss er aber auch dafür Sorge tragen, dass die Beschäftigten die hergestellten Produkte bezahlen können. Puncto Arbeitskraft will er billig einkaufen (aber auch nicht zu billig); Produkte und Leistungen wiederum möchte er ebenfalls so teuer als möglich und so billig als möglich verkaufen. Auf dieser Ebene blühen Kalkulation und Spekulation, ebenso immanentes Rüstzeug und nicht unfreundliche oder gar externe Beigabe.
Und man kann die Sache noch weiterspinnen: Einerseits ist der Besitzer der Ware Arbeitskraft interessiert, dass sein v groß ist, andererseits muss er aber auch mittelbares Interesse haben, dass Profite (= realisierte Mehrwerte) gemacht werden, denn ohne m gibt es keine funktionierende Akkumulation, somit auch keinen Investitionsspielraum, somit auch keine Möglichkeiten den Kostpreis zu senken und in der Konkurrenz bestehen zu können, somit auch keine Arbeitsplätze, also kein v. Man kann es drehen und wenden wie man will: Konstantes wie variables Kapital, c wie v sind elementar an die Akkumulation gebunden. Sie backen den gleichen Kuchen, Ware genannt, aber sie streiten um die Stücke, Klassenkampf geheißen. In C konzentriert sich ihr gemeinsames Interesse, in c: v: m das jeweilige spezielle Interesse. Aber letztlich ist es ein Ritual, ein Tanz um das goldene Kalb des Werts, dem alles geopfert wird, das selbst aber ein Tabu darstellt.
Würden die Arbeiter 20 Prozent mehr Lohn erhalten, wäre ihre soziale Lage nicht verbessert, und nicht nur weil die Preise dann um 20 Prozent ansteigen würden. Sonst bräuchte man ja wirklich bloß Geld zu drucken und zu verteilen. Aber gesetzt den irregulären Fall, die Preise würden nicht steigen, die irreale Umverteilung wäre real möglich, dann würde die Investitionstätigkeit des Kapitals rapide absinken, da ja die nötige Profitmasse, um ökonomisch als Unternehmen bestehen zu können, nicht mehr vorhanden wäre. Fazit: Die immanenten Schranken des Klassenkampfs sind nicht zu durchbrechen. Werden sie aber durchbrochen, wäre es kein Klassenkampf mehr.
Ausbeutung ist eine moralisch aufgeladene Kategorie, die jedoch wenig begreift. Das gesellschaftliche Grundverhältnis, die Produktion von Waren und der Zwang zum Tausch, wird darin überhaupt nicht tangiert. Implizit wird nichts anderes als Gerechtigkeit eingeklagt. Ausbeutung beschreibt aber nur einen Aspekt des kapitalistischen Universums, nimmt Produktionsverhältnis, Zirkulationsweise und Konsumtion nicht als Totalität wahr.
Unterstellt wird, dass jemanden etwas genommen wird, was ihm eigentlich zustünde, worüber sodann andere verfügen. Es hat was von Diebstahl und gegen Diebstahl hat eins als braver Bürger zu sein. Karl Marx schreibt in seinen “Randglossen zu Wagner” (1879/80): “Dunkelmann schiebt mir unter, dass , der von den Arbeitern allein produzierte Mehrwert dem kapitalistischen Unternehmern ungebührlicher Weise verbliebe’. Nun sage ich das direkte Gegenteil; nämlich, dass die Warenproduktion notwendig auf einem gewissen Punkt zur , kapitalistischen’ Warenproduktion wird. Und dass nach dem sie beherrschenden Wertgesetz der , Mehrwert’ dem Kapitalisten gebührt und nicht dem Arbeiter.” (MEW 19: 382) “Ich stelle umgekehrt den Kapitalisten als notwendigen Funktionär der kapitalistischen Produktion dar und zeige sehr weitläufig dar, dass er nicht nur , abzieht’ oder , raubt’, sondern die Produktion des Mehrwerts erzwingt, also das Abzuziehende erst schaffen hilft; ich zeige ferner ausführlich nach, dass, selbst wenn im Warenaustausch nur Äquivalente sich austauschen, der Kapitalist – sobald er dem Arbeiter den wirklichen Wert seiner Arbeitskraft zahlt – mit vollem Recht, d. h. dem dieser Produktionsweise entsprechenden Recht, den Mehrwert gewänne.” (MEW 19: 359)
Mehrwert meint nicht Unrecht, sondern Recht. Der Kapitalismus ist “unmoralisch”, aber nicht weil er gegen die bürgerliche Moral verstößt, sondern weil er sie erfüllt. Dunkelmanns Interpretation wurde zur allgemeinen Sichtweise in der Arbeiterbewegung. Als zentrales Kennzeichen des Kapitalismus wird von den Traditionsmarxisten aller Coleur so nicht die Verallgemeinerung der Warenproduktion gesehen resp. der Wert als das totalisierende Prinzip, sondern die Enteignung der Arbeiterklasse von den Produktionsmitteln. Die Forderung nach der Vergesellschaftung des Privateigentums an Produktionsmitteln (die entsprechend eingebettet keine falsche ist) wurde zur zentralen Losung aller Reformisten und Revolutionäre. In trauter Eintracht glaubte man an die Verfügungsgewalt der Kapitalisten über die Produktionsmittel. Indes stellt diese lediglich eine Fügungspflicht dar. Nicht das Kapital ist abhängig von den Kapitalisten, sondern die Kapitalisten vom Kapital.
Mehrwertkritik macht aus der kapitalistischen Nötigung, sich verkaufen zu müssen eine klassenkämpferische Tugend sich teuer verkaufen zu sollen. Das nennt sich dann konsequente Interessenspolitik. Schlimm ist allerdings nicht, dass irgendein Lohn zu niedrig ist (das ist wohl jeder und keiner), schlimm ist, dass es überhaupt einen Lohn (oder eine andere Form der Geldgewinnung) geben muss, um sich die gesellschaftlichen Produkte und Dienstleistungen aneignen zu können.
Mehrwertkritik ist verkürzte Kapitalismuskritik, sie richtet sich gegen Ausbeutung und Plusmacherei, stellt aber Beute und Macherei nicht in Frage. Größtenteils ist sie blind. Sie sagt nichts zur Zwangsform des Tausches, nichts zu den kapitalistischen Konsumverpflichtungen, nichts zum Charakter der Gebrauchwerte und den aus ihm folgenden ökologischen Katastrophen. Sie hat kein analytisches Instrumentarium dafür, allenfalls werden diese Zustände beklagt.
Wer die Klassen nicht als unterschiedliche Pole eines Ganzen begreift, sondern als antagonistisches Grundverhältnis inszeniert, muss geradezu den Mehrwert als dem Kapital von außen Zugeschossenes betrachten, also eben nicht als etwas, was aus dem Kapitalverhältnis originär hervorgeht. Allzu oft hat man das Gefühl, dass alles seine Ordnung hätte, wäre der Mehrwert ein bloßer Wert und kein zu verwertender Wert. Und genau das ist der Standpunkt der “ehrlichen Arbeit”: Sie will Wert haben ohne Mehrwert zu geben. Mit der bornierten Kritik des Mehrwerts wird der Wert geradezu affirmiert, während mit einer fundamentalen Kritik des Werts der Mehrwert gleich miterledigt werden würde.
Die aktuellen, auf einer wie immer verschwommenen Mehrwertkritik aufbauenden Einwände gegen bestimmte kapitalistische Machenschaften bewegen sich allesamt auf dem Niveau oberflächlicher Volksvorurteile. Der marktwirtschaftliche Grundmechanismus wird einfach eskamotiert, dafür wird umso frenetischer geschrieen: ” Geld ist genug da! ” Kapitalismus wird so auf die Ebene von Vorenthaltung und Betrug, von Schuldigen und Unschuldigen herunterphantasiert. Einmal mehr wird die “ehrliche Arbeit” betrogen. Womit aber nicht gesagt werden soll, dass Mehrwertkritik a priori zum Antisemitismus tendiere, wohl aber, dass diese Art der Empörung in diese Richtung anschlussfähig ist. Der Antisemitismus spürt das und knüpft an diesen Vorurteilen an; in seinem Sinn zurecht. Er pervertiert das Anliegen nicht, er spitzt es bis zur kenntlichen Ungeheuerlichkeit zu.
Kritik des Mehrwerts ist der generell falsche Fokus der Gesellschaftskritik. Er drückt Arbeiterinteressen aus, aber nicht Interessen wider die Arbeit. Die Arbeit wird als eherne Instanz gar aus der bösen Welt des Kapitals herausgenommen, so als sei jene nicht immanenter Bestandteil, sondern ein drangsaliertes Außen, das es zu befreien gilt. Wir sind ganz v und wollen mehr vom m. Nichts anderes sagt übrigens auch c. Darin besteht ja unter anderem die eherne Interessenskonformität von Arbeit und Kapital. In der Zwischenzeit ist man übrigens schon dazu übergegangen, sich ganz auf v zu kaprizieren, “Hauptsache Arbeit”, schreit das durch ebendiese geschundene Subjekt. Und es stimmt ja auch: Ohne v zu sein, gibt es auch gar keinen Kampf mehr um m.
Eins hat jedenfalls auf der richtigen Seite zu stehen. Sich mit den Unterdrückten solidarisieren bedeutet so oft auch mehr für die Unterdrückten als gegen die Unterdrückung zu sein, meint weiters, dass deren Positionierung als positiver Status anerkannt wird. Vom Arbeitertümeln bis zum “kleinen Mann” reicht da eine breite Palette. Das Erniedrigte wird erhöht anstatt abgeschafft. Der antikapitalistische Kampf ist somit auch kein Kampf gegen Unternehmer oder Bosse, sondern gegen die Zwangscharaktermasken von Arbeitern und Unternehmern, von Proletariat und Bourgeoisie, wobei da heute sowieso die Unterschiede verschwimmen, vor allem kein sozialer Status damit mehr vorprogrammiert ist.
Zins ist nichts anderes als “eine besondere Rubrik für einen Teil des Profits, den das fungierende Kapital, statt in die eigene Tasche zu stecken, an den Eigner des Kapitals wegzuzahlen hat”. (MEW 25: 351) Ganz primitiv: Zinsen erhält man nicht, weil das Geld auf der Bank liegt, sondern weil es zwischenzeitlich im produktiven Sektor angewendet wird; zumindest solange wir uns im realen und nicht im fiktiven Bereich der Ökonomie befinden.
“Im zinstragenden Kapital erreicht das Kapitalverhältnis seine äußerlichste und fetischartigste Form. Wir haben hier G-G’, Geld, das mehr Geld erzeugt, sich selbst verwertender Wert, ohne den Prozess, der die beiden Extreme vermittelt.” (MEW 25: 404) Daher kann das “zinstragende Kapital überhaupt als Mutter aller verrückten Formen” (MEW 25: 483) gelten. Womit wohl auch die Denkformen gemeint sind, die es reproduziert. Das bürgerliche Subjekt dokumentiert unaufhörlich, dass es mit den Abstraktionen von Geld und Wert nicht zurechtkommt und es daher entweder schweigt (“Über Geld spricht man nicht, man hat es” – so eine Standardformel des liberalen Unsinns) oder sich irgendetwas zusammenhalluziniert. Es ist das Unvermögen die gesellschaftlichen Verhältnisse zu durchschauen.
Zinskritik ist nichts anderes als verwandelte Mehrwertkritik. Sie blendet noch zusätzlich die gesamte Produktionsweise als unproblematisch aus und fixiert sich ganz auf den finanziellen “Überbau”. Dass gearbeitet werden muss, ist kein Problem. Wie gearbeitet werden muss, ist kein Problem. Was produziert wird, ebenfalls keines. Eine Aussage wie “Die Banken zocken uns ab” ist richtig und wiederum nicht. Richtig ist sie, wenn sie das Finanzkapital als besondere Abteilung aber integrierte Funktion des Kapitals und den Zins als verwandelten Mehrwert beschreibt; falsch ist sie, wo sie den Zins als das eigentliche Problem der Enteignung der Menschen dingfest machen will und sich dann noch dunkle Machenschaften von Konzernen, Spekulanten oder gar Juden zusammenreimt.
Dass Sparer und Aktionäre genau das wollen, was sie als Kreditnehmer und Kunde so verachten, sei der Vollständigkeit halber angeführt. Indes reproduziert sich da nur das eherne Grundprinzip der Tauschgegner auf einer bestimmten Ebene: Billig kaufen, teuer verkaufen. Und glaubt eins (was es ja andauernd glaubt), dass es einem umgekehrt passiert, ist es stinksauer: “Solche Gauner! ” Und das ist wiederum auch nicht ganz falsch: Wenn die Leute von den anderen als eine “Ausgeburt von Lumpen” reden, haben sie schon recht, nur sind sie selbst nichts anderes als diese. Sollen nur jene sie sein, sind sie gegen diese in Schutz zu nehmen. Ebenso umgekehrt. Aber insgesamt: Angriff!
Natürlich gibt es dunkle Machenschaften, die ganze Rationalität des Kapitalismus ist eine dunkle Machenschaft, aber eben als Verhältnis und nicht als Kreation irgendwelcher Geheimorden oder Kapitaleigner, die die Fäden im Hintergrund ziehen. Vielmehr ziehen die Fäden die Macher, selbst dann, wenn die sich einbilden, es sei ihr ureigenstes Tun, das diese oder jene Folgen tätigt. Diese “okkulte Qualität” (Marx) einigen Personen zuzuschieben ist das elendigliche Gesellschaftsspiel falscher Selbstbehauptung wie falschen Aufbegehrens. Indes darf aber puncto Letzterem nur dessen Falschheit, nicht aber das Aufbegehren gegen das Leiden durchgestrichen werden. Die Empörung über die Verhältnisse kennt viele gute Gründe. Emanzipatorische Kritik kann nicht darauf verzichten, das Finanz- und Kaufmannskapital zum Gegenstand zu machen, es darf ob des Gefahrenpotenzials nicht aus der Gesellschaftskritik herausgenommen werden. Es ist nicht eine Frage des “ob”, sondern eine des “wie”.
Für alle Marxisten war der Mehrwert die entscheidende Größe zur Analyse der kapitalistischen Produktion. Er galt nicht bloß als Inkrement zur Verwertung des Werts, sondern war überhaupt das Synonym für jene. Klassisch sind etwa die Ausführungen von Friedrich Engels im Vorwort zum Zweiten Band des Kapitals von 1884 (MEW 24: 17ff. ); aber selbst der späte Adorno meinte noch, das “Kernstück der Marxischen Theorie” sei die “Lehre vom Mehrwert”. (GS 8: 359)
Daran hat sich auch heute noch wenig geändert. Man werfe einen Blick in die einschlägigen Dokumente von Attac oder diversen Sozialforen, Gewerkschaften, Reformkommunisten oder Trotzkisten. Bei aller Differenz wird die “soziale Frage” dort immer noch und immer wieder unter den Prämissen der Mehrwertkritik entwickelt. Der zentrale Knackpunkt heutiger Sozialkritik ist aber der: Gelingt es von der Mehrwertkritik zur Wertkritik aufzusteigen? Nichts weniger als dieser qualitative Sprung ist erforderlich. Das wäre wirklich der Schritt vom Klassenbewusstsein (ein Terminus, den es bei Marx nicht gibt) hin zum “enormen Bewusstsein” (Marx).
aus: Streifzüge 30/2004 (1.4.2004)
Post from: Streifzüge. Liebe Leute: Allein hier zu schreiben, dass wir ein Leben ohne Geld wollen, kostet welches. Wer unsere Texte mag, soll dazu beitragen, dass sie hier (ent)stehen können. Wenn wer sich’s leisten kann. Eh klar. Dann aber seid so lieb: Her mit der Marie! Löst uns aus!
AUS AKTUELLEM ANLASS
Streifzüge 54/2012
von Franz Schandl
„Wer sollte nicht Reichtümer ganz entbehren, die doch nur elend machen und entehren?“
(William Shakespeare, Timon von Athen IV/3, übers. von Erich Fried, Band 3, S. 339)
Gemeinhin gilt Geld als zivilisatorische Errungenschaft schlechthin. Einmal geschaffen kann es nie wieder abgeschafft werden. „Geld ist instituierte Selbstreferenz“, schreibt Niklas Luhmann (Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1988, S. 16). Via Geld bestätigt sich das System seine Läufigkeit. „In diesem System ermöglichen Zahlungen Zahlungen. Dadurch ist eine im Prinzip unbegrenzte Zukunft eingebaut. Alle Dispositionen im System sichern zugleich die Zukunft des Systems. Jenseits aller Ziele, aller Gewinne, aller Befriedigung geht es immer weiter. Das System kann sich nicht beenden, da der Sinn des Geldes im Ausgeben des Geldes liegt.“ (S. 65) Wir leben also in einem System, das „Zukunftssicherheit in der Form der Zahlungsfähigkeit garantiert“ (S. 66).
In der Zahlung vermittelt sich Geld als abstrakter Reichtum (vgl. MEW 42:160), „das Individuum kann das Geld nur brauchen, wenn es sich seiner entäußert, es als Sein für andres setzt“ (MEW 42:154). „Die besondere Ware, die so das adäquate Dasein des Tauschwerts aller Waren darstellt, oder der Tauschwert der Waren als besondere, ausschließliche Ware ist – Geld.“ (MEW 13:34) Es hat nur Realität in der Zirkulationssphäre, aber eben durch diese Sphäre muss der ganze Warenpöbel gejagt werden.
Geld ist lediglich durch Weggabe (Entäußerung, Verleih) zu gebrauchen. Es kann eigenartigerweise nur konsumiert werden, wenn es seinen Besitzer verlässt. Problematisch ist bloß, wenn die Zahlungsketten stetig unterbrochen werden. Das weiß auch Luhmann: „Ein System, das auf der Basis von Zahlungen als letzten, nicht weiter auflösbaren Elementen errichtet ist, muss daher vor allem für immer neue Zahlungen sorgen. Es würde sonst von einem Moment zum anderen schlicht aufhören zu existieren.“ (S. 17) Den Zusammenbruch im Großen kann, weil darf es nicht geben, obwohl die Zusammenbrüche im Kleinen zu den alltäglichen Schönheiten des Kapitals gehören. „Wer nicht zahlen und was nicht bezahlt werden kann, wird vergessen.“ (S. 19) So weit, so obligat, so zynisch.
Geld trägt Knappheit Rechnung. Es sagt aber weniger, dass etwas knapp ist, als vielmehr, dass etwas knapp zu sein hat. Ist etwas nicht knapp, dann muss Knappheit hergestellt oder simuliert werden. Da der Zugriff auf Ware nur exklusiv durch Geld möglich ist, müssen notfalls auch ganze Gebrauchswertkontingente vernichtet werden, da sie sonst den Preis glattweg ruinieren und das Geschäft empfindlich stören. Stefan Meretz schreibt: „Eine Ware darf nicht frei verfügbar sein, sonst ist sie keine, sie muss knapp sein. Ist sie nicht knapp, wird sie knapp gemacht: weggeschlossen, verschlechtert, vernichtet. Knappheit ist eine geschaffene soziale Form der Warenproduktion, eine Realabstraktion. Sie abstrahiert von wirklichen Begrenztheiten und Vorkommen, um daraus die real wirksame ,Form Knappheit‘ zu machen. Die soziale ,Form Knappheit‘ produziert die Paradoxie des Mangels im Überfluss.“ (Streifzüge 32/2004)
„Geld ist der Triumph der Knappheit über die Gewalt“, sagt Luhmann (S. 253). Er behauptet sogar, dass Geld Gewalt ausschließt (S. 259), und auf einer oberflächlichen Ebene hat das auch was für sich. Geld schließt aber Gewalt nur insofern aus, als es diese bereits integriert hat. Sprich: Geld ist ein kristallisiertes Gewaltverhältnis. Es gibt per Einsatz Verfügung und Fügung vor. Wir erbleichen vor keinem Argument so wie vor diesem. Gewalt ist ausgeschlossen, weil sie eingeschlossen ist. Das heißt aber auch, dass dort, wo diese Integration nicht hält, weil etwa eine Seite sie nicht (mehr) akzeptieren will oder kann, das Gewaltverhältnis wieder unmittelbar aus dem Geld hervorbricht. Geld ist also nicht Überwindung der Gewalt, sondern Kanalisierung. So ist Gewalt nicht etwas, das dem Geld fremd ist, sondern im Gegenteil, es ist das, was seinem innersten Wesen zugrundeliegt. Im Geld wird Gewalt substituiert, keineswegs überwunden. Sie ist aus ihm jederzeit restituierbar. Vor allem dort, wo eins das Privateigentum nicht akzeptieren möchte, wehrt das Geldsystem sich mit dem, was es ist und hat: Gewalt. Dazu hat es ein Monopol herausgebildet, das es seinen jeweiligen Staaten zugeeignet hat.
Gerade Ideologen des Geldes heben den befriedenden Charakter des Geldsystems hervor. Hier scheint sich tatsächlich eine Struktur aufgetan zu haben, die das Kriegen ohne das Bekriegen erlaubt. Doch dieser Schein trügt, und zwar deswegen, weil er nur das Produkt anschauen will und dessen Produktion nicht hinterfragt. Das Werden verschwindet im Resultat. Die Genese hat im Dunkeln zu bleiben. So wird der gesellschaftliche Zwang (Handeln) als ein freies Verhältnis definiert und dessen Vollzug (Kaufen) als freie Entscheidung. Das ist nur möglich, wenn an die Form, in der alles geschieht, kein Gedanke verschwendet werden soll. Denn bloß in der Formierung der Form sind wir frei, die Form selbst ist nicht hintergehbar.
Das Befriedende ist das Unterwerfende. Geld ist also keine Alternative zur Gewalt, sondern deren subtilste Form, dessen gefinkeltstes Substitut, oder in Robert Musils Worten: Das Geld „ist vergeistigte Gewalt, eine geschmeidige, hochentwickelte und schöpferische Spezialform der Gewalt. Beruht nicht das Geschäft auf List und Zwang, auf Übervorteilung und Ausnutzung, nur sind diese zivilisiert, ganz in das Innere des Menschen verlegt, ja geradezu in das Aussehen einer Freiheit gekleidet?“ (Der Mann ohne Eigenschaften I, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 508.)
„Geld ist aber die selbständige handgreifliche Existenzform des Werts, der Wert des Produkts in seiner selbständigen Wertform, worin alle Spur des Gebrauchswerts der Waren ausgelöscht ist.“ (MEW 24:63) Man sieht dem Geld nie an, woher es stammt, noch, was aus ihm noch wird. Es kann alle möglichen Metamorphosen durchlaufen. „Dem Geld ist es durchaus gleichgültig, in welche Sorte von Waren es verwandelt wird.“ (MEW 24:36) Genau diese demokratische Gleichgültigkeit des Geldes ist unmenschlich, sie entpflichtet uns, sich mit den Anliegen und Wünschen, Zuständen und Leiden der anderen zu konfrontieren, sofern diese nicht vermarktet werden können. Geld lehrt, dass die anderen uns egal sein können. Beim Geld hört bekanntlich auch die Freundschaft auf. Geld ist organisierte Verantwortungslosigkeit. Empathie ist außerhalb und hat daher einen schweren Stand.
„Geld entlastet die Gesellschaft von Menschlichkeiten wie Hass und Gewalt“, schreibt Norbert Bolz (Wo Geld fließt, fließt kein Blut, Der Standard, 20. September 2008, S. 47). Abgesehen davon, dass gerade das Geld permanent Neid und Gier, Geiz und Missgunst hervorbringt, ja vor keinem Verbrechen zurückschreckt, ist die Rendite hoch genug, ist es schon interessant, was so einem Medientheoretiker einfällt, wenn er an Menschlichkeiten denkt. Aber der erste Halbsatz stimmt, Geld will tatsächlich von allen Menschlichkeiten entlasten. Bolz führt das auch aus: „Der Kosmos der modernen Wirtschaft besteht also nur aus Ereignissen der Zahlung – nicht mehr aus Menschen.“
Zweifellos, Menschen sind Störfaktoren, vor allem, wenn sie nicht zahlen können, weiß man gar nicht so recht, was man mit ihnen anfangen soll. Da schnürt man etwa ein Sparpaket, und dann hungern diese Leute. Da senkt man die Sozialleistungen, und auf einmal sitzen diese Undankbaren auf der Straße. Der Vorwurf des Schädlings oder des Parasiten ist da nicht weit. Wer nicht zahlungsfähig ist, ist nicht geschäftsfähig. Das Luhmannsche Modell denkt die bürgerliche Gesellschaft als einen formalistischen Zirkel. Der Inhalt besteht in der Funktion. Zahlen oder nicht zahlen, krächzt der Code. Und immerfort. „Um sich in der Wirtschaft zu orientieren, genügt es ja, die Preise zu kennen“, schreibt ein Pseudoprovokateur wie Bolz. Was ist schon so ein Exemplar von einem Menschen gegen das Ereignis einer Zahlung?
Bei Bolz finden sich überhaupt geile Sätze, denn der „Ressentimentlinken“ muss man es gehörig geigen: „Die sozialistische Politik hat lediglich die Menschen von der Regierung abhängig gemacht. Das macht zwar die Sozialhilfeempfänger nicht lebenstüchtiger, hält aber den Sozialstaat in Gang.“ (Wer hat Angst vor der Freiheit?, Die Presse, 15. November 2009). Hier plaudert wirklich einer in einer Terminologie, die ihm gar nicht mehr auffällt, aber die Aversion gegen die Minderleister, die ist offensichtlich: Lebensuntüchtig sind die. Doch damit ist durchaus eine kapitalistische Wahrheit ausgesprochen: Die Wirtschaft ist nicht für die Menschen da. Und wir sind die verrückte Gattung, die sich das gefallen lässt.
Eine alte Geschichte geht so: Das Grundproblem der bürgerlichen Gesellschaften ist die Verteilung der Reichtümer. Die herrschenden Klassen haben zu viel und die beherrschten zu wenig. Geld ist ganz super, wenn alle nur genug davon bekommen. Schließlich gilt es, Kaufkraft zu erhalten, Standorte zu sichern und Wachstum zu ermöglichen. Zentrale Losungen dieser Emanzipation sind Gleichheit und Gerechtigkeit, ihre Mittel sind die ökonomische Umverteilung und die politische Gleichstellung. Es geht um Sozialstaat und Rechtsstaat.
Dieser Kampf war vielfach von Erfolg gekennzeichnet, von der Arbeiterbewegung bis zur Frauenbewegung. Man erstritt sich Zugehörigkeit, und was ist da wichtiger als das Geld, das man dazu benötigt: Es ging darum, mehr zu konsumieren und rechtlich nicht diskriminiert zu werden. Alle anderen gesellschaftlichen Fragen, von der repressiven Produktion und ihren irren Produkten, den schwer belasteten emotionalen Beziehungen bis hin zur Ökologie und ihren Katastrophen waren höchstens Nebenwidersprüche und Nebensächlichkeiten. Die herrschenden Normen waren vorgegeben und wurden nicht angetastet. Alle gesellschaftlichen Bewegungen der Neuzeit blieben letztlich dieser basalen Programmatik verhaftet. Mit Erreichen der Politikfähigkeit wurden überschießende und radikalere Momente und Elemente rechtzeitig gekappt.
Diese alte Geschichte ist brüchig geworden. So richtig begeistern tut sie, sieht man von unentwegten Klassenkämpfern ab, niemanden mehr. Dafür grassiert eine „neue“, die zwar auch nicht so neu ist, aber doch so erscheinen will. Während unsere alte Geschichte das Geld als weitgehend unproblematisch voraussetzte, möchte die neue sich direkt in den Geldprozess einschalten. Geld ist ihr nicht bloß eine Frage von Quantität, sondern auch eine von Qualität. Aber aufgepasst: Die Funktion des Geldes in der Gesellschaft wird in dieser Erzählung dezidiert nicht in Frage gestellt, ja dessen Notwendigkeit wird durch alle Vorschläge frenetisch bejaht. „Über echtes und falsches Geld“, lautet etwa ein prototypischer Artikel unseres Wutbürgers Eugen Maria Schulak in der Wiener Zeitung vom 4. März 2009.
Wenig hat heute so Konjunktur wie die Geldpfuscherei. Einerseits ist diese objektiver Ausdruck, dass es eben mit der Geldwirtschaft so nicht mehr weitergeht, andererseits aber der subjektive Wunsch, ja geradezu die Besessenheit, dass es nur mit ihr weitergehen kann: Ohne Geld können die Menschen nicht existieren, das ist ein unhintergehbares Dogma. Offensichtlich. Man ist überzeugt, dass die Geldbewirtschaftung die finale Antwort, ja der letzte Heuler der Geschichte sei und bloß einige Fehlkonstruktionen im Finanzsystem beseitigt werden müssten. Dann werde alles wieder gut, und alles kann beim Alten bleiben. Getauscht und gekauft, gearbeitet und verwertet wird nach wie vor. Das steht bei den Geldpfuschern auch nie zur Debatte. Der Kapitalismus, das sei kein übles Spiel, wohl aber gebe es üble Mitspieler: die Banken, die 1 Prozent, Spekulanten, Rating-Agenturen, Politiker, Juden.
Die Geldpfuscher setzen in allen ihren Überlegungen und Vorschlägen Geld unhinterfragt voraus, um dann an bestimmten Punkten, meist am Zins oder an Steuern herumzudoktern. Die fanatische Anbetung des Geldes erfährt darin eine neue Sequenz. Die Geldpfuscherei setzt auf eine umfassende Remonetarisierung und nicht auf eine Demonetarisierung der Gesellschaft. Die Frage nach dem Geld gerät auch hier sofort zu einer Frage nach der richtigen Geldpolitik. Sie dringt nicht nur nicht zum Kern vor, sie will entschieden bewerkstelligen, was abzuschaffen wäre.
Falsches Geld muss durch richtiges ersetzt werden. Darauf scheinen sich viele einigen zu können. „Neue Geldsysteme umsetzen“, heißt es in einem Grundsatzpapier des Konsensfindungsprozesses der austriakischen Occupy-Abteilung, was meint: „Überwindung des zinsbasierten Schuldgeldsystems“. Da ist es wirklich nur noch ein Schritt bis zum Schrei: „Befreit uns aus der Zinsknechtschaft!“. Dazu passt gleich die Buchempfehlung „Neues Geld, neue Welt“. Wenn man etwa die heimischen Occupy-Texte, die da durchs Internet geistern, so ansieht, erinnern diese an Ökonomie-Papiere aus der Frühzeit der Grünen, bloß schlechter. Teilweise tauchen sogar die gleichen Protagonisten wieder auf, etwa Joseph Huber, nun Propagandist der „Monetative“, d.h. dass Geldmengensteuerung und Geldschöpfung ausschließlich beim Staat anzusiedeln wären. Occupy erscheint ziemlich occupied.
Nicht um eine Welt ohne Geld geht es, sondern um die Bedienung eines auf ewig angelegten Kreislaufs des Kaufens und Verkaufens. Man meldet sich zum Dienst: Jetzt übernehmen wir das Werkel. Das Leben hat ganz luhmannisch eine unaufhörliche Kette von Zahlungen zu bleiben. Das scheint gegenwärtig überhaupt die alles entscheidende Frage: Wie bleiben wir zahlungsfähig? Wie halten wir den Zahlungsverkehr aufrecht? Die Geldpfuscherei agiert ausschließlich auf der Ebene des Zahlungsmittels, will einen konstruktiven Beitrag leisten.
Der größte Hit ist aktuell das Regionalgeld. Dort ein Ulmentaler, da ein Vöslauer, hier ein Chiemgauer, da ein Waldviertler. Wenn das mit dem offiziellen Geld nicht richtig funktioniert, schaffen wir doch unser eigenes. Die Gründungen reißen nicht ab, und selbst wenn einige Versuche scheitern, entstehen stets mehr neue. Die Vertreter des Regionalgeldes wollen das Geld durch ihr Gutscheinsystem (und nichts anderes ist es) sogar noch multiplizieren und nehmen für die beschworenen Vorteile ihrer Region gar einigen bürokratischen Aufwand auf sich. Durch die Negativzinsen im Schwundgeld wird die Kauflust noch einmal um einige Promille gesteigert. Konsumismus, der hier als unproblematisch erscheinen muss, wird geradezu vorausgesetzt und angestachelt. Schwund soll dieses Geld in Schwung halten, der Kaufzwang, bisher implizit gegeben, wird explizit formalisiert. Regionalgeld ist in, von der Krone bis zu Die Zeit finden wir prominent platzierte Artikel. Die Gutscheinerei passt in den Mainstream von rechtspopulistisch bis linksliberal.
„Eine wachsende Zahl von Bürgerinnen und Bürgern ist dabei, das Geld neu zu erfinden“, freut sich etwa ein Kommentar in der Zeitschrift Oya (08, Mai/Juni 2011, S. 12). Im Heft geht es dann auch fast ausschließlich um Geld zum Selbermachen, das Zukunftsmodell Regionalgeld, demokratische Banken mit leistungsgedeckten Einlagen und natürlich eine Vielfalt von Währungen. „In der Zeit des demokratischen Geldes bestimmen die Geldnutzer die Geldregeln“ (S. 14), heißt es da ganz euphorisch. „Der Selbstzweck muss dem Geld genommen werden, es soll ein Werkzeug werden.“ (S. 15.) Christoph Pflugers neues Buch nennt sich „Das nächste Geld“ (S. 60). Und im Juni 2012 ist in Leipzig ein Kongress geplant unter dem Titel „Lust aufs neue Geld“. Alles natürlich unter der Prämisse „Retten wir unser Geld“. Auch Christian Felber will inzwischen den Euro retten und setzt daher die good banks auf die Tagesordnung. Die alte Sparkasse soll rehabilitiert werden: „Banken haben ihre ursprüngliche Funktion – die kostengünstige Umwandlung von Spar- und Kreditgeld sowie die serviceorientierte Abwicklung des Zahlungsverkehrs – verlassen.“ (S.26) Geld soll nicht zur Ware werden, dafür möchte die Gemeinwohlökonomie fortan sorgen.
Margrit Kennedy rehabilitiert schließlich sogar Leistung und Profit: „Ich halte Gewinnstreben nur dann für schädlich, wenn dem Gewinn keine Leistung gegenübersteht, wie auf dem Kapitalmarkt, der wie Raubrittertum funktioniert.“ (S. 16) Für edle Ritter, gegen böse Raubritter, für ehrliche Arbeit, gegen unehrliche Abzocke, für gute Leistung, gegen böse Schmarotzer – geht’s noch übler? Da ist wirklich wieder einmal eine Kronzeugin des gesunden Menschenverstandes ausgeritten, da spukts dann auch von „Zeitbanken“ und „Pflegewährung“ – wahrlich die menschlichen Bedürfnisse, die sind allesamt in Geldkategorien zu denken. Sind sie nur so zu denken?, oder: Müssen sie so gedacht werden? Wahrlich, wir leben im Zeitalter der großen Befangenheit.
Während die Lichter des Marktes verlöschen, drehen die Leuchten noch einmal alle Scheinwerfer auf. Die Geldpfuscher suchen den Resetknopf wie die Ritter der Tafelrunde den Heiligen Gral. Gerade die bornierten Kritteleien, also die Ressentiments, neigen zur schärfsten Affirmation, sodass wir da mehr Glaubensbekenntnisse finden als auf den bürgerlichen Wirtschaftsseiten. Dort herrscht eher Verunsicherung. Wenn heute noch jemand restlos von Wert und Geld überzeugt ist, dann diese Scheinalternative, sie trägt tatsächlich in schierer Akklamation bürgerliche Dogmen wie eine Monstranz vor sich her. Dieser neueste Cocktail aller Abgeschmacktheiten erscheint als das In-Getränk in einer gut frequentierten Bar jeden Gedankens. Es ist wie in einem Saloon, wo Unbedarfte auf Glücksritter treffen und permanent Obskuranten auftreten. Versprochen wird, was nicht gehalten hat. Was aber bedeutet, dass das Versprechen noch immer lebendig ist, bloß seine Fürsprecher abgelöst werden sollen. Der ökonomische Wert mag verfallen, aber die bürgerlichen Werte sind hoch im Kurs.
Wer sich das obskurantistische Panoptikum der Geldkritik anschauen will, der werfe einen Blick auf www.geldmitsystem.org. Dort hat Manfred Gotthalmseder versucht, alle Geldpfuscher aufzusammeln, Kernaussagen zu destillieren und wildesten Rechenbeispielen zu frönen. Schuld sei selbstverständlich das Zinseszinssystem. Und natürlich gehe es um ein nachhaltiges Geld- und Finanzsystem, dessen Rahmenbedingungen die Politik zu schaffen habe. Da ist man ultrakonventionell. Auf dieser Website treffen sich alle, von den Geldausbesserern bis zu den Verschwörungstheoretikern, von den Zinsgesellen bis hin zu versprengten Nazis. Gotthalmseder hat alles aufgeboten.
Die Geldretter, die da auftreten, sind fast ausschließlich Männer, total darauf erpicht und versessen, dem Geld einen Sinn zu stiften. Wie die bürgerlichen Erlöser stellen sie sich an, um dem Geld ja wieder seine angestammte Rolle zu geben. Die sich aufdrängende Frage „Warum Geld?“ haben die Geldpfuscher durch die anschlussfähigere „Welches Geld?“ ersetzt. Was das Geld ist, interessiert vor dem Hintergrund, was denn das gute Geld alles sein und ausrichten könnte, wenig. Geld wie hat Geld warum erschlagen. Mit Geld jedoch lässt sich nur eine Wirtschaft erfinden, die bereits erfunden worden ist.
So gibt es ein unheimlich großes Bedürfnis an obskurer Literatur, sehen wir uns die Auflagen diverser Publikationen an oder folgen wir den Empfehlungen von Amazon. Der Fundus ist unendlich und das Geschäft blüht. Da und dort vermögen die Geldpfuscher schon ins Schwarze zu treffen, aber meist verdunkeln sie die Szenerie, sind Diagnose und Therapie durch und durch esoterisches Geschwätz.
Abhängigkeit von Geld ist allgemein. Abhängigkeit vom Zins ist eine besondere Ausprägung dieses Umstands. So ist auch die Behauptung einer Zinsknechtschaft nicht einfach nur Lüge oder abgefeimte Projektion. Allerdings versteigt sich diese in penetranter Weise zur ganzen und einzigen Wahrheit. So wird ein Element aus seinen Zusammenhängen gerissen und als abartig punziert, eine „natürliche Wirtschaftsordnung“ verhindernd. Die Zinskumpane verwechseln die Konsequenz des Kapitals mit seinem Ursprung. Zins erscheint nicht mehr als dem Kapital untergeordnet, sondern als jenem übergeordnet, ja es usurpierend. Der gute Markt müsste also von ihm und seinen Nutznießern befreit werden. Gemeingefährlich wird es, wenn man spezifischen Exponaten dann eine außergewöhnliche, sprich: kriminelle Energie unterstellt.
Diese Sicht ist aber auch deswegen anschlussfähig, weil sie zumindest Antworten auf empirische Alltagserfahrungen zu geben scheint. Jeder weiß, wie mühsam es ist, Kredite zurückzuzahlen, Schulden wie Zinsen zu tilgen. Und dass die Schuldenfalle schnell zuschnappen kann. Und dass Schulden Angst erzeugen. Und dass sie nicht bloß die Bonität senken, sondern auch Würde und Ansehen. Das sollte man nicht übersehen. Der bürgerliche Alltag ist voll von verunglückten Geldgeschichten. Man höre den Leuten nur zu, was sie alles bereden, aber auch beschweigen.
Das Problem des ewigen Schuldners ist eines, das realen Abläufen entspricht. Selbst wenn deren Verarbeitung schwer ideologisch sein mag, sind Bedrohung und Furcht doch reale Größen und keine Halluzinationen. Schulden können von den Schuldnern nie locker genommen werden. Sie führen tatsächlich zu schmerzhaften Abhängigkeiten, die man allzuoft nicht mehr los wird. Wie bei der Abpressung des Mehrwerts (und der Zins ist in letzter Instanz nichts anderes, auch wenn in Zeiten des fiktiven Kapitals sich auch hier die Dimensionen verschieben und ins schier Unendliche weiten) handelt es sich beim Zins um ein Verwertungsverhältnis, das dem Kapitalismus immanent ist.
Die Finanzabteilung des Kapitals ist nicht schlimmer als dieses selbst, sie erscheint aber zweifellos irrer, weil an ihr die ganze Verrücktheit der Form sich offener und wuchtiger präsentiert: „Als zinstragendes Kapital, und zwar in seiner unmittelbaren Form als zinstragendes Geldkapital (…) erhält das Kapital seine reine Fetischform G–G’ als Subjekt, verkaufbares Ding.“ „Wie das Wachsen den Bäumen, so scheint das Geldzeugen (τόκος) dem Kapital in dieser Form als Geldkapital eigen.“ (MEW 25:406)
Geldherrschaft meint Geldknechtschaft. Die strikte Zurückweisung der obligaten Zinsschelte darf so nicht mit einer Verteidigung des Zinses oder der Zirkulationssphäre einhergehen. Kritik des Zinses ist eine Teilkritik der Kapitalkritik und macht in sie integriert durchaus Sinn. Man sollte sich darauf einigen können, dass der Zins zwar nicht die Ursache des gesellschaftlichen Übels, sehr wohl aber einen Ausdruck des gesellschaftlichen Übels darstellt. Diesem Umstand ist Aufmerksamkeit zu schenken, es darf nicht so wirken, als rede man der kapitalistischen Rationalität das Wort, nur weil man die Zinshuberei zurückweist. Die ideologiekritische Beschränkung wäre demnach selbst zu durchbrechen. Augenscheinlich liegt da eine theoretische Leerstelle vor, die es gerade diversen Glücksrittern ermöglicht, ihren Geldacker zu bestellen.
Denn das Schuldverhältnis ist allgemein, jeder Kauf baut auf einer Schuld auf, die beglichen werden muss. Der Tilgungszwang von Krediten etwa ist wiederum nur eine Sparte des konventionellen Zahlungszwanges, eine besondere Form, in der durch zeitliche Streckung auch der Preis der Geldware via Zinsen zu zahlen ist. In Wirklichkeit werden wir auch stets übervorteilt, aber nicht weil die anderen böse sind, sondern ganz konventionell, weil wir nicht auf Kooperieren, sondern auf Konkurrieren, also auf Opfer und Täter programmiert sind. In allen wirtschaftlichen Belangen herrscht Krieg, man höre seine Sprache. Und wir verlieren in ihm mehr, als wir gewinnen. Auch die Sieger.
Alle wollen ins Plus, doch die meisten landen im Minus. Das ist blöd. Sagt doch das bürgerliche Versprechen, dass alle könnten, was nur wenigen gelingt. Das gemeine Finanzprogramm der vereinigten Bürgerschaft lautet: Mehr Einnahmen als Ausgaben! So möchte der gesunde Menschenverstand auf der Ausgabenseite nicht überfordert werden, auf der Einnahmenseite aber durchaus Nutznießer dieses Systems sein, etwa beim Sparen und all seinen Sonderformen, bei den Lebensversicherungen und Bausparverträgen, bei den Pensions- und Fondskassen, ja bis hin zu hochspekulativen Aktiendeals, auf die er freilich eher hineinfällt, als dass er sie bewusst anstrebt. Aber wenn er abstauben kann, ist er dabei, der gesunde Menschenverstand. Und wenn’s ihn erwischt, fühlt er sich betrogen. Aber im Prinzip macht er nichts anders als die andern, und darin liegt auch die große ideelle Entschuldigung für alle Gemeinheiten, die er erleidet wie austeilt.
Er ist ein hausbackener Geselle, in dessen Brust zwei Seelen schlagen. Auf „Dark side of the Moon“ von Pink Floyd (1973) wird diese Haltung besungen. Dort heißt es in der zweiten Strophe von „Money“:
„Money, it’s a crime
Share it fairly
But don’t take a slice of my pie.“
Der Kuchen ist immer ungerecht verteilt. Alle einigen sich darauf, zu wenig davon zu bekommen, weil die anderen zu viel abbekommen haben. Angerufen wird unisono, aber gegeneinander die Gerechtigkeit. Von der sind alle begeistert, ist sie doch multipel interpretierbar, sodass sich an ihr alle Gemüter wärmen können. Gerechtigkeit besteht darin, dass den Nehmern nichts genommen wird, und Ungerechtigkeit darin, dass die Nehmer stets ausgenommen werden. Alle wollen melken, aber nicht gemolken werden. Sinnliche Gewissheit brilliert in bestechenden Schlüssen, ohne ihre Gemeinheit auch nur in Ansätzen zu begreifen.
Geld. Alle wollen es erhalten, auf dass sie es wieder ausgeben können. Moneten, Konten, Kreditkarten, sie haben uns fest im Griff. Obwohl eigentlich niemand es benötigt, brauchen es alle, das Geld. Man kann nichts damit tun, aber alles damit anstellen. Alleine der Umstand, etwas unbedingt einnehmen zu müssen, das wir wiederum unbedingt ausgeben müssen, ist eine Absurdität sondergleichen. Aber darauf sind wir formatiert und fixiert. Das ist unsere Synthese. Geld wurde ja nicht einfach beschlossen und eingeführt, es stellt ein gesellschaftliches Verhältnis her, das über die Menschen und ihre Handlungen verfügt, indem jene diese, ihre gesellschaftliche Funktion erfüllend, ausüben.
Die beiden vorher angeführten Geschichten sind blind für Tragweite und Dimension unserer Aufgaben. Beide meinen, dass mit politischen Regelungen (sei es Umverteilung oder Umoperation) die gesellschaftlichen Probleme gelöst werden könnten. Beide doktern herum, suchen Antworten auf vorgefundenem Boden. Nicht „Geld ist falsch“, sondern „Die Falschen haben es“, lautet das Credo. Sowohl die neue Erzählung wie auch die alte stellen eigentlich nichts in Frage, wollen vielmehr etwas in Gang halten. Um uns nicht misszuverstehen: Wir sind weder gegen Umverteilung und schon gar nicht für den Zins. Aber als Perspektive ist das zu dünn und zu dürftig, arbeitet sich allein an Phänomenen ab. Dafür sind wir uns zu schade. Alle selbst auferlegten Beschränkungen, die den Geldfetisch unangetastet lassen, enden in der Hölle der Immanenz.
Solange Geld Menschen bestimmt, sie subordiniert, sie zu Geldmonaden macht, werden sie nie selbstbestimmt sein können. Geld ist lediglich eine Krücke der Anerkennung. Wenn man darüber nicht verfügt, ist Existenz und Akzeptanz auf Almosen und Barmherzigkeit angewiesen. Geld ersetzt in unserer Zwischenkunft das Ich und das Du durch den Käufer und den Verkäufer. „Was durch das Geld für mich ist, was ich zahlen, d.h., was das Geld kaufen kann, das bin ich, der Besitzer des Geldes selbst. So groß die Kraft des Geldes, so groß ist meine Kraft. Die Eigenschaften des Geldes sind meine – seines Besitzers – Eigenschaften und Wesenskräfte. Das, was ich bin und vermag, ist also keineswegs durch meine Individualität bestimmt.“ (MEW, Ergänzungsband 1, S. 564)
Das Ich soll kein Vorhaben, kein Anliegen, keinen Wunsch ohne den entsprechenden Preis denken können. Alles tendiert zur Kostenfrage: „Können wir uns das leisten?“ Wenn heute etwas gemessen wird, dann wird es in Geld gemessen: Preise und Gebühren, Löhne und Ablösen, Mieten und Renten, Spitalskosten, Alimente, Werbeausgaben, Strafmandate, Anwaltshonorare, Steuern und Abgaben, und selbstverständlich das Bruttonationalprodukt. Fast könnte man meinen: Leben ist Geld! Aber es wird wohl so sein, denn es geht darum „für Leistungen zu zahlen“ (Luhmann, S. 47). Egal, wovon wir reden, was wir wollen oder auch los werden wollen, immer geht es um Kohle.
Die elenden Fragen, was was kostet und was was einbringt, sind daher zentral. Bedürfnis und Nutzen werden stets daran gebrochen. Solange es Geld gibt, kann das auch gar nicht anders sein. Dieser Zweck frisst alle anderen Zwecke auf. Gemacht wird nicht, was gemacht werden könnte, und getan wird nicht, was getan werden sollte, sondern gemacht und getan wird, was sich verkaufen lässt. Das kommerzielle Gebot steht über allen anderen. Das Kriterium ist eines, dass außerhalb seines Gegenstandes liegt.
Geld ist eine menschenfeindliche Kommunikationsform, da sie den Zugang zu den Produkten und Leistungen über der Leute Habe bestimmt und somit solche ohne Geld ausschließt. Die sozialstaatliche Korrektur ist das Eingeständnis dieses Missstands, keineswegs Abhilfe, sondern bloß Linderung. Außerdem sowieso immer bedroht. Alleine, dass man das Geld entweder ausgeben oder veranlagen muss, stellt die Mitglieder der Gesellschaft vor absurde Aufgaben. Wie kommen diese mündigen Leute alle dazu, das zu müssen? Oder besser noch: zu wollen? Aber es nicht zu wollen, geht nicht. Geld organisiert Misstrauen und Missgunst, es schneidet uns von unseren Möglichkeiten ab, erlaubt nur Dispositionen, die sich marktwirtschaftlich auszahlen. Wir sind alle auf dem kommerziellen Trip. „We want money“, ist der Kassenschlager aller Konkurrenten.
Geld ist ein gesellschaftliches Verhältnis und kein modellierbares Werkzeug. Eine Kraft, die uns ständig zum Berechnen, zum Kalkulieren, zum Ausgeben, zum Eintreiben, zum Sparen, zum Spekulieren, zum Verschulden und zum Kreditieren zwingt. Vor allem der Zwang zum Kaufen und Verkaufen steht jeder Befreiung und Selbstbestimmung im Weg. Die Organisierung unserer Kommunikation über Geld macht uns zu Tauschgegnern, wie Max Weber die falsch bezeichneten Tauschpartner richtig charakterisierte.
Das wollen wir schlicht nicht sein, und das wollen wir auch nicht reformieren. Unsere Rechnungen gehen nicht so. Leben ist etwas anderes. Wir stehen allen Remonetarisierungsgelüsten (Regiogeld, Demokratische Banken, Zinsabschaffung) ablehnend gegenüber. Geld ohne Geldkapital erscheint uns als eine irrwitzige Vorstellung. Solange man sich aufs Geld als zentralen Gegenstand der sozialen Auseinandersetzung kapriziert, ist keine gesellschaftliche Transformation möglich. Im Gegenteil, das Denken in Geld führt sofort in den Kampf um dieses und nicht gegen dieses.
„Kein ärgrer Brauch erwuchs den Menschen als
Das Geld! Es äschert ganze Städte ein,
Es treibt die Männer weg von Haus und Hof,
Ja, es verführt auch unverdorbne Herzen,
Sich schändlichen Geschäften hinzugeben,
Es weist den Sterblichen zur Schurkerei
Den Weg, zu jeder gottvergessnen Tat!“
Das hat uns Genosse Sophokles vor fast 2500 Jahren in unser Stammbuch geschrieben (Antigone, Vers 295-301, übers. von Wilhelm Kuchenmüller, Stuttgart 1955, S. 16). Das gilt es zu beherzigen. Wir sind also Vertreter einer Spezies, die dezidiert NEIN zum Geld sagt. Eine andere Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die ihre Wirklichkeiten ohne Geld entfaltet. Eine solidarische Assoziation ist eine, die von Markt und Kapital, Geld und Wert befreit ist. Hinter diese Perspektive gibt es kein Zurück. Und eigentlich gibt es auch keine Minimalforderungen mehr, die nicht einfach falsch sind. Mit falsch ist gemeint, dass sie das System mehr stützen als es herausfordern. Selbst dort, wo man sich dem Falschen hingeben muss, sollen entsprechende Handlungen nicht als Schritte in die richtige Richtung interpretiert werden. Das, was wir als bürgerliche Subjekte anstellen, ist falsch, so logisch es unmittelbar auch ist.
Handhabung von Geld ist das entscheidende Kriterium, um in der kapitalistischen Gesellschaft als lebenstüchtig zu gelten. Freude und Freundschaft, Liebe und Lust, Sorge und Bereitschaft, vor allem gegenseitiges Wohlwollen und individueller Genuss, sie alle verunglücken, ja verpuffen an dem von uns praktizierten Imperativen. Nichts kann vorrangiger und dringender sein, als sie daher zu beseitigen. Aber die Menschen sind nicht so!, schreit der gesunde Menschenverstand unentwegt, seine Beschränktheit ausdrückend. Das mag jetzt so sein! Aber ist deswegen Rücksicht zu nehmen? Ist nicht eher die ständige Denunziation dieser Zurichtung angesagt? Allerorts und jederzeit!
Die Geschichte der potenziellen Menschwerdung (nicht zu verwechseln mit einer Apologie des Fortschritts) ist ein unabgeschlossenes und unabschließbares Kapitel. Die Behauptung, dass irgendein Zeitalter der menschlichen Natur entspreche, ist stets die zentrale Ideologie jeder Epoche gewesen. Es gibt keine menschliche Natur außer der, dass Menschen durch Theorie und Praxis sich aus der Natur emporheben, dass sie letztlich ihr eigenes Kunstwerk (aber auch Barbareiwerk) darstellen und herstellen. So wie es gewesen ist, ist es nicht geblieben. Und so wie es ist, wird es nicht bleiben.
Und man erzähle nicht davon, dass die Zeiten noch nicht reif, Übergänge konzipiert oder kleine Schritte angesagt wären, ja die Leute überhaupt abzuholen sind, wo sie stehen. – Nur das nicht! Die Menschen haben ihren Standpunkt in Frage zu stellen, nicht ihn zu erfüllen. Es geht nicht darum, am Charaktermaskenball gute Figur zu machen. Mit diesem Realismus wird Perspektive zerschlagen. Umgekehrt, es gilt dezidiert in den Mittelpunkt zu stellen, was man will. Reife ist auch eine Form der Konsequenz und des Wollens. Die aktuellen Bewusstseinsstände sind hingegen Ausgangspunkte, von denen nichts ausgeht, sie müssen im wahrsten Sinne des Wortes obsolet werden. Hier ist nicht der Ort einer apriorischen Konzession. Introspektion wäre angesagt: Was bin ich? und Was tue ich?, das sind Fragen, die man niemandem ersparen darf. Man muss sich und einander deswegen nicht verurteilen oder gar öffentlich beichten, aber kennenlernen sollte man sich schon. Es ist besser, sich zu kennen als sich zu bekennen. Ohne das keine Entsynthetisierung.
Entsynthetisierung, das klingt etwas schräg. Trotzdem: Sich den Zumutungen des Kaufens und Verkaufens nicht mehr ausliefern zu wollen, das steht an. Wir müssen aufhören, uns in Wert zu setzen. Geld hört nur auf, wenn die Waren verschwinden, Produkte und Dienste einfach als Güter verschenkt und angenommen werden. Der letzte Begriff des Geldes liegt in seiner Abschaffung.
(5.4.2012)
Post from: Streifzüge. Liebe Leute: Allein hier zu schreiben, dass wir ein Leben ohne Geld wollen, kostet welches. Wer unsere Texte mag, soll dazu beitragen, dass sie hier (ent)stehen können. Wenn wer sich’s leisten kann. Eh klar. Dann aber seid so lieb: Her mit der Marie! Löst uns aus!
AUS AKTUELLEM ANLASS
Streifzüge 54/2012
von Lorenz Glatz
Geld ist eine bestimmte Form von Beziehung zwischen Menschen. Es vermittelt gleichwertigen Tausch von eigentlich unvergleichbaren Dingen, Kauf und Verkauf. Es bringt den Markt in Schwung und hält ihn am Laufen. Geldverkehr und Marktgeschehen bringen aber im Grund nicht Menschen in Kontakt, sondern ihnen gehörende Dinge. Die Menschen erscheinen nur als deren Träger, der eine, um teuer zu verkaufen, die andere, um billig zu erwerben. Entsprechend dem sachlichen Charakter des Kontakts treten sich die Kontrahenten mit Interesse am Angebot, aber mit Desinteresse, ja mit dem gebotenen Misstrauen am Anbieter gegenüber. Sie sind „Tauschgegner“, wie sie Max Weber treffend bezeichnet hat. Sie sind nicht allein, sie haben zugleich alle anderen im Kopf, mit denen vielleicht das Geschäft vorteilhafter wäre. Es ist eine Beziehung der Konkurrenz zwischen „Ungenossen“ (auch von Max Weber), ja Feinden, die nur durch ein Gleichgewicht der Stärke oder eine übergeordnete Gewalt, jedenfalls nicht durch Sympathie und Mitgefühl, sondern durch blankes Kalkül an Hinterlist und Übergriff gehindert werden.
Kapern und Kaufen hängen etymologisch vielleicht bis wahrscheinlich zusammen, in der sozialen Wirklichkeit aber ganz real. Ziel bleibt immer der eigene Vorteil, Sieg gegen und Kontrolle über die anderen. Hier führt vom konkurrierenden sachlichen Interesse der „Tauschgegner“ ein breiter Weg über ihr gegenseitiges persönliches Desinteresse und Misstrauen zu Betrug, Gewalt und Unterdrückung, wenn sich die Gelegenheit bietet.
Markt und Geld sind „die unpersönlichste praktische Lebensbeziehung, in welche Menschen miteinander treten können“. Solidarität ist ihr fremd, sie kennt „keine Brüderlichkeits- und Pietätspflichten, keine der urwüchsigen, von den persönlichen Gemeinschaften getragenen menschlichen Beziehungen“ (Max Weber). Sie kennt bloß Eigeninteresse ohne Rücksicht auf Dritte, schon gar nicht auf die Mitwelt. Und mehr noch: Essen, Trinken, Sex gehen bei größter Lust drauf doch nur mit Maßen, Geld aber ist grenzenlose Zahl, wer sich auf Geld einlässt, kann es doch nie haben, wird nicht satt, sein Wollen wird zur Gier ohne Ende. So rücksichtslos wie immer möglich – das ist das Beste fürs Geschäft. Betrug, Vergewaltigung, Überwältigung und Herrschaft, Schädigung und Zerstörung von Mensch und Natur sind in Markt und Geld von Geburt an eingeschrieben.
Geld zu lieben ist die Wurzel aller Übel und nicht wenige, die sich drauf eingelassen haben, sind abgeirrt von Vertrauen, Redlichkeit und Glauben, steht in einem biblischen Apostelbrief. Das passt recht gut schon auf den ersten Take off der Geldwirtschaft im europäischen Mittelalter, im Vorlauf und in der Brutstätte der Moderne. Erstmals geriet eine große und anwachsende Zahl von Menschen in den Bann von Geld und Profit: Condottieri und ähnliche Kriegsunternehmer in Italien und Frankreich mit ihren Söldnern, die sie auf Kredit anwarben und in den Machtkämpfen der Städte und noblen Herren für den Meistbietenden zum Schlachten und Plündern führten, jederzeit bereit, für ein paar Taler mehr die Seiten auch zu wechseln. Sozial am Rand stehende, mittellose junge Männer aus reichen Städten und dem weiten Land, trugen nun in großer Zahl ihre „Haut zu Markte“ und bestritten ihren Lebensunterhalt je nach Lage mit Geld oder Raub, mit Kaufen oder Kapern. Sie wurden Waren und Verkäufer in Personalunion, Dinge, die sich selbst vermarkten.
Die Entwicklung der Feuerwaffen und die tiefe Erschütterung der sozialen Bindungen in der katastrophalen Pestpandemie im 14. Jahrhundert ebneten dieser Industrie und diesem Arbeitsmarkt den Weg in eine sich in alle Gebiete des Lebens verzweigende, bis heute anhaltende große Zukunft, von den Söldnern zu den Industriesoldaten bis zu den Legionen der Einzelkämpfer im modernen Prekariat. Sich zur Arbeit, Hauptsache Arbeit, ob schädlich, nützlich oder tödlich, für Geld ver-„dingen“ machte eine Karriere vom Unglück eines Lebens zu seiner Grundlage, ja zur festen Struktur der Gesellschaft.
Auch ins erste große Industriesystem Mitteleuropas flossen Bankengeld und Steuern für Mord und Krieg: Es waren des Generalissimus Wallensteins Betriebe. Hier wurde Ausrüstung und jede Sorte Nachschub für seine Söldner hergestellt, die für sich, den Feldherrn und seinen kaiserlichen Kunden das Land verheerten, Steuern erpressten und Beute produzierten. Der Vorrang des staatlichen Gewaltapparats bei Geldausgaben für innovative Technik und Forschung ist eine Konstante bis heute, zivile Anwendungen sind regelmäßig davon Abfall, sei es das Fabrikregime oder die Kunststoffprodukton, das Dynamit, die Atomtechnik oder IT und Internet. Geld wird das Blut des Lebens der Gesellschaft, auch die Kirchen haben es recht lieb gewonnen.
Gut vier- bis fünfhundert Jahre dominiert mittlerweile die Markt- und Geldbeziehung in Europa und hat ihren Siegeszug mit Handelsschiffen und Kanonenbooten, mit Diplomatie und offener Gewalt rund um den Globus angetreten. Sie hat Reichtum und Luxus genauso wie Krieg, Not und Elend zu nie erreichten historischen Höchstständen gesteigert und tiefste soziale Klüfte aufgerissen. War der Unterschied im materiellen Standard zwischen den reichsten und ärmsten Ländern um 1800 noch etwa 2:1, so wuchs der Faktor in zwei weiteren Jahrhunderten Geldwirtschaft laut UNDP bis 1960 auf 1:30, 1990 auf 1:60, 1997 auf 1:76 und dürfte inzwischen jenseits der 1:100 liegen.
Und was den Skandal des Hungers in der Welt angeht, bemerkt der Anthropologe Marshall Sahlins: One third of humanity are said to go to bed hungry every night. In the Old Stone Age the fraction must have been much smaller. This is the era of hunger unprecedented. Now, in the time of greatest technical power, is starvation an institution. (Ein Drittel der Menschheit, sagt man, geht allabendlich hungrig zu Bett. In der Altsteinzeit war der Anteil sicher viel kleiner. Unseres ist das Zeitalter des Hungers wie nie zuvor. Heute, in der Zeit größter technischer Potenz, ist Verhungern institutionalisiert.)
Trotzdem: Um zu leben muss eins in unserer Gesellschaft kaufen und verkaufen, vor allem sich. Wir brauchen Geld und Markt so selbstverständlich wie Luft und Wasser. Ein anderes Leben ist für die meisten Menschen weder vorstellbar noch wünschenswert. Die durch Geld vermittelte direkte Beziehung zu Sachen und bloß indirekte oder direkt-sachliche Beziehung zu Menschen ist zur wichtigsten Klammer und zum entscheidenden Regulativ unseres Zusammenlebens geworden.
Nicht aufeinander können wir uns verlassen, nicht zueinander streben wir, sondern „nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles“. Warum Gretchen im Faust dem dann noch die Worte „Ach wir Armen!“ anhängt, ist heute keineswegs mehr so ohne Weiteres verständlich. Schließlich ist Geld und nicht unsere Freundlichkeit miteinander der Schlüssel zu allem, was der Mensch so braucht im Leben. Selbst „wo ich Liebe sah und schwache Knie, war’s stets beim Anblick von – Marie … Und der Grund ist: Geld macht sinnlich, wie uns die Erfahrung lehrt“, singt die Puffmutter bei Brecht. Und überhaupt: „Wer sagt, dass man Glück nicht kaufen kann, hat keine Ahnung von Shopping“, wie auf einer bei dieser Gelegenheit wohlfeil erwerbbaren Spruchkarte zu lesen steht.
Zwar ist uns ein Zusammenleben, das auf einem Ethos allgemeinmenschlicher Verbundenheit fußt, nicht nur möglich, ja wir neigen durchaus dazu. In einer Geldgesellschaft wird das jedoch schnell zu ökonomischem Selbstmord. Diesen Verhältnissen angepasster ist da schon der inzwischen salonfähige Zynismus von „Geiz ist geil“ und „Ich habe nichts zu verschenken“, dem eins dann vielleicht noch ein dumm-trotziges „Und ich brauche nichts geschenkt“ anfügen will. Moral entpuppt sich in solchen Umständen regelmäßig als ein Manöver, das einen hochbezahlten Auftragsmord als Gerechtigkeit erscheinen (wie in Dürrenmatts ungebrochen aktueller Parabel „Besuch der alten Dame“) oder Bomben und Raketen zum Schutz der Menschenrechte und sonstiger westlicher Werte regnen lässt (was zu veranschaulichen ein eigener Input wäre).
Der Glaube an die Ewigkeit der Geldwirtschaft und die grenzenlose Strapazierbarkeit von Mensch und Natur hat schon mehr und überzeugtere Anhänger gehabt. Auch an nicht so wenigen Gläubigen nagt der Zweifel und sie mutieren in Wutbürger, die in Politikern, Bankern und Spekulanten die Täter finden, die die schöne Marktwirtschaft zugrundegerichtet haben. Dabei ist es doch eine bemerkenswerte und noch dazu allen ehrlichen Arbeiterinnen und Spekulanten gemeinsame, wenn auch makabre Leistung, dass sie so an die 35 Jahre lang ein bankrottes System mit einer Blase nach der anderen und einer historisch einmaligen Schuldenmacherei am Laufen halten. Ein wahrhaft starker Glaube bei den Priestern wie bei der Gemeinde und eine unverdrossene Hoffnung, dass doch noch die Wundertechnologie auftaucht, die einen neuen realen Boom einer Verwertung mit Vollbeschäftigung und Wachstum wie vor fünfzig Jahren ermöglicht, und dass Ökokatastrophen, Peak Oil and Everything und Klimasturz bloß so eine Fata Morgana sein mögen wie die Versprechungen der Anlageberater.
Wenn solcher Glaube und diese Hoffnung wirklich „erst unseren Realitätssinn“ konstituieren, wie Slavoj Žižek sagt, dann müssen wir bald nur noch demokratisch entscheiden (lassen), ob wir mit oder ohne Euro, mit Sparpaketen oder investivem Durchstarten, mit Inflation oder mit Deflation – dasselbe erleben wollen, nämlich Verarmung, eine autoritäre Notstandsverwaltung oder das globale bellum omnium inter omnes. Denn wenn das Geld sich nicht mehr verwerten kann und auch den toughsten Kreditoren und Spekulanten der zähe Glaube an zukünftige Verwertung abhanden kommt, dann wird flüssig, was im Geld gefroren ist: die Gewalt von „Rette sich, wer kann“.
Solidarisch leben und wirtschaften ist anders. Wie anders, das hängt nicht zuletzt davon ab, wovon man weg will. Wovon ich raus will, dazu habe ich ja eben einiges angeführt. Grundsätzlich jedenfalls widerspricht, wer auf Solidarökonomie ausgeht, dem Menschenbild, das Thomas Hobbes zu Beginn der Dominanz der Geldwirtschaft formuliert hat. Dass nämlich „der Mensch dem Menschen ein Wolf“ sei und der natürliche Zustand der Menschheit ein „Krieg aller gegen alle“, den nur das Gewaltmonopol des Staats zu den Macht- und Konkurrenzverhältnissen des Geldverkehrs und der Industrie herabtunen könne. Solidarökonomie besteht darauf, dass wir lieber zusammenwirken mögen als miteinander konkurrieren, dass der Mensch ein „soziales Lebewesen“ ist.
Aristoteles also gegen Thomas Hobbes – wer immer sich auf die menschliche Natur beruft, hat Verwendung für das, was er in ihr erkennt. Die Menschheit hat in ihrer Geschichte gezeigt, dass sie zu vielem recht Disparatem, ja Widersprüchlichem fähig ist. Aber bei weitem nicht alles davon hat den Menschen auch gut getan. Historisch gesehen, ist unsere Natur eher ein Gang auf verschlungenen Wegen in alle möglichen Richtungen, nicht die ganze Menschheit auf derselben Strecke, in großen Gruppen, manchmal auch recht kleinen, die einen hier, die andern dort auf der Suche nach dem guten Leben. Ja, homo kann homini lupus sein, aber er kann auch ziemlich anders, andernfalls wäre die Menschheit vielleicht nicht einmal in die zweite Generation gekommen.
Solidarität, Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit, Vertrauen, Freundschaft, Liebe sind keine verschiedenen Kategorien, sie sind Intensitäten desselben Verhältnisses, sie unterscheiden sich bloß in Milieu und Betriebstemperatur erheblich. Freilich wird diese menschliche Haltung und Emotion jederzeit auch – zurechtgestutzt und prächtig angeschirrt – für geschäftliche oder politische Interessen eingespannt als Mittel zum Zweck ihres Gegenteils.
Einigermaßen gedeihen kann dieser Zug des Menschlichen freilich nur im Bereich privaten Lebens, bei Liebespaaren, im Freundeskreis, in der Familie, mit ein bisschen Glück auch in guter Nachbar- und Kollegenschaft. In dem Reservat also, das über die Jahrhunderte zur hoffnungslos überlasteten Reparaturstation für die psychischen und mentalen Beschädigungen im Geld- und Arbeitsleben geworden und das heutzutage auch noch am Vertrocknen ist. (Denn wenn Leistung nur mit Leidenschaft und Arbeit nur mit Freude verkäuflich ist, darf eins vielleicht Frust und Stress schon gar nicht mehr fühlen, bevor sie sich über Depression und Burnout zerstörerische Geltung verschaffen.)
Solche private, menschliche Bindungen von Solidarität bis Liebe in ihrer Eigendynamik als Lebensordnung in die öffentliche Welt übertragen zu wollen, ist eine Grenzverletzung, eine potentielle Störung der sachlichen Ordnung von Geld, Arbeit, Recht und Politik. Es sind aber just jene Bindungen, auf welche solidarisches Leben und Wirtschaften hofft und aufbaut, sie sind der Reiz, der „anders leben“ attraktiv macht, wenn man unter der Gleichgültigkeit, der gnadenlosen Konkurrenz und den Hierarchien, Demütigungen und Verwüstungen des Geldverhältnisses leidet.
Allerdings ist die erwähnte Integrationsfähigkeit der etablierten Ordnung überwältigend groß. Zunächst einmal hat sie große Übung im Umgang mit dem Widerspruch von Kooperation und Konkurrenz. Die Zusammenarbeit im Betrieb ist schließlich Voraussetzung für das Bestehen im Wettkampf auf dem Markt. Genau diese Dominanz des Markts löst denn auch den Widerspruch in die Unterwerfung der Kooperation unter die Konkurrenz auf. Die Kooperation wird dadurch zwangsläufig unfrei, fremdbestimmt, auf den Sieg des „eigenen“ Betriebs und die Niederlage der Konkurrenten ausgerichtet.
Gelingt es also, statt mit Hierarchie solidarisch, ja egalitär, „ohne Chefs“ zu werken, bleibt immer noch die Feuerprobe auf den Märkten. Es kann sich dabei sogar herausstellen, dass eine Dosis persönlicher Beziehung, Verbundenheit und Freundschaft, eines Denkens in Wir statt Ich ein Vorteil in der Konkurrenz und produktiver ist und dass ein wenig Rücksicht auf die Natur Zugkraft hat im Marketing. Schließlich hat die antiautoritäre Revolte von 1968 und danach auch gezeigt, dass flache Hierarchien, Zulassen von Widerspruch und Kreativität und Mannigfaltigkeit statt Einfalt gut ist fürs Geschäft. „Macht, was ihr wollt, bloß seid produktiv“ – das ist der aufgeklärte Standpunkt liberaler Kapitalverwertung. Bloß wird alles, „was ihr wollt“, durch das Bilanz-Sieb von „Seid produktiv“ gepresst und dabei alles ausgeschieden, was der Logik des Gelds, des Marktes, der Verwertung nicht entspricht. Was übrig bleibt – ist das, was wir Tag für Tag als Geschäft und Job erleben. Der Markt korrodiert solidarisches Werken und Wirken zu einem, das dem Geldverhältnis entspricht, macht die Genossenschaft am Ende wieder zu einer von „Ungenossen“, um noch einmal Max Weber zu zitieren.
Außerdem haben die Menschen, die sich da vom Mainstream abwenden und „solidarisch wirtschaften“ wollen, kein anderes Leben als eins mit Geld, Markt und Konkurrenz gelernt. Dessen Öde, Stress, Demütigungen und Lebensgefährlichkeit drängen uns zu Neuem, in dem wir schlecht geübt sind. Wenn der „alte Mensch“ mit dem neuen Leben nicht gut zurechtkommt, tut er in seiner Ratlosigkeit leicht wieder oder weiter, was er zwar nicht mag und was ihn und die Seinen schädigt, was er aber besser kann.
Neues beginnt mit der Negation des Alten mitten im Altem. Wenn das Neue dem Alten nur widerspricht und nicht zugleich auch im und für das Alte funktional ist, wird es zerstört. Ein solidarökonomisches Projekt, das mitten in der Funktionsweise der heutigen Gesellschaft jeden Umgang mit Staat, Geld und Eigentum verweigert, wird verhungern oder als kriminell verboten. Da aber umgekehrt die Einbindung ins Alte das Neue über kurz oder lang verätzt und auflöst, kann sich das Neue in einem statisch-stabilen Zustand des Gesamten nicht behaupten. Auch einer sanften osmotischen Attacke des Alten, das das Neue von allen Seiten umgibt, kann dieses nur standhalten, wenn es in Bewegung bleibt, sich festigt, ausdehnt und damit den Bereich seiner Autonomie und seiner eigenen Logik stärkt.
Wer nicht weiter geht, fällt zurück. Gegensätze wie die Geldlogik und ein solidarisches Leben koexistieren weniger als sie prozessieren. Solidarisches Leben und Wirtschaften ist kein Korrektiv, keine Ergänzung zu Markt und Geld, es ist eine Alternative, es löst die Geldlogik auf. Sonst umgekehrt.
Dem Geldverhältnis liegt der wohlbekannte und in uns allen mehr oder weniger eingewurzelte Interessen-Standpunkt eines freien, souveränen, selbstverantwortlichen Ich zugrunde, von dem aus es jedem Nicht-Ich, ob lebendig oder dinglich, als einem potentiell gefährlichen Objekt entgegentritt. – „Ich muss für mich selber sorgen, sonst tut es ja niemand.“ Verpflichtung für andere entsteht nur in blankem Eigeninteresse, nämlich als Versicherungsfall: Ich zahle ein, weil es mich treffen könnte und nehme dafür misstrauisch in Kauf, dass andere davon profitieren. Derlei Solidarität verlässt den Mainstream nicht.
Solidarität muss ein anderes Verhältnis zwischen uns entwickeln, wenn sie gedeihen soll. Erfinden müssen wir es nicht, denn in Fragmenten ist es unter uns. Das Verhältnis selbstverständlicher Hilfsbereitschaft, der Sorge hier und da für andere, ohne dabei aufzurechnen. In manchen Gruppen von Nachbarn und Kollegen, unter Verwandten zuweilen keimt es, unter Freunden und Liebespaaren, von Eltern zu ihren Kindern treibt es zeitweise heiße Blüten. Nicht „Ich hab es mir gerichtet“, sondern „Wir sorgen füreinander“ schafft ein Wohlbehagen, ein Glücksgefühl in solchen Nischen und Momenten. Es zeigt, was auch nach ein paar tausend Jahren Herrschaft und ein paar Jahrhunderten ihrer jüngsten Variante noch immer möglich ist.
Freilich: Beim Geld hört sich Freundschaft auf. Das integrierte System von Geld, Markt, Recht und Staat greift durch und über, der Raum für unberechnete Freundlichkeit und fraglose Solidarität ist eng. Den zu erweitern, zu verteidigen und auszudehnen, mehr Mittel für ein solches Leben in die Hand zu kriegen, auf Wegen, die wir erst bahnen, mit Fragen, die wir noch gar nicht stellen können, aber wenn wir es richtig machen: mit Freude aneinander – so könnte Solidarische Ökonomie sich entwickeln und behaupten. Wir würden gar nicht mehr von Ökonomie reden, es wär einfach ein gutes Leben. Denn bei der Freundschaft hört sich das Geld auf.
(13.4.2012)
Post from: Streifzüge. Liebe Leute: Allein hier zu schreiben, dass wir ein Leben ohne Geld wollen, kostet welches. Wer unsere Texte mag, soll dazu beitragen, dass sie hier (ent)stehen können. Wenn wer sich’s leisten kann. Eh klar. Dann aber seid so lieb: Her mit der Marie! Löst uns aus!
AUS AKTUELLEM ANLASS
Streifzüge 36/2006
von Eske Bockelmann
Diese Abhandlung wird im Laufe des Jahres 2006 als Beitrag erscheinen in: R. Heinz und Jochen Hörisch (Hg. ), Geld und Geltung. Zu Alfred Sohn-Rethels sozialistischer Erkenntnislehre, ( Verlag Könighausen & Neumann, 144 Seiten, ca. 24,80 Euro.
Als ich mit gut fünf Jahren erfuhr, ich würde später einmal – wie jeder – mein Geld selbst verdienen müssen, da durchzuckte mich als böse Gewissheit, erstens, das könne nicht gelingen, und zweitens, ich müsse deshalb zaubern lernen. Anders nämlich, so war mir bedrückend klar, würde ich es niemals zu all den Dingen bringen, die man so zum Leben braucht. Einen Beruf zu haben und dafür vieles können zu müssen, was ich jetzt noch nicht konnte, das war mir wohl vorstellbar. Aber dass davon die Zuteilung jenes immerfremden Stoffes abhängen sollte, der irgendwie von außen kam, offenbar noch über den Eltern stand und über ihren Berufen, und dass von diesem Stoff wiederum unmittelbar mein eigenes Überleben abhinge, das klang mir auf eine Weise bedrohlich, dass ich mich auf die Zauberei verwiesen sah. Natürlich, meines Wissens bestand wenig Aussicht, sie zu erlernen, doch da meine Absichten ohnehin nur auf alltägliche Dinge wie Essen und Wohnen gingen und wenn ich mich also darauf beschränkte, nur dieses Wenige und nicht gleich alles zaubern zu können…
Ich habe es bis heute nicht gelernt. Und so hob ich denn damals meine Hand, als endlich einmal die Frage erging: “… oder würde einer von Ihnen das Geld abschaffen wollen? ” Das war zum Abschluss der Alfred-Sohn-Rethel-Konferenz, ich saß für die Diskussion unter den Referenten auf dem Podium, und Jochen Hörisch fasste gerade zusammen: Bei aller Kritik, die Sohn-Rethel auf das Geld und den Warentausch gewendet habe, bekanntlich “zur kritischen Liquidierung des Apriorismus”, sei er zugleich ein großer Bewunderer des Geldes gewesen. Daher sollten auch wir unsere Konferenz nicht stur kritisch gegenüber dem Geld beschließen, sondern zugleich dessen enorme Leistungen hochachten – laut Sohn-Rethel immerhin die Schaffung der rationalen Denkformen, die gesamtgesellschaftliche Synthesis, die heute über das Geld laufe, oder etwa das geradezu unerschöpfliche Reservoir an Metaphorik, um welches es die Sprache bereichert habe. Dem Geld müsse, das sollten wir uns eingestehen, recht eigentlich tiefe Bewunderung gelten – “oder würde einer von Ihnen das Geld abschaffen wollen? ”
Ja – ich habe die Hand gehoben: Wenn es nach mir ginge, würde es abgeschafft. Aber siehe da, ich blickte um mich und sah niemanden sonst, der die Hand hob, meine Hand war die einzige geblieben, die sich nach oben streckte, und niemand also hegte außer mir den Wunsch und den Gedanken, es sollte einmal ohne Geld gehen. Das erstaunte mich, und ich stellte mir damals die Frage, ob Sohn-Rethels Einsichten tatsächlich weniger dazu drängten, dem Geld ein Ende zu wünschen, als dass sie eine Erklärung dafür liefern, weshalb dies durchaus niemand wünscht.
Geht es denn so gut mit dem Geld? Nein, es geht nicht gut damit. Das Gröbste, was sich dazu sagen lässt, heißt zwar, dass es einem Teil der Menschen zu Wohlhabenheit und Reichtum verhilft, doch bekanntlich nur einem stets sehr kleinen Teil der Menschen, während der weitaus größere – und zwar in Folge jenes Reichtums – gequält wird, darbt und verhungert. Ist das die Schuld des Geldes? Ja, es ist seine Schuld, und zwar insofern, als Geld die allererste und allgemeinste Grundlage genau der gesellschaftlichen Verhältnisse bildet, die heute weltweit durchgesetzt sind, die diese Art von Zweiteilung der Menschheit bedingen und sie zu Lasten des zunehmend größeren Teiles immer weiter noch verschärfen.
Das ist nicht so zu verstehen, als hätte es vor den Zeiten des Geldes kein Darben, keine Qual und keine Gewalt gegeben. Und noch ein anderes Missverständnis gälte es zu vermeiden, welches Sohn-Rethel so lange gepflegt hat, nämlich dass mit der ersten Prägung von Münzen, also zu frühen Zeiten der griechischen Antike, das Geld bereits den nexus rerum gebildet, das heißt bereits die Kraft erlangt hätte, die innergesellschaftliche Synthesis zu leisten – und damit auch jene Wirkungen zu zeitigen, die ich meine. Dazu kommt es erst mit Anbruch der europäischen Neuzeit, ja, der Übergang zur Geld-Wirtschaft im Verlauf des so genannten , langen’ 16. Jahrhunderts ist geradezu der Beginn dieser Neuzeit. Vorher gibt es wohl Geld, also Warentausch und Warenproduktion, aber, wie Sohn-Rethel unschwer hätte nachlesen können: “Warenproduktion und Warenzirkulation können stattfinden, obgleich die weit überwiegende Produktenmasse, unmittelbar auf den Selbstbedarf gerichtet, sich nicht in Ware verwandelt, der gesellschaftliche Produktionsprozess also noch lange nicht in seiner ganzen Breite und Tiefe vom Tauschwert beherrscht ist. “1 Und also nicht vom Geld. Spät erst, und zu spät, um diese Einsicht noch tief genug in seine Konstruktion von “Warenform und Denkform” einfügen zu können – ach, Herr Horkheimer, was haben Sie da alles verhindert! -, erkennt Sohn-Rethel: “Meine damalige Lesart der antiken Gesellschafts- und Ausbeutungsordnung war verfehlt”, es “krankt die Konstruktion daran, dass die Denkweise der Antike nach dem Modell der europäischen verstanden, also missverstanden ist”, 2 und zwar die “Denkweise”, weil die Gesellschaftsordnung. Erst in der neuzeitlich europäischen beginnt das Geld die gesamte Gesellschaft zu durchdringen und die Versorgung der Menschen mitsamt ihrer Verbindung bestimmend von sich abhängig zu machen. Und damit erst schafft es die historisch sehr spezifischen Verhältnisse, von denen ich spreche und die spätestens heute erkennen lassen, dass es, trotz Reichum und unvorstellbar gesteigerter Produktivkräfte, grundsätzlich nicht gut mit ihnen geht.
Wir jedenfalls leben ohne Zweifel in einer, inzwischen berühmterweise gar “globalisierten”, geldvermittelten Gesellschaft – wenn auch nicht mehr so ganz ohne Zweifel, was deren Funktionieren anbelangt. Selbst von biederster offizieller Seite – wenn ich mich recht entsinne unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten und zumindest vom gleichen Zuschnitt wie der auf großen Plakatwänden beworbene “Ruck”, der durch Deutschland gehen müsse: Wenn das nur keinen Veitstanz gibt! – wurde vor nicht allzu langer Zeit eine Werbekampagne geführt für das “Modell Ehrenamt”. Nicht nur allen , Ehrenamtlichen im Sport’ wurde da gedankt, nein, insgesamt seien “wir” auf das Ehrenamt angewiesen, ehrenamtliche Arbeit müsse zu einer neuen Grundlage “unserer” Gesellschaft werden, die Bürger mögen sich endlich flächendeckend bereit finden und menschlich-solidarisch statt rechnerisch-selbstbezogen tätig werden, wenn sie nicht ihre Gesellschaft den berühmten “Herausforderungen” wollten erliegen sehen. Das Ehrenamt – die Tätigkeit ohne Bezahlung: Sie solle sich zu einer neuen konstitutiven Form der Arbeitsleistung mausern, eben weil die Bezahlung der Arbeiten, die allerorten zu leisten wären, unlösbare Schwierigkeiten macht: Ja, zu tun gäbe es viel, aber wer soll das alles bezahlen? Also, Bürger, Schluss mit der sozialen Kälte, warmherzig angepackt und menschlicherweise auf Bezahlung verzichtet!
Hm, und doch – so ähnlich denke ich mir das auch. Was immer ich tue, zur Zeit noch, um damit Geld zu verdienen, von mir aus erledige ich es gerne ehrenamtlich und niemand soll mir etwas dafür zahlen – vorausgesetzt nur, ich bekomme meine Lebensmittel ebenfalls ehrenamtlich überlassen, ich darf ehrenamtlich in meiner Wohnung wohnen und ehrenamtlich hilft mir jemand bei der Reparatur meines Fahrrads. Denn dass ich zur Zeit noch auf der Bezahlung meiner Arbeit bestehe, liegt nicht daran, dass ich speziell auf Geld begierig wäre und vor allem einmal Geld sehen möchte, Geld Geld Geld!, bevor ich es dann wieder ausgebe und etwas Ordentliches damit anfange. Nein, mein Geldbedürfnis hat seinen Grund vielmehr allein in der weltbekannten Notwendigkeit, auf die ich allenthalben stoße, nämlich dass ich meine Mittel zum Leben ausschließlich für Geld bekomme, dass nämlich alle anderen um mich her auch auf Bezahlung bestehen und ich also unbedingt Geld zur Verfügung haben muss, um zu irgendetwas zu kommen. Und weshalb bestehen alle anderen darauf? Weil sie es genauso müssen, weil auch für sie gilt, dass alle anderen, mich eingeschlossen, darauf bestehen – und so schön immer weiter im Kreis und auf dem Erdkreis.
Es versteht sich also, dass der Zwang, als welcher das Geld eingerichtet und über jeden, ob er will oder nicht, in dieser Allgemeinheit verhängt ist, nur in dieser Allgemeinheit auch aufzuheben geht. Dies zu tun, hat das Projekt “Ehrenamt” in aller Unschuld vorgeschlagen, da es doch unbezahlte Arbeit zur Grundlage unserer Gesellschaft machen will – aber Vorsicht, Herr Bundespräsident, vor dieser erzkommunistischen Idee! Dass die Menschen diejenigen Arbeiten und Dinge, die ihnen nötig oder lieb sind, einfach nur deshalb erledigen und einfach deshalb herstellen, weil sie ihnen nötig oder lieb sind, und nicht, weil erst einmal der weltweite Zwang des Geldes dazwischengeschaltet ist und bedient sein will, das nämlich ist der Gedanke – man könnte ja sagen: einer befreiten Menschheit, aber lassen wir nur diese Höhenflüge, begnügen wir uns zu sagen: ist der gut materialistische Gedanke eines versöhnten guten Lebens.
Um den war es Ihnen nicht zu tun, das glaube ich wohl, und an die Frage des Eigentums, die daran hängt, wollten Sie erst recht nicht rühren. Ihnen ging es im Gegenteil ja um eine Sicherung der Gesellschaft, so wie sie ist. Nur dass diese Gesellschaft offenbar mit ihrer Grundlage, dem Geld eben, so weit in Schwierigkeiten gerät, dass es einer solch widersprüchlichen Rettung bedarf, einer, die genau das entbindet, wovor sie uns retten soll, den Gedanken einer grundsätzlich veränderten Gesellschaft: dass es ohne Geld gehen müsse. Auf diesen Gedanken, seltsamerweise, kommt niemand außer auf solch verdeckte Weise – ohne zu wissen, was er da denkt. Niemandem zwar entgehen die offen sichtbaren, radikalen und umfassenden Schwierigkeiten, die das Geld unter anderem sich selbst macht, von der Arbeitslosigkeit sogar in den reichsten Nationen bis zum Bankrott ganzer Länder. Es ist auch durchaus kein Tabu, sich über Weltbank und IWF aufzuhalten, über global player und versäumte Pflichten der Politiker, über Moral und Unfähigkeit von Managern, über Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit des Handels, richtige oder falsche Steuern, über zu freien oder zu sehr gelenkten Markt, zu große Schulden oder zu wenig Kredit. Und doch geht solche Kritik und Unzufriedenheit am Geldwesen niemals so weit, zu fragen, wie es ohne Geld gehen könne, sondern besteht im Gegenteil ausnahmslos darauf, dass es mit dem Geld gehen müsse, nur eben – weiß der Teufel, wie – besser.
Es gibt im ganzen zwei Wege, dies zu betreiben und zu hoffen, und fraglich nur, welcher von ihnen hoffnungsloser verläuft. Auf dem einen sind zumindest die mächtigeren Kolonnen unterwegs. Der andere ist historisch bereits abgetan.
Dieser war einmal der Versuch, das Geld mores zu lehren. Es sollte einfach alles richtig machen, sollte den Wohlstand richtig verteilen, sollte die Menschen nicht in zwei Klassen spalten, sollte dorthin fließen, wo es für die Versorgung der Menschen benötigt war, sollte dort entstehen, wo Gutes geschaffen wurde. Eine komplette Hälfte der Welt berief sich dafür auf Marx und brachte es doch nur auf das gröbste Missverständnis und eine Verkehrung ins Gegenteil dessen, was bei ihm Kritik der politischen Ökonomie war. Die Wertgesetze, die Marx in den kapitalistischen Verhältnissen am Wirken sah und die er für diese Verhältnisse in all ihrer Lieblichkeit verantwortlich machte, der realexistierende Sozialismus hat sie gerade nicht kritisiert, sondern umgekehrt für eherne Naturgesetze genommen, die er lediglich in seinem Sinne nutzen müsse, um gut zu wirtschaften. Die Länder, die sich da für kommunistisch hielten, hatten keinesfalls die Absicht, sich von der Geldlogik zu lösen, sondern dachten sich ihrer vielmehr besten Wissens zu bedienen. Was Marx kritisiert hatte, haben sie nicht abgeschafft, sondern sich angelegen sein lassen. Lediglich, um es zu den gedachten guten Sitten anzuhalten, wurde dem Geld punktuell eine Art Bremse eingebaut.
Nicht das Geld mit seinen Gesetzen, nicht den abstrakten Wert als solchen haben sie durch Planung ersetzt, sondern allein die Konkurrenz um ihn. Man plante, wo wieviel Geld erwirtschaftet, wieviel also produziert und für wieviel das jeweilige Produkt verkauft werden sollte. Was unter rein kapitalistischen Verhältnissen die Marktkonkurrenz steuert, indem die Teilnehmer wechselseitig an den Preisen ihrer Konkurrenten Maß nehmen müssen und nur dort produzieren, wo es sich nach demselben Maßnehmen auch in Geld rentiert, das haben die Realsozialisten dem Geld ab- und selbst in die steuernde Hand genommen. So waren sehr wohl gegenüber den kapitalistischen veränderte Verhältnisse geschaffen und die Menschen ein kleines Stück weit von der Geldlogik befreit – wer wie ich nach dem Mauerfall vom Westen in den Osten kam und dort seit Jahren lebt, hat den Unterschied im Verhalten der Menschen sehr deutlich bemerken und dann rasch verschwinden sehen können. Trotzdem, es war bei der Geldlogik geblieben und ungerührt hat sie ihr Werk denn auch gegen den guten Willen der Planer getan. Solange nicht unmittelbar das produktive Ergebnis geplant wird, zum Beispiel der Bau von Häusern dieser oder jener Qualität, sondern stattdessen die Geldmenge, die dafür aufzuwenden und damit zu erlösen sei, bleibt den Bauleuten ein verkehrtes Ziel gesetzt. Die aufzuwendende Geldmenge bemisst sich dann etwa an der Menge Material, die in den Bau eingeht, und wenn also davon eine bestimmte Menge zum Plansoll erhoben wird, so und so viel Tonnen Stahl, haben die geforderten Leute eben dies im Auge. Sie werden den Rohbau üppig mit Stahlmatten volldonnern, um den Plan auf diese Weise zu erfüllen statt mit dem ordentlich hingestellten Haus. Und so schadet der abstrakte Wert auch hier, wo er – ganz gegen-kapitalistisch – auf der Kostenseite einmal nicht so sparsam, sondern geradezu so verschwenderisch wie möglich anfallen soll, dem materialen Wert, der “Ware”. Und dass er selbst, der abstrakte Wert, auf diese Weise nie genug vom geplanten Mehrwert heckte, ist sattsam bekannt.
Mit diesem Versuch ist es daher vorbei, er hat historisch abtreten müssen. Nachfolger, wenn auch weit entfernt vom alten Lager, findet er trotzdem noch immer. Zaghaft oder selbstbewusst, wollen sie noch einmal bedeutend weniger weit gehen als die Sozialisten, gar nichts soll sich an den Grundrechenarten der kapitalistischen Mehrwertproduktion ändern, aber hier eine Tobin-Steuer, dort vielleicht die Besteuerung von Maschinen statt Menschen, hier mehr Marktchancen für die armen Länder und dort insgesamt die Entschleunigung des Marktes sollen dem Ganzen ein menschlicheres Antlitz geben. Doch wo immer die Bremse eingebaut würde, der Wachstumszwang, der mit dem gesellschaftsweit agierenden Geld gesetzt ist und der es schon schlecht verträgt, wenn die Steigerung nur zu gering ausfällt, vertrüge erst recht keine Form der Bremsung. Geld funktioniert nur dann als Kapital, es wird nur dann für irgendetwas produktiv, wenn es darüber zu mehr Geld wird. Kein Geschäft ist eines, das nicht zuletzt mehr Geld einbringt als aufwendet, und ein Einsatz von Geld, der es dazu nicht bringt, muss unterbleiben. Diese klare Logik gilt schon für das bescheidenste Unternehmen, umso mehr aber, bei den Unmengen von Kapital, die da weltweit als Anspruch auf Vermehrung unterwegs sind, für die Gesamtheit des Weltmarkts. Ihn noch weiter zu hemmen, der schon jetzt nicht genug Rendite findet, um sich anständig am Laufen zu halten, hieße die Krise nur verschärfen. Nicht menschlicher ginge es zu, sondern schlimmer katastrophisch. Die heute bereits gängigen Zusammenbrüche, unter denen ganze Länder der bittersten Not verfallen, würden weiter noch ausgreifen, und solche urgemütlichen Normalzustände kapitalistischen Lebens gewännen nur entscheidend noch an Ausdehnung und Schärfe. Das Geld lässt sich nicht gut zureden, zugleich als Geld zu funktionieren und nicht als Geld zu funktionieren, nämlich bitte lieb zu sein mit allen.
Also steht felsenfest der andere Glaube, wie es mit dem Geld besser gehen könnte: Es müsse nur ungebremst, ohne nach links und rechts zu schauen, ganz allein seinem Erfolg zugetrieben werden – “neo-liberal”, “global brutal”, “Kapitalismus pur” -, und als Folge davon würde sich dann alles andere auf der Welt ebenso zum Guten wenden. Wenn die Welt erst einmal von Kapital überflösse, so hätte das endlich auch den Überfluss an Wohlstand und Wohltaten und Wohlergehen für alles und jeden zur Folge. Wenn dem heute offenbar noch nicht so sei, dann nicht etwa auf Grund von “Kapitalismus pur”, sondern weil der bisher nicht pur genug zum Zug gekommen sei. Schon bis dato hätten die Jahrhunderte kapitalistischen Wirtschaftens großen Reichtum geschaffen, aber weil noch nicht für alle, müsse man folglich in dieser Richtung fortfahren und einfach noch mehr schaffen. Ja, allein dasjenige, was das Geld in die Hand nähme, habe überhaupt die Gewähr, zum Besten gewendet zu werden. Wenn die Luft im Moment noch verschmutzt und Gewässer und Sonstiges unschön belastet werden, zwar: nach gut kapitalistischer Kostenrechnung, so müssten dennoch zuletzt auch Luft und Wasser “monetarisiert” werden, also ihren Geldwert erhalten, zu kaufen und zu bezahlen sein: als Waren einzig dem zugänglich, der dafür Geld zu geben vermag. Dann erst, wenn wirklich alles “geldwert” wäre, würde alles im rechten Maß geschätzt und, so kostbar wie kostenträchtig, auch geschützt. Eine Überzeugung, zu der sich auch Hörisch damals auf dem Podium bekannte: Die Welt wäre gut, weil richtig teuer.
Nun denn – müsste also nur irgendwie dafür gesorgt werden, dass das viele, viele, doch bitte keinesfalls zu viele Geld überall im rechten Maß vorhanden wäre. Jeder Private und jeder Unternehmer müsste über genug Geld verfügen, um alles Nötige bezahlen zu können – nur so wäre Not verhindert -, aber keinesfalls über mehr als genug – nur so wäre verhindert, dass er Luft etwa fürs Verschmutzen bezahlt. Der gesamten Welt als einer einzigen großen Ansammlung von Waren, vom Wassertropfen bis zum High-End-Produkt, von der Arbeitskraft bis zum Recht, irgendwo zu wohnen, müsste die genau austarierte Menge an Geldvermögen gegenüberstehen, und zwar nicht nur insgesamt, der Gesamtheit der Waren die richtige Gesamtmenge Geld, sondern bei jedem Einzelnen, bei jedem und jedem einzeln, müsste fortlaufend genau die richtige Menge an Geld eingehen, die er für die austariert richtige Menge an Waren auszugeben hätte. O heilige harmonia praestabilita – welche göttliche Vorsehung sollte das planen! Aber nein, selbst das wäre ja noch zu einfach, eine entscheidende Anforderung käme erst noch hinzu: All diese wunderbare Harmonie zwischen der Menge weltlicher Güter und dem abstrakten Wert, um den sie sich ihrem Verbrauch ergeben, sollte sich ja allein durch die unsichtbare Hand des Markts erstellen, durch den blinden Konkurrenzkampf jeder gegen jeden, durch die pure Logik des abstrakten Werts. Globalisierungsgegner zwar demonstrieren vor Politikern allen Ernstes darum, sie möchten dem Geld seine harmonische Verteilung doch bitte anbefehlen, sie durch robustes Auftreten gegenüber der “Wirtschaft” herbeiregieren, aber das hieße nur wieder das Geld diejenigen mores zu lehren versuchen, die es als Geld nicht befolgen kann und deshalb seit Jahrhunderten nicht befolgt. Die Politiker, die es da mit dem Geld endlich einmal richtig lenken sollen, tun denn auch nichts dergleichen und können es gar nicht. Sie haben alle Hände voll damit zu tun, in ihren Nationalökonomien günstige Voraussetzungen für das zu schaffen, worauf eine jede Nationalökonomie beruht, nämlich möglichst hohe Kapitalverwertung, und dies nach der einzig möglichen Logik dieser Verwertung, der des Geldes selbst.
Wie aber die funktioniert, ist kein Geheimnis: Sie leistet und erzwingt das genaue Gegenteil der erhofften und erbetenen Harmonie; nicht Ausgleich der Vermögen, sondern absurde Polarisierung in Reich und Arm, Inseln des Profits durch Verelendung der Vielen, siegreiches Kapital unter Verwüstung ganzer Länder. Und dem ist nicht zu steuern. Denn das Geld, es feiert Erfolge, indem es sie verwehrt, und meidet Misserfolg, indem es Misserfolge schafft: Die Konkurrenz, die jeder gewinnen muss, gewinnt er gegen andere; und das Geld, das er gewinnt, gewinnt er anderen ab. Wenn denn – wie prophezeit – mit dem Geld alle zu Gewinnern werden könnten, oh, so hätten die Geldmächtigen längst dafür gesorgt! Auch dem brutalsten Ausbeuter wäre es lieber, er müsste seine Arbeiter nicht rücksichtslos um einen auskömmlichen Lohn bringen; so hätten sie nämlich mehr Geld, um ihm mehr abzukaufen. Und der verbohrteste Lobbyist einer Supermacht sähe es lieber, seine weltmarktgerechten IWF-Maßnahmen würden die betreuten Staaten nicht weiter ruinieren, sondern verwandelten sie in blühende Landschaften mit vielen glücklichen Leuten und ganz, ganz vielem Geld: Was wären sie dann für ein attraktiver Markt!
So aber geht es nicht zu, und wie es heute geht – ich muss nicht malen, was jeder kennt – so muss es gehen, wenn das Geld bestimmt. Unsere Gegenwart ist hier ein gültiger Beweis. Der lachhafte Modell-Idealismus stirbt zwar deshalb nicht aus: Weil es Erfolgreiche gibt, könnten alle erfolgreich sein, wenn sie es nur machten wie jene; klar, wenn einer siegt beim Hundert-Meter-Lauf, so können es alle, wenn sie es definitionsgemäß machen wie er – nur leider, indem auch sie die anderen besiegen. Nein, die Varianten, um die Niederlagen zu vermeiden, sind alle längst durchgespielt, mehr Markt, mehr Staat, ein anderer Zins, noch mehr privat, und läge es wirklich in der Hand von Managern, Politikern oder internationalen Institutionen, den weltweiten Erfolg aller oder jedenfalls der je eigenen Nation herbeizuregieren, sie hätten es liebend gerne getan, nichts würde ihre Stellung besser festigen. Worldcom wäre nicht pleite gegangen, Afrika würde zahlen statt zu hungern und die Meere hätten weiterhin reichlich Fisch. Die Härten des Markts und die Härten gegen diese Welt, sie sind Erfolg des Geldes. Und wohin auch immer man sich wendet, den Härten zu entgehen, man stößt auf seine Logik, die es jedesmal verwehrt.
Weshalb fehlt dann der Gedanke: ohne Geld?
Nein, nicht weil er schwierig ist, weil die Probleme unabsehbar wären und weil reifliche Überlegung ihn deshalb ausgeschlossen hätte. Es gibt den Gedanken einfach nicht, er fehlt von vornherein. Alles verbreitete Schimpfen, Verzweifeln und Klagen übers Geld, nirgends wagt es sich auch nur in die Nähe des Gedankens, dies Beschimpfens- und Beklagenswerte auszuschließen. Die utopischsten Vorstellungen davon, wie es mit dem Geld einmal gegen dessen Logik gehen sollte, niemals versteigen sie sich zu dieser Utopie. Philosophen halten es locker für möglich, dass es keine Welt gibt, und Physiker, es gäbe unendlich viele, nur eine Welt ohne Geld ist ganz undenkbar.
Sohn-Rethel hatte erkannt: Das Geld formt auch das Denken. Die Warenform als Denkform – das Geld als eine Form, nach der wir denken – das Denken selbst nicht denkbar , ohne Geld’: So wäre uns der Gedanke genommen, es ginge jemals , ohne’. Kein Gedanke entkommt dem Geld, weil es jeder fest schon in sich trägt.
Can such things be? Verfalle ich nun doch dem Glauben an Magie? Steht das bei Sohn-Rethel – oder hätte er dem wenigstens zugestimmt? Mag sein, er hätte es nicht getan, und doch nehme ich mit meiner Schlussfolgerung seine Erkenntnis nur sehr ernst. Es ließe sich ausführen – und ich habe es in meinem Vortrag zum Sohn-Rethel-Kongress getan -, dass er selbst sich nicht recht klar war, welche Denkformen es genau sind, die uns das Geld einbeschreibt, und vor allem nicht, wie es dazu kommt. Zweifellos, die spezifische Abstraktion in der Tauschhandlung Geld gegen Ware, Ware gegen Geld, trägt Formbestimmungen, die nach Sohn-Rethel für das rationale Denken – ich würde einschränken: für bestimmte Formen davon – konstitutiv sind. Doch auf die Frage, wie sich die Abstraktion von der Tauschhandlung ins Denken und dort unwillentlich und unwissentlich auf alle möglichen Denkinhalte überträgt, gibt er die zuverlässig falscheste Antwort: durch bewusste Reflexion, sagt er, also dadurch, dass wir alle durchdringend und kritisch über den geldvermittelten Tausch und die in ihm verborgene Abstraktionsleistung nachdenken und sie erkennen würden. Das kann schon deshalb nicht sein, weil kaum jemand dergleichen tut, und ist deswegen so verfehlt, weil die Übertragung damit bewusst vollzogen würde und wir jene am Geld gewonnenen, vom Geld erzwungenen Denkformen gerade nicht unwillkürlich und ohne unser Wissen auf andere Denkinhalte legten. Solange aber die Frage der Übertragung unbeantwortet, solange also ungeklärt ist, wie, bleibt unklar auch, was da genau übertragen wird, und das heißt eben: nach präzise welchen Formen unser Denken auf Geheiß des Geldes denkt. In dem hier zur Rede stehenden Punkt aber – und nur in diesem! – lässt sich das einmal recht einfach zeigen. 3
Wie steckt das Geld in unserem Denken? Seiner Wirkung nach so, dass wir gleichsam durch es hindurch auf die Welt blicken, es bereits in unseren Augen tragen und so auf alles legen, worauf unser Blick fällt, eine Art Färbung des Glaskörpers, die uns deshalb auf den Dingen zu liegen scheint, eine Polarisierung durch die Hornhaut, die uns die Welt nicht mehr anders sehen lässt als polarisiert. Daher wird es uns so unendlich schwer, vom Geld noch einmal abzusehen. Nicht nur, dass es uns aus jeder Ecke unserer Wirklichkeit entgegenruft: “Ick bün all hier”; wo wir auf welches Stück Welt auch immer treffen, etwas betrachten, es berühren, uns aneignen wollen, immer hängt schon Geld daran. Sondern diese objektive Ubiquität hat ihre Folgen und setzt ihre Bedingungen auch im Subjekt. Jeden zwingt sie dazu, Geld allüberall auch mitzudenken, es überall hineinzusehen. Für jeden der unzähligen Kaufakte, die wir Tag für Tag zu tätigen haben, haben wir zu wissen, aktuell vorwegzunehmen und aktiv zu bewahrheiten, dass die Dinge hienieden verbunden sind mit Geld. Damit selbst eine so einfache Transaktion wie der Einkauf beim Bäcker gelingt, müssen wir in der Ware zusätzlich noch den Geldwert sehen, leisten wir vorweg ihren Bezug auf Geld als abstrakten, rein für sich bestehenden Wert.
Der Bezug von Ware auf Geld, den wir im Äquivalententausch herstellen müssen, vulgo bei Kauf und Verkauf, wo das eine fürs andere gegeben und dabei als Wert gleichgesetzt wird, er verlangt von uns, diesen Wert zu denken, und der ist: eine rein gedachte Substanz, nein, Un-Substanz, immateriell, qualitätslos, ein leeres, stoff- und atomfreies, rein quantifiziertes Nichts. Doch dieses Nichts wiederum stets bezogen auf Ware, verbunden also mit allen nur denkbaren Gegenständen und Sachverhalten, und damit zugleich der Inbegriff von Etwas, Inbegriff aller Substanzen, Qualitäten, Inhalte. Seinem Dasein nach ist der Tauschwert reine Form: jene Form nämlich, die und in der uns das Geld zu denken zwingt – ohne dass wir es bemerken würden -, die Form jener nicht-inhaltlichen Un-Substanz, die unser Denken einzig am Geld gewinnen kann. Seiner Funktion nach aber heftet sich dieser Wert, nein, heften wir ihn, denken wir ihn gebunden an alles und jedes: was auch immer Ware werden könnte.
Und das setzt nicht erst ein, wenn wir im Bäckerladen stehen, wir tun es längst vorher und unablässig, unser Denken leistet es so allgemein und grundsätzlich, wie wir in Verhältnisse hineingeboren werden, die ebendies allgemein und grundsätzlich erfordern. Dadurch, dass es unser Denken leistet, und nur, wenn es dies getreulich tut, gibt es dieses Nichts, abstrakten Wert: indem Menschen seine Funktion anerkennen und seine Existenz dafür annehmen. Eine Annahme, die allerdings nicht bloß aus der Luft gegriffen ist. Sie besitzt ja ihren zwingenden Grund darin, dass die Funktion abstrakten Werts – wie ausgedacht er auch immer sein mag – objektiv durchgesetzt ist. Wollte jemand die Annahme unterlassen und den Geldwert für inexistent halten, die weltlichen Mächte würden alsogleich Nachhilfe zu leisten und dem Verwirrten mit Nachdruck den richtigen Glauben beibiegen. In Bezug auf Geld sind die Gesetze ja sehr empfindlich und geben der Polizei und anderen Kräften damit reichlich zu tun. Und dennoch gilt: Dass Geld als Geld funktioniert, dass es überhaupt Geld ist, hat zur Voraussetzung, dass Menschen es denken, dass sie die Dinge mit diesem abstrakten Wert verknüpfen und ihn dafür, den es sonst nicht gäbe und der sonst in nichts besteht, im Denken synthetisch erst bilden – ja, man kann sagen: ihn sich einbilden. Der Geldwert ist eine Denkleistung.
So findet diese Frage ihre fast tautologisch einfache Antwort: Wir kommen deshalb nicht dazu, die Welt ohne Geld zu denken, weil wir alles mit ihm denken. Unwillkürlich und unumgänglich hat unser Denken dieses chimärische Wesen , Wert’ zu synthetisieren und, ineins damit, über die ganze Welt zu legen. Das gehört zum Wert wie die globale Ubiquität zum Geld, das er ist, und hat darin zugleich seinen negativen Grund: die qualitative Leere und Unbestimmtheit des Geldes. Da es virtuell mit allem gleichgesetzt wird, trägt es keinerlei inhaltliche Bestimmung, und keinerlei definitorische Kanten schließen irgendetwas davon aus, gegen Geld getauscht und also mit abstraktem Wert verknüpft zu werden. Gerade durch diese Unbestimmtheit bestimmt sich paradoxerweise, wie wir diesen Wert denken und worauf wir seine Form übertragen. Sowenig nämlich dem Geld eine Grenze gezogen ist, welche Dinge nicht mit ihm gekauft, womit es also nicht verbunden werden könnte, so wenig vermag unser Denken eine Grenze zu ziehen, woran es die Wert-Form nicht mehr heften dürfte. Die universale Ausdehnung der Sache bildet sich ab in der nicht-inhaltlichen Form, und umgekehrt die nicht-inhaltliche Sache darin, dass ihre Form universal auf alles, auf jeden Denkinhalt auch übertragbar ist. Kein Ding vermag dem Denken je Einhalt zu gebieten: “Ich bin nicht Wert.” Daher ist ihm alles in der Welt auch Wert.
Ich erinnere mich noch gut der Entrüstung eines Bauarbeiters aus dem deutschen Osten, der erleben musste, wie einem westlichen Kollegen eine ganze Schachtel Nägel vom Gerüst fiel und dieser, statt die Nägel wieder zusammenzuklauben, kurzerhand zur nächsten Schachtel griff. In der DDR war kein Holzbrett beiseite gestellt worden, ohne dass man die alten Nägel herausgezogen und für weitere Verwendung glatt gehämmert hätte. Nun fallen dort die neuen – und jemand rechnet anders. Er rechnet ganz in Geld und sagt sich, die Zeit, um hinabzusteigen und Stück für Stück zu suchen, würde mehr kosten als die neuen Nägel. Das mag zutreffen oder nicht, in jedem Fall sind für ihn nicht Nägel vom Gerüst gefallen, sondern Geld – dasselbe, was auch die Zeit “ist”. Es steckt hierin wie dortdrin, und die Nägel mögen aus Eisen und die Zeit woraus auch immer sein, ihre eigentliche Substanz ist jedesmal das Geld: Um seine Bewahrung geht es, um seine Wirklichkeit.
Mit ihm verdoppeln wir die Welt in sie selbst und diesen Astralleib, den wir in sie hineinsehen. Der aber, der ausgedachte, scheint uns wirklicher noch als sie selbst, scheint uns ihr wahrer Leib zu sein, der Leib, der zählt. Des Kaisers Marschalk beklagt im Faust – “Nun soll ich zahlen, alle lohnen” – die Abhängigkeit von einem Gläubiger:
“Der schafft Antizipationen,
Die speisen Jahr um Jahr voraus.
Die Schweine kommen nicht zu Fette,
Verpfändet ist der Pfühl im Bette,
Und auf den Tisch kommt vorgegessen Brot. ”
Denn dessen Wert ist “Jahr um Jahr voraus” bereits verbraucht worden, er ist “vor”-gegessen und ist das eigentliche Brot, dem das gebackene auf dem Tisch nur noch nachfolgt wie Hexen-Fexen und Gespenst-Gespinste. Doch Mephisto weiß Rat, den Antizipationen der Schuldscheine zu entkommen, indem ihnen eine gleiche Vorwegnahme entgegengesetzt wird: Geldpapiere als Anweisung auf vergrabene Schätze. Goethe lässt sie spielen, als kursierte da nur Scheingeld, und sind doch veritable Geldscheine – ähnlich steht es noch heute auf den Dollars:
“Zu wissen sei es jedem, der’s begehrt:
Der Zettel hier ist tausend Kronen wert.
Ihm liegt gesichert, als gewisses Pfand,
Unzahl vergrabnen Guts im Kaiserland.
Nun ist gesorgt, damit der reiche Schatz,
Sogleich gehoben, diene zum Ersatz. ”
Das Gold als der gedachte Wertgrund des Papiers, man mag es gut und gerne vergraben lassen. Denn ob mit Gold oder ohne, ob festgehalten auf Papier, in Metall oder elektronischen Daten, durch nichts davon wird der Wert substantieller oder weniger substantiell. Der Verweis aufs Gold, den ihm Teufel und Obrigkeit da mit auf den Weg geben, zeigt bloß, wie gediegen-wirklich uns der Wert erscheint, während er sich doch in nichts sonst als Wert bewährt, als dass er überhaupt auf Güter verweist – egal auf welche. Er ist dieser Verweis: der Bezug auf Waren, auf das, was er kauft, auf das, worin er sich überhaupt nur immer realisiert. Und dafür, dass er das tut, genügt es, ihn nur irgendwo und irgendwie als Zahl festzuhalten – wenn außerdem durch irdische Mächte gesichert ist, dass diese Zahl als Geld fungiert, als ein Quantum des Bezugs auf Waren. Wäre die Zahl auf dem Konto einmal nicht mehr als dieser einzusetzen und wäre nichts mehr mit ihr zu kaufen, so wäre sie das bloße Nichts ihrer Form. Damit sie das bedeutende Etwas wird, als welches wir sie kennen, hat ihr genau nur diese Funktion zuzukommen und hat es also nur überhaupt Waren zu geben, die diesen Bezug auf sich anerkennen, egal ob nun Gold oder Gummibärchen, Massage oder frisches Brot. Deshalb lösen die Nationen, die es endlich auch verstanden haben, allmählich ihre Goldreserven auf, und seit langem schon bekäme man den Geldwert eines Scheines staatlicherseits nicht mehr in Gold aufgewogen. Aber das heißt nur, dass der Wert selbst nun wirkt wie Gold, heißt also, dass Funktion und reiner Bezug für uns gediegen-selbständige Existenz erhalten – dass wir sie in dieser Weise denken. Das ist verrückt genug und ist entsetzlich verkehrt.
Es ist der unwillkürliche Irrglaube, Geld und Wert wären eine absolute Substanz oder besser noch eine Art Energie, die man gewinnen könne und erzeugen müsse wie Kilokalorien oder elektrischen Strom. Man kennt die Vorstellung: Geld muss man nur irgendwo hinfließen lassen, hineinpumpen, investieren, und wo vorher Stillstand war, geht es alsbald rund. “Wo fehlt’s nicht irgendwo auf dieser Welt? Dem dies, dem das, hier aber fehlt das Geld.” Und es fehlt überall, wird überall gebraucht, wo irgendetwas fehlt. Hier wird gehungert, da Geld die Nahrung ist, dort bleibt ein Bau unvollendet, weil Geld der Mörtel ist, und da bricht alle Versorgung zusammen, da Geld für alles Mittel ist. Und dort fehlt zwar Nahrung, doch sie fließt, wenn Gelder fließen. Hier ruht ein Projekt, obwohl alles, Leute und Material, bereitsteht, doch läuft es, sobald nur der Treibstoff einläuft, Geld. In den armen Ländern wiederum hätte es tüchtige Hände genug, doch erst muss Geld von außen kommen, das gibt ihnen Kraft, um Arbeitskräfte zu werden.
Kurd Laßwitz hat die Vorstellung dabei auf ihre reinste Form gebracht. Sein Roman “Auf zwei Planeten” lässt die Bewohner des Mars, herrlich überlegen den Erdmenschen, zwar ebenso wenig wie sie aufs Geld verzichten, aber doch unmittelbar Energie als Geld verwenden. Wie auf einer Geldkarte mit Speicherchip trägt jeder sein Quantum davon bei sich, aufgeladen mit Hilfe der Sonne, als Tauschmittel übertragbar auf andere und in jedem Fall aber eine Form von Wert, die als Energie unmittelbar Arbeit leistet. Der aufgeladene Akku, ja, so stellen wir uns das Geld vor: Leistung, die sich sammelt und somit Leistung ermöglicht. Was die reichen Staaten an Energie aufgebracht hätten, davon gäben sie den armen ab, und weil es denen an Kraft gebricht, übertrügen ihnen die Starken etwas von der ihren. Woher sonst soll die Kraft zum Handeln kommen denn aus – Kraft? Diese aber wäre das Geld direkt: die potentielle Energie eines Steins, den wir mit derselben Energie auf eine Höhe gehoben haben, die er, hinunter rollend, wieder abgibt, “leistet”. Deshalb heißt es: Man kann sich nur leisten, was man geleistet hat! Man kann nur verbrauchen, was vorher erwirtschaftet wurde! Solche Kernsätze leuchten uns sehr wohl ein. Und doch sind sie, vom Geld gesprochen, die pure Lüge: als wäre das Geld selbst die Nahrung, nur dann zu essen, wenn sie vorher angebaut wurde, und als wäre es selbst die Arbeit, nur dann zu leisten, wenn jemand Kraft dazu gesammelt hat.
Tatsächlich, wenn dem so wäre, wie unser geldgeformtes Denken da behauptet, dann ginge es nicht ohne Geld. Dann läge es schon immer in der Welt, und jene Zeiten, die es noch nicht kannten, hätten einfach noch nicht entdeckt, dass Arbeit, die einer aufwendet, unmittelbar Wert ist und jedes Ding als solches immer Geld. Als die Menschen es endlich münzten, auf Papier schrieben und an der Börse handelten, hätten sie diesem Naturzustand damit nur sichtbare Form gegeben.
Doch Geld zwingt zwar zu Leistung, aber es ist sie nicht, verfügt zwar über die Produktion von Dingen, aber produziert sie nicht. Sein Produziertwerden vollzieht sich allein über den Handwechsel bei Kauf und Verkauf, das heißt beim schieren Gegenteil von Produktion, bei ihrem Verbrauch. Was immer produziert wird, zu Geld wird es nicht als dieses Produkt, sondern allein dadurch, dass es – bei einem anderen als dem Produzenten – in den Verbrauch geht. Wie selbstverständlich ist uns klar, dass vor allem eines: Konsum nötig ist, damit es der “Wirtschaft” gut geht. Wo nicht verbraucht wird, fällt auch kein Geld an, und insofern also ist Geld Verbrauch, und zwar unsinnigerweise der bereits erfolgte, der vergangene, ist Geld stets “vorgegessen Brot”. Absurd also, dass sich, was Einer verbraucht, bei einem Anderen als Substanz ansammelt; dass solch gewesener Verbrauch als Stoff fungiert, von dem der künftige zu zehren hat; dass Geld und Kredit als Nahrung oder Brennstoff weitergeben, was andere einmal verbrannt und verdaut haben!
Eine harmlose Unlogik, so mag man sagen, aber – nur zum Beispiel – ein tödliches Unglück dort, wo nicht genug Verbrauch in just diese Form seiner abstrakten Negation hat übergehen können, wo also zu wenig davon zu Geld wurde und daher zugleich mit diesem nun unmittelbar die Nahrung fehlt. Zum globalen Unglück aber wird dieselbe Unlogik, nein, ist sie längst geworden, da sie – so: Man stelle sich einen Apfelbaum vor, schwer von Früchten, und nun eine Logik, ihn zu ernten, die besagt, je mehr Äpfel bereits abgenommen wurden, umso mehr seien von ihm zu holen; wenn nichts geerntet worden sei, trage er auch keine Äpfel; besser, es fehlten schon viele Äpfel und wären gegessen, so gäbe es diese reichlich noch einmal und immer wieder vom Baum zu holen; und am besten, er wäre einmal vollständig geplündert, dann, ja dann wäre von dem geplünderten, von dem kahlen Baum, der nichts mehr trägt, die Fülle zu holen. Ein wiederum allzu harmloses Bild, aber jeder wird es um die entsprechenden und um detailliertere Bilder davon ergänzen können, welche Wirkungen und Wirklichkeiten ein Umgang mit der Welt zeitigt, von Boden, Luft und Wasser bis zum ätherischen Innenleben der Menschen, der dieser Logik gedankenlos gedankenvoll entspricht.
Und wenn es nun ohne Geld ginge? Nein, keine bloße Ersetzung durch Informationsbits, Kauri-Muscheln oder Arbeitswertscheine, keine Rettung des Geldes und Bewahrung seiner Logik, sondern seine Abschaffung. Wenn es ohne Geld ginge: so fehlte es – und fehlte somit nichts.
Die Welt wäre nicht länger verdoppelt. Dinge und Menschen wären nur mehr sich selbst, keinem Doppel verpflichtet, nicht diesem Un-Ding unterworfen, vor dessen Zwang, sich zu vermehren, alles andere für nichts gilt. Jedes Lebensmittel würde entstehen, weil es Lebensmittel, nicht aus dem Grund und nur unter der Bedingung, dass es zugleich vor allem Wert ist, jenes Un-Wesen, als welches sich alles zu realisieren hat, wenn es denn jemandem zum Verbrauch dienen soll. Die Menschen hätten sich allein um diese Mittel zu sorgen, nicht darum, sie vorweg zum Mittel eines Un-Werts zu machen, der sich um gar nichts sonst besorgt.
Es wäre nichts mehr zu teuer. Kein Hunger bliebe noch deshalb ungestillt, weil es an Geld fehlt. Keine Hilfe bliebe deshalb ungeleistet, weil sie sich keiner leisten kann. Keine Unternehmung läge nur deshalb ungetan darnieder, weil sich Verbrauch an anderer Stelle nicht ausreichend in diese staatlich garantierte Chimäre verwandelt hat.
Nichts hinge mehr davon ab, dass es sich rentieren muss. Keine Tat und kein Gut entstünden nur noch dann, wenn die nebenher laufende Rechnung aufgeht: Geld, das einer dafür aufbringt, muss mehr Geld werden, das es ihm einbringt. Produktionsstätten würden betrieben, weil sie Produkte, und würden nicht deshalb zusammenbrechen, weil sie nicht genug Geld abwerfen. Kein Mensch verlöre seinen Unterhalt, weil, ihn zu bezahlen, einem anderen nicht genug Profit verschafft.
Man könnte produzieren, wie es die Sache und die Bedürfnisse, nicht wie es Kosten und Rentabilität verlangen. Kein Haus müsste schlechter gebaut oder hergerichtet werden, als es die technischen Möglichkeiten erlauben – weil es billiger ist. Tiere müssten nicht mit Dreck, Chemie und ihresgleichen zur Verkäuflichkeit gezogen werden – weil man sich anders nicht auf dem Markt hält. Und Menschen – heute heißt das diejenigen, die noch um das Glück einer bezahlten Arbeit ringen dürfen – hätten nicht unter einem Druck zu arbeiten, der ihnen mehr und mehr noch ihr Leben verdirbt – weil es die Konkurrenz nicht anders zulässt.
Gut und schön, das sind papieren-utopische Verhältnisse und eine Liste, die sich endlos fortsetzen ließe, von den Kriegen um eine den wirtschaftlichen Führungsnationen genehme Weltordnung bis zum Markenzwang unter den kids oder umgekehrt von der Tomate, die schmeckt, bis zu einer Versorgung der Menschen ohne Besiegte. Aber, so lautet der erste Einwand, wer soll all die schönen Dinge dann bezahlen? Niemand soll sie bezahlen, denn niemand hätte mehr etwas zu bezahlen. Wer soll dafür aufkommen? Niemand, für nichts wäre mehr Geld aufzubringen. Aber wer stellt dann her, was alle brauchen, wer übernimmt die nötigen Dienste? Wer es eben – sagen wir vorläufig: ehrenhalber – übernimmt.
Natürlich ist der Einwand zwingend: Wenn das Geld fehlt, woher soll dann alles kommen? Aber er setzt nur wieder voraus, was gerade nicht mehr Voraussetzung sein soll, nämlich das Geld als Treibstoff aller Tätigkeit und Produktion. Weil heute alles unter seinem Zwang geschieht, weil es heute zu nichts kommt, ohne dass Geld daran beteiligt wäre, deshalb ist unvorstellbar, dass es ohne Geld noch zu überhaupt etwas käme. Richtig aber wäre dies: Es kommt zu all dem, was sich Menschen vornehmen und was in ihren realen Möglichkeiten liegt, weil sie es sich vornehmen und darüber einig werden.
Ein anderer Einwand: Wie soll es denn gehen, dass man gibt und nimmt und dabei nicht gleich viel bekommen will, wie man selbst gegeben hat? Soll sich denn der Eine, ohne mit der Wimper zu zucken, ständig übervorteilen lassen? Soll das, was er für das Weggetauschte bekommt, ohne Einspruchsrecht einfach weniger wert sein dürfen? Nein, denn es wäre nicht weniger wert, weil es nicht Wert wäre. Und das ist kein Trick, sondern zeigt nur noch einmal, wie schwer es uns fällt, die Welt nicht als Wert anzusehen. Denn auch dieser Einwand setzt etwas voraus, was ohne Geld keinen Sinn mehr hätte, den Äquivalententausch zwischen je zwei Wertbesitzern A und B. Auch er würde fallen, und an seine Stelle träte das Richtige: die gemeinsame, abgesprochene Produktion und Verteilung der Güter.
“Aber dann kann sich ja jeder nehmen, was er will! ” Ein guter Einwand, fürwahr, und endlich ein Stück Wahrheit über das Geld. Man hält sich ja sonst überzeugt, Geld wäre ganz allein dafür da, dass jeder an seine Sachen kommt, da er sie unzweifelhaft für Geld bekommt. Und doch liegen die Dinge so, dass er sie ausschließlich für Geld bekommt, und auf diese Weise ist das Geld umgekehrt das Mittel dafür, dass eben nicht jeder nehmen kann, was er will, dass er vielmehr nichts nehmen kann, dass er ausgeschlossen ist von allem – von allem, wofür er nicht Geld zu bieten hat. Diese Ausschließung, tatsächlich, müsste fallen. Nicht so, dass die Welt weiterhin der Supermarkt bliebe und der Einzelne ginge hin, räumte die Regale leer und machte einen eigenen Laden auf – wozu auch, da ihm niemand etwas abkauft. Sondern so, dass die Verteilung ebenso wie die Produktion abgesprochen wäre, nicht mehr Sache des privaten Kunden, sondern die einer Art Almende.
Wie das gehen soll? Das weiß ich nicht. Aber ich habe einen Vorschlag.
All die Menschen, die jetzt noch hauptberuflich oder zu einem sonst beträchtlichen Teil ihres Berufslebens damit befasst sind, zu überlegen, auszurechnen und auszutüfteln, wie es mit dem Geld zu gehen habe, also zum Beispiel Finanzbeamte bis hinauf in die Ministerien, Wirtschaftsweise vom IWF bis hinab zum Steuerberater, Bankleute von der hässlichen Filiale hier an der Ecke bis wiederum hinauf zu EZB und Weltbank, die Leute aus der Versicherungsbranche, den Werbeagenturen und Unternehmensberatungen, die geballte intelligentsia von BWL und VWL, Wirtschaftsjournalisten, Börsianer bis zu solchen Nobel-Preis-gekrönten Überfliegern, die mit ihren Formeln das Jahr darauf eine saubere Pleite hinlegen, die Entwickler von Geldautomaten, Diebstahlssicherungen und Fahrscheinen, Angestellte an den Kassen, in der Buchhaltung, im Marketing-Bereich, eine Unmenge von Juristen, von Wachmännern und Vollzugsbeamten, Bankräuber und Spekulanten, Programmierer und Verpackungsdesigner, Gewerkschafter und Lotto-Feen, alle sie, diese Millionen und Abermillionen Menschen, die ohne Geld nichts oder doch bedeutend weniger zu tun hätten und also frei würden für eine neue Beschäftigung, aber eingeschlossen ebenso alle übrigen Menschen, die noch immer genug Sorgen haben mit dem Geld, sie alle möchten sich zusammenfinden zu einem gewaltigen brain-storming, zu einer Art Silicon Valley der neuen Vergesellschaftung, zur kritischen Masse eines qualitativ befreiten Innovationsdiskurses – schon gut, also, sie möchten ihre gesammelte Geistestätigkeit, die bisher zu der hohen Stufe von Produktivität plus aufreibende Verwaltung der Geldangelegenheiten hingereicht hat, einmal allein auf die erstere richten. Und dann möchten sie überlegen, wie das Nötige produziert und wie es verteilt wird.
Die Produktion wird sich sicherlich verändern, Güter werden nicht erst dreimal um die Welt jagen müssen, um am Ende zwar weniger Geld, jedoch umso mehr Energie verbraucht zu haben. Nicht jedes kleine Kinder-Joghurt wird in seinem eigenen kleinen Plastikbecher mit eigener Deckfolie im offenen Kühlregal stehen, damit sein Kauf nur um Himmels willen keinen unnötigen Widerstand überwinden muss. Die Produktionskraft wird zum einen nachlassen, da das Geld als der große Zwang über den Menschen wegfällt und da also auch kein Zwang mehr zum Wachstum besteht; aber zum anderen wird sie zunehmen, da kein Geld mehr Millionen über Millionen Menschen aussondert und zu Untätigkeit verdammt; und weil eben viele, viele unnötige Arbeit, sonst allein auf die Schwierigkeiten mit dem Geld und das Orakeln um den auf immer blind-undurchdringlichen Markt gewendet, frei würde für nützlichere Dinge.
Und die Verteilung? Muss da nicht geplant werden? Ja, es müsste sein, wie grauenhaft schlimm das auch in den Ohren von Menschen klingt, die in der Marktwirtschaft noch nie irgendetwas zu planen hatten, nicht wahr? Weder irgendwelche Bestandteile oder Abläufe der Produktion noch die Überlistung, Überbietung, Ausbremsung der Konkurrenz, nein, weil sich der Gang der Börse beispielsweise gar nicht planen lässt, haben sie in ihrem ganzen Leben noch nie einen planerischen Gedanken auf diesen Gang verschwendet, ist es nicht so? Nun, jetzt müsste leider und ganz überraschend mit einem Mal geplant werden, ja, wenn auch nicht, wie im Sozialismus, der “Absatz” von “Waren”, die “Erwirtschaftung” von “Mehrwert” und ähnlicher Kokolores. Sondern zu planen wäre, was gebraucht wird, was wie lange wie viele Hände braucht, wenn man es auf welche Weise produziert – solcherlei Dinge. Da könnten Programme eingesetzt werden, wie sie längst in den Unternehmen existieren, Programme, die regeln, wann welches Produktionselement an welcher Stelle eintreffen muss, damit am Ende alles gut ist. Bei der Feststellung des Bedarfs wäre inzwischen auf eine wunderbar planerisch-interaktive Einrichtung wie das Internet zurückzugreifen. Und Leute, die auf jeden Fall verhindern wollten, dass irgendjemand mehr bekommt, als ihm zusteht, würden ohne Zweifel mit einem Bruchteil des Aufwands, der heute für das entsprechende Problem getrieben wird, zu Ergebnissen kommen. Mir würde genügen, ich habe zu essen, habe meine Unterkunft, habe keine Konkurrenten; die Yacht mag sich unter den Nagel reißen, wer will.
Alle einverstanden? Kann es sich jemand vorstellen? Würde – jetzt – einer von Ihnen das Geld abschaffen wollen?
Kein Arm zuckt, kein Finger rührt sich. Ich bleibe allein. Was ist nur falsch, was ist geschehen, was habe ich übersehen? Aber natürlich, eine ganze, große Kleinigkeit: dass es gar nicht geht. Denn es gibt Geld – und damit den Zwang zu ihm. Jede müde Mark, die einer besitzt, besteht auf dieser Welt als der Anspruch, in Gütern eingelöst zu werden, ein wohl geschützter, ein machtvoll überwachter Anspruch, auf dem jeder bestehen muss und der sich damit forterbt als immer er selbst und immer derselbe. Dieses große Eine, was wir hienieden besitzen, was uns ausmacht, worauf unsere Stellung in der Welt beruht – oder wodurch unsere Stellung ebendort auch ins Wanken gerät -, wir wollen es nicht aufgeben: Wäre es doch, als gäben wir uns auf. Und wir können es nicht aufgeben. Da gibt es ja mächtige Aufpasser, die es gar nicht gerne sehen, wenn selbst Staaten auf ihrem ureigensten souveränen Gebiet der Geldlogik einmal nur zu wenig Recht einräumen wollen. Sie sehen es nicht gerne und lassen es deshalb einfach nicht zu. Da wird dann offen erpresst, wird gemordet, intrigiert und nicht zuletzt auch richtig Krieg geführt. Kalt muss er heutzutage ja nicht mehr sein. Das mit der Abschaffung des Geldes kann man also, wie man so sagt, vergessen.
Also lassen wir für immer auch von dem Gedanken.
Anmerkungen
1 Karl Marx, Das Kapital I, MEW 23, S. 184.
2 In einer auf 1970 datierten Anmerkung zu “Zur kritischen Liquidierung des Apriorismus” (1937), in: Warenform und Denkform, Frankfurt/Main 1978, S. 27-89 (S. 83f. ).
3 Wohlgemerkt, das Folgende betrifft lediglich einen kleinen Ausschnitt dessen, was hier zu entwickeln wäre. Ausführlicher dazu mein Buch “Im Takt des Geldes. Zur Genese modernen Denkens”, Springe 2004.
1. April 2006
Streifzüge 50/2010
von Franz Schandl
Allenthalben ist von Werten zu reden. Von Werten, die wir haben, oder welchen, die wir brauchen, von Wertewandel und Werteverfall und vor allem und unablässig von der Wertegemeinschaft. Denn die benötigen wir, unbedingt. Auch allen Ausländern würde sie artig bekommen. Dass die Leute vor solchen Debatten nicht einfach davon laufen oder lauthals auflachen, lässt schließen, dass das implizite Bekenntnis zu den bürgerlichen Leitwerten trotz Verdruss ungebrochen gegeben ist. Das Aroma der bürgerlichen Grabkammer verkauft sich noch immer als das edelste Parfüm dieser Welt. Auf ewig soll es so riechen.
Der Wertekonsens mag zwar keine richtige Überzeugung sein, aber solange er als synthetische Voraussetzung in Verwendung steht, hält er die Reflexion fest im Griff. Der Wert, der steht hoch im Kurs. Kein Konkurs vermag ihn erschüttern. Dass wir etwas wert sein sollen und dazu Werte brauchen, kann das anders sein? Nein, es ist das Selbstverständlichste auf der Welt, den abstrakten Prinzipien des Bürgertums zu huldigen: Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, das wärmt die Seele, das sind doch Werte für ewig! Nicht?
Das Zentrum der Werte bildet – das Wort verrät es durch seinen Singular – die ökonomische Kategorie selbst, der Wert. Der Glaube an ihn ist die gemeine Basis diverser Ausdünstungen unserer Befangenheit. Alle Bereiche sollen durch Werte dem Wert angepasst sein. Man denke nur an all die befallenen Begriffe wie Wertschätzung, Wertschöpfung, Bewertung oder wertvoll. Auch das Selbstwertgefühl ist in seiner Konstitution nie etwas anderes gewesen als die von außen geprägte Werteinschätzung des Selbst, wobei das Selbst die Rückbezüglichkeit schon in sich trägt. Es ist ein abstraktes Sich, kein konkretes Ich, ein Subjekt, dessen Selbstwert immer an Verwertung orientiert sein muss.
Die Achtung der Menschen erfolgt nicht direkt, sondern über die jeweiligen Wertigkeiten der Rollen und ihrer Masken am Markt. Akzeptiert wird, wer sich verwertet. Jeder Wer ein Was! Und wer kein Was, ein Nichts! Dieses Selbstwertgefühl sinkt rapide, wird der Einzelne vom Kapital nicht anerkannt. Nicht nur Arbeitslose spüren das, die aber ganz besonders.
Die Frage, welche Werte wir brauchen, ist einfach zu beantworten: Keine! Nicht Werte brauchen wir, sondern Freude und Freundschaft, Bewusstsein und Reflexion, Kooperation und Verantwortung, Lust und Liebe. Gesellschaftskritik, die sich unter diesem Level positioniert, ist keine. Sie ist höchstens Weltverbesserung, wo diverse Verschönerungsvereine via Demokratie uns einen „guten Kapitalismus“ (Robert Misik) bescheren möchten: Dort eine Steuer und da ein Verbot und hier eine Förderung und noch ein Recht und ein Radweg dazu, was sonst soll man wollen? Und ist Rot-Grün kein Fortschritt? Oder gar eine Strukturreform? – Welch gnadenlose Vergeudung des Daseins!
Die Frage, die sich stellt, ist ja an Banalität kaum zu unterbieten: Wollen wir gut sein oder wollen wir etwas wert sein? Und wer meint, das sei das Selbe, hat Selbiges nicht reflektiert, sondern nur einen automatisierten Reflex der objektivierten Gegebenheiten in Gang gesetzt. Wir jedenfalls wollen uns gewinnen und die Welt noch dazu. Gegen das Kapital – für das gute Leben! Es gäbe schon viel her, dieses Leben, ließe es sich in vollen Zügen genießen, wenn da nicht…
Der Markt ist uns nicht geheuer, sondern ein Ungeheuer. Völker sowieso. Und arbeiten gehen wollen wir auch nicht. Wenn die Streifzüge Sinn machen, dann nur als Substanzialisierung des Werteverfalls. Wir sind also nicht ein obligater und abgeklärter Ruck in die Mitte. Unser Programm ist geradewegs die Entwertung der Werte.
Post from: Streifzüge. Liebe Leute: Allein hier zu schreiben, dass wir ein Leben ohne Geld wollen, kostet welches. Wer unsere Texte mag, soll dazu beitragen, dass sie hier (ent)stehen können. Wenn wer sich’s leisten kann. Eh klar. Dann aber seid so lieb: Her mit der Marie! Löst uns aus!
Streifzüge 54/2012
von Andreas Exner
(Erstmals erschienen in: SOL Nr. 126, 2006, S. 16-20; www.nachhaltig.at)
Ein Leser meint: Eine Welt ohne Geld wäre schön, doch eine schöne Welt ohne Geld sei unmöglich. Also, brauchen wir Geld oder brauchen wir Geld nicht? Im Folgenden behandle ich fünf Fragen zum Thema Geld. Als Überschriften dienen mir die wichtigsten Antworten darauf. Es spricht einiges dafür, dass es dabei um Mythen geht.
Wir alle gebrauchen Geld tagtäglich. Weil wir beinahe nichts ohne Geld bekommen oder tun können, neigen wir zur Ansicht, Geld sei ein neutrales Mittel für einen vernünftigen Zweck. Tatsächlich müssen wir es uns ja buchstäblich leisten können, einmal nicht ans Geld zu denken. In einer Gesellschaft, in der Geld das Scharnier der sozialen Beziehungen ist, liegt das auf der Hand. Auf der Hand liegt damit aber auch, dass das Geld lediglich Mittel für einen Zweck ist, den es selber erst in die Welt setzt: Wer kaufen muss, will kaufen können.
Von der Seite der Konsumentin her gesehen ist Geld bloßes Mittel, um zu kaufen. Der Zweck des Kaufs ist hier nicht Geld, sondern Ware. Betrachten wir den Kaufakt dagegen mit den Augen eines Unternehmers, so ist sein Zweck das Geld. Er will mehr davon, als er ausgegeben hat, um die Waren herstellen zu lassen. Ansonsten macht die Aktion für ihn keinen Sinn. Denn von der Anerkennung der Kunden oder der Zufriedenheit seines Personals kann er sich nichts kaufen; weder Brot noch Yachten noch neue Maschinen, die es ihm erlauben, die Produktivität zu steigern, um in der Konkurrenz bestehen zu können. In diesem Prozess der Geldvermehrung sind menschliche Bedürfnisse und ökologische Grenzen zweitrangig. Deshalb ist Geld nicht vernünftig.
Gemacht wird folglich nicht, was machbar ist. Vielmehr entscheiden darüber Gewinn und Finanzierbarkeit. Denn Geld hat eine Botschaft: Du bist nichts, solange du nicht kaufen kannst. Tatsächlich erkennen wir einander nicht als Menschen an, sondern nur als Zahlende. Primär missverstehen wir uns als Getrennte. Erst in zweiter Linie verbindet uns das Geld. Deshalb ist Geld nicht neutral.
Das Streben nach Gewinn liegt nicht in der Natur des Unternehmers, sondern in der des Geldes. Nicht die Gier treibt ihn dazu, Gewinn zu produzieren. Die Ursache ist auch nicht die Gier der Banken. In Wahrheit gründet die Gewinnsucht darin, dass Geld für nichts gut ist. Es befriedigt keinerlei konkretes Bedürfnis. Geld kann man weder essen noch trinken, weder fühlen noch schmecken, noch sehen oder hören. Geld als Geld ist eine nackte Zahl (auf einem Schein, einer Münze oder am Konto). Es verkörpert den „reinen Reichtum“ – einen sehr eigentümlichen „Reichtum“, der von allem Irdischen „gereinigt“ ist. Geld ist daher ein Produkt, das als solches gar nicht befriedigen kann. Gier und Sucht provoziert es mit Notwendigkeit.
Der Unterschied ist himmelhoch: Brot stillt Hunger, Mensch will Brot; Geld dagegen will quasi bloß sich selbst. Der Hunger nach Geld ist rein abstrakt. Auch das beste Menü lässt diesen Hunger unberührt. Betrachten wir eine Speisekarte, so bestellen wir, was auf der linken Seite steht, nicht das auf der rechten. Genau deshalb ist dieser spezielle Hunger maßlos, rastlos, endlos. Geld unterscheidet sich von sich selbst ja nur der Menge nach. Aus eben diesem Grund wird aus Geld Kapital – Geld, das sich vermehrt. Der Hunger danach, Geld zu vermehren, ist maßlos: Denn an sich selbst findet Geld kein Maß. Warum soll ein Gewinn von 10 Prozent ausreichen, wenn auch einer von 10,5 Prozent möglich wäre? Rastlos ist dieser Hunger noch dazu: Anders als der Hunger unserer Sinne ist er durch nichts und niemanden und niemals zu stillen. Warum auch soll ein Unternehmen z.B. nur alle fünf Jahre Gewinn machen wollen? Und schließlich ist dieser Hunger endlos: An sich selbst findet Geld keine Grenze. Warum sollte ein Kapital von 1 Million Euro ausreichen, wenn wir es auf 1 Million Euro und 2 Cent erhöhen können … und so weiter. Selbst wenn ein Unternehmer dieser Geldlogik nicht folgen will, so erzwingt es doch die Konkurrenz.
Kommt die Rede auf Sinn und Zweck des Geldes, so ist oft zu hören, dass ohne Geld erstens keine Arbeitsteilung möglich sei, und dass zweitens Wohlstand gerade auf einer starken Teilung der Arbeit basiert, wie erst das Geld sie ermögliche. Tatsächlich hat der überwiegende Teil der heutigen Arbeitsteilung allein den Sinn, Geld zu machen. Auch ist es richtig, dass sich die Arbeitsschritte extrem vermehrt und die Transportwege massiv verlängert haben – wir wissen, dass dies in ökologischer und sozialer Hinsicht problematisch ist.
Ein gewisser Grad an Arbeitsteilung ist sicherlich in vielen Fällen sinnvoll. Dass es ohne Geld keine Arbeitsteilung gäbe, stimmt aber nicht. Zu den sozialen Zusammenhängen, die Arbeitsteilung ohne Geldverkehr organisieren, zählt nicht nur die Familie sowie die Wohn- oder Dorfgemeinschaft. Auch beschränken sich Arbeitsteilungen ohne Geldverkehr nicht auf die ungeheure Vielfalt vor- und nicht-moderner Gesellschaften, die weltweit existiert haben und zum Teil noch existieren. Die besten Beispiele von Arbeitsteilung ohne Geldverkehr sind vielmehr die kapitalistischen Unternehmen selbst. Innerhalb einer Fabrik oder in einem Büro wird bekanntlich weder getauscht noch bezahlt. Intern beruht ein Unternehmen vielmehr auf der Kooperation. Die Geldwirtschaft freilich führt dazu, dass Kommando- und Konkurrenzbeziehungen die innerbetriebliche Kooperation überlagern.
Dass Arbeitsteilung nicht des Geldes bedarf, lässt sich noch an vier weiteren Beispielen zeigen. Erstens am Phänomen der Freien Software-Produktion (Stichworte: Linux, Wikipedia). Dabei arbeitet weltweit eine große Gruppe von Menschen an einem hoch qualitativen, komplexen Produkt – ohne damit Geld zu verdienen, ohne einander persönlich zu kennen. Zweitens zeigt der bedeutsame und vielfältige Bereich des Ehrenamts, in welchem Ausmaß notwendige und sinnvolle Arbeiten auch ohne Geldverkehr und -erwerb geteilt werden können. Ein drittes Beispiel sind die so genannten Reduktionen in Paraguay zur Zeit des „Jesuitenstaats“ im 17. Jhdt. Sie sind zwar kein Vorbild für eine egalitäre Gesellschaft, doch beweisen sie, dass prinzipiell nicht nur eine Arbeitsteilung, sondern auch eine Güterverteilung ohne Geld möglich ist. Die Reduktionen versorgten über 200.000 Menschen und stachen zu ihrer Zeit durch ihren Wohlstand hervor. Ein viertes Beispiel bieten uns die israelischen Kibbuzim. Das Sozialgefüge dieser Produktions- und Lebensgemeinschaften, die jeweils bis zu 2.000 Menschen umfassen, basierte jahrzehntelang und in wesentlichen Zügen auf einer Kooperation ohne Geld. Insbesondere in ihrer Blütezeit wurde die Produktion (ab den 1950er Jahren auf höchstem technischen Stand), die Teilung der Arbeit und die Verteilung der Güter innerhalb des Kibbuz weitestgehend ohne Geld kollektiv organisiert. In den 1960er Jahren, als der Niedergang der ursprünglichen Kibbuzidee einsetzte, lebten rund 80.000 Menschen in mehr als 200 Kibbuzsiedlungen. Jeder dieser vier beispielhaften Ansätze hat bzw. hatte natürlich mit einer Reihe von Schwierigkeiten zu tun. Doch sind diese im Wesentlichen auf die ungünstigen Außenbedingungen zurückzuführen, die von der Geldwirtschaft bestimmt sind. Sie wären überwindbar (gewesen).
Obwohl die Arbeitsteilung wichtig ist, dürfen wir ihren Nutzen aber auch nicht überschätzen. Die Produktivität etwa hängt nur zu einem Teil davon ab, mindestens ebenso wichtig ist die Kooperation. Die entscheidende Rolle aber spielen die Maschinen. Die moderne Produktivität ruht auf dem Wissen, das in ihnen steckt, und auf der fossilen Energie, mit der wir sie (noch) betreiben.
Eine Frage liegt nun wohl einigen auf der Zunge: „Aber ist nicht der Zins das eigentliche Übel, Geld hingegen gut?“ Lasst uns die Sache näher ansehen. Um zu verstehen, wie Geld, Gewinn und Zins zusammenhängen, ist eine formelhafte Darstellung hilfreich. Wir stellen dazu dar: die Ware (mit Preisen versehene Güter und Dienstleistungen), G für das Geld und „G + Gewinn“ für den Zuwachs an Geld über die vorgeschossene Summe G hinaus. Der Geldzuwachs bildet den Unternehmergewinn. Der einfachste Fall des Produktionsprozesses in einer Geldwirtschaft sieht dann aus wie folgt:
Geld wird ausgegeben, um bestimmte Waren (Produktionsmittel und Arbeitskraft) zu kaufen. Der Verkauf der produzierten Ware ergibt einen Rückfluss an Geld. Wir haben zuvor schon gesehen, dass dieser Vorgang nur dann einen Sinn ergibt, wenn die Einnahmen die Ausgaben übersteigen, wenn also nicht nur G, sondern „G + Gewinn“ herauskommt. Aber diese formelhafte Darstellung ist noch unvollständig. In der Regel wird nämlich das Kapital – Geld also, das sich vermehrt – von Geldkapitalisten (Banken, Fondsverwaltern) vorgeschossen. Mit dem geborgten Kapital lässt ein Unternehmer schließlich Waren produzieren. Die ergänzte Darstellung sieht aus wie folgt:
Wer Geld zur Bank trägt, hat in der Regel nicht diesen Gesamtprozess der Warenproduktion vor Augen, wie er sich am Konto positiv zu Buche schlägt. Unser Blick ist vielmehr auf einen kleinen Ausschnitt beschränkt: Aus G wird „G + Sparzinsen“ (der erste „Geldkreislauf“ in der grafischen Darstellung). Es sieht deshalb so aus, als würde Geld Geld machen, quasi aus dem Nichts, so als würde Geld „arbeiten“. Tatsächlich aber wird das Geld in Form von Kredit bloß vorgeschossen, um Arbeitskraft in der Warenproduktion vernutzen zu können. Die Arbeitskraft braucht nur einen Teil der Arbeitszeit, um ihre eigenen Kosten einzuspielen, schafft also mehr Wert, als sie selbst hat. Sie produziert Mehrwert, einen Profit. Der Unternehmer erhält davon einen Teil, seinen Gewinn. Der andere Teil wird an die Geldkapitalisten als Zins (oder als Aktiendividende) bezahlt. Dies ist der Preis für jenes Geldkapital, mit dem er seinen Gewinn produzieren konnte.
Übrigens geben die Banken heute nicht bloß Geld, das die Sparerinnen bei ihnen anlegen, an die Unternehmen weiter, wie die vereinfachte grafische Darstellung suggeriert. Die Banken „schöpfen“ vielmehr selber Geld (Buchgeld), indem sie Unternehmen, die sie als profitabel einschätzen, Kredite gewähren (in Gestalt von Sichteinlagen). Allerdings müssen die Kredite der Geschäftsbanken zu einem gewissen Teil durch Bareinlagen von Sparerinnen oder durch Verschuldung bei der staatlichen Zentralbank gedeckt sein.
Im Unterschied zu Unternehmenskrediten sind Konsumentinnenkredite – geldwirtschaftlich betrachtet – unproduktiv. Sie werden ja nicht als Kapital genutzt, sondern für den Konsum verausgabt. Die Schuldnerinnen haben davon keinen finanziellen Vorteil. Für den Unternehmer aber sind Kredite in der Regel nicht nur rentabel, sondern notwendig, um in der Konkurrenz zu bestehen. Er profitiert, gerade weil er Schuldner ist. Denn je größer das investierte Kapital, desto größer auch der potenzielle Gewinn. Deshalb gehört zur Geldwirtschaft mit Notwendigkeit der Zins. Ihre Übel sind, wie schon zuvor gezeigt, nicht durch den Zins bedingt. Der Zwang zum Wachstum folgt ebenso aus der „Geldnatur“ wie die Konkurrenz. Zusammen bewirken diese beiden Dynamiken schließlich auch, dass die Reichtumsschere immer weiter aufgeht (wer Geld als Kapital anlegen kann, bekommt noch mehr davon usw. ).
Wenn bestimmte Arbeiten derart qualvoll oder unattraktiv sind, dass sie niemand übernimmt, ohne dazu gezwungen zu werden, dann müssen wir diese Arbeiten besser organisieren. Nehmen wir den (sehr wahrscheinlichen) Fall, dass sich niemand freiwillig dazu bereit findet, über Jahre hinweg den ganzen Tag Klos zu putzen. Was spräche dagegen, dass die Benützer selbst die Reinigung unter sich organisieren?
Welche Gesellschaftsform wollen wir mit dem Argument verteidigen, dass sie nur funktioniert, wenn es den – alles andere als notwendigen – Zwang gibt, Geld zu verdienen und auszugeben; dass sie nur funktioniert, wenn „Chefs“ so genannte Beschäftigte kommandieren; unter der fortgesetzten Drohung der Verarmung, ja des Hungers, letztlich gar des Todes? Ist dies eine Welt, die wir unseren Kindern hinterlassen wollen? Ist dies eine Welt, die wir selbst für gut und richtig halten? Niemand von uns wird glauben, wir seien in verschiedene Klassen geboren, wonach es – um bei einem krassen, gleichwohl alltäglichen Beispiel zu bleiben – „Chefs“ gibt, unter deren „Würde“ es ist, ihr eigenes Klo zu reinigen, und „Beschäftigte“, deren einzige Arbeit darin bestehen muss, den Schmutz von anderen wegzuräumen.
Damit ist übrigens nicht gesagt, dass es nicht auch erfüllend oder interessant sein kann, eine Zeit lang Reinigungsaufgaben zu erledigen. Die Arbeitsmotivation hängt von vielen Faktoren ab. Nicht einmal in der Geldwirtschaft ist das Geld dafür der (allein) entscheidende Faktor. Ebensowenig brauchen wir Geld, um soziale Institutionen und Entscheidungsprozesse zu kontrollieren. Das Geld zu kontrollieren ist dagegen ausgesprochen schwierig, ja, im Licht der jahrhundertelangen Geschichte der Geldwirtschaft meine ich sogar: Es ist unmöglich. Allemal leichter ist wohl, das Leben in einer Gesellschaft ohne Geld zu organisieren.
Wenn die Aussagen in den Titeln der fünf vorangegangenen Abschnitte tatsächlich Mythen sind, welche Schlüsse können wir daraus ziehen? Zuerst einmal, so können wir schließen, gibt es vor allem eine Rechtfertigung für die Geldwirtschaft: dass sie nun einmal existiert und unser Leben eben prägt. Sie ist nicht nur ein Zwang, sondern auch eine Gewohnheit. Zwang und Gewohnheit sind letztlich – in Anbetracht der globalen Herausforderungen – allerdings nur schwache Argumente dafür, an der Geldwirtschaft noch weiter festzuhalten. Sehen wir zweitens, dass diese Wirtschaftsform Konkurrenz, Wachstum, extreme Benachteiligungen und vielfache Zerstörung produziert, so wäre es wichtig zu überlegen, wo und wie wir Auswege öffnen können.
Die Geschichte zeigt, dass es nicht möglich ist, die Übel der Geldwirtschaft durch staatliche Planung zu überwinden. Der Realsozialismus etwa hat zu diesem Zweck ein politisches Ungeheuer hervorgebracht. Mit dessen Hilfe verfolgte er ein quantitatives, in Geld bemessenes Wachstumsziel. Den „Geldegoismus“ jedoch wollte er mit bürokratischen Zügeln bremsen und mit Gewalt lahmlegen. So legte er aber zugleich den inneren Zwang zum Wachstum still, ebenso wie den Zwang zu der in Geld gemessenen „Effizienz“, die in einer Geldwirtschaft normalerweise wirken. Wachstum und (monetäre) „Effizienz“ musste der realsozialistische Staat deshalb mittels äußerem Zwang, d.h. bürokratisch anordnen. Dies hatte nur begrenzten Erfolg und zeigte zudem einige unerwartete, dafür umso schwerer wiegende Negativfolgen. Auch die Versuche, staatliche Planung bzw. Wirtschaftslenkung mit marktlicher „Selbstorganisation“ zu kombinieren, führten in eine Sackgasse. Der Sozialdemokratie z.B. gelang es nicht, die Geldwirtschaft zu kontrollieren und zu zügeln, geschweige denn ihre negativen ökologischen Folgen zu beheben. Ähnliches gilt für den jugoslawischen Marktsozialismus, der auf eine normale Geldwirtschaft hinauslief, mangels Rentabilität jedoch in eine tiefe Krise schlitterte. China wiederum kombiniert mittlerweile eine äußerst rigide Staatsgewalt mit einer freien Geldwirtschaft. Das tut zwar den Gewinnen gut, die Bevölkerung aber kommt unter die Räder.
Aber auch Versuchen, allein durch den Aufbau „alternativer Betriebe“ die Übel der Geldwirtschaft überwinden zu wollen, sollten wir mit einer gesunden Skepsis begegnen. Denn „Alternativbetriebe“ machen noch keine „alternative Wirtschaft“ – vor allem dann nicht, wenn sie in der Kette von Kauf und Verkauf verbleiben. Die Macht des Geldzwangs und die eingefahrenen Gewohnheiten der Geldwirtschaft können wir nicht einfach ignorieren.
Ich sehe deshalb drei Aufgabenbereiche, die wir stärker diskutieren und miteinander verbinden sollten. Erstens ginge es darum, einige der verbreiteten Tabus abzubauen, was die Forderungen nach Geld betrifft. Denn klar muss sein: Wenn die Geldwirtschaft kein gutes Leben möglich macht, dann ist die Geldwirtschaft zu überwinden, am Anspruch auf ein gutes Leben hingegen festzuhalten. Mit dieser Sicherheit im Rücken können wir tabulos, z.B. in Gestalt eines bedingungslosen Grundeinkommens, Geld einfordern – ohne Rücksicht auf Profit- und Wachstumsinteressen, aber auch ohne Sorge um den Fortbestand der Geldwirtschaft. Auch wenn wir nach Auswegen aus der Geldwirtschaft suchen, so werden wir für eine gewisse Zeit doch Geld benötigen. Es gibt im Grunde (abgesehen von Schenkung) ja nur zwei Möglichkeiten um zu jenen Wirtschaftsmitteln, die wir für solche Auswege brauchen, zu gelangen: entweder Kauf oder aber Aneignung ohne Kauf, d.h. gemeinschaftliche Besetzung oder – staatlich akzeptierte, eventuell sogar geförderte – Vergesellschaftung bzw. Kollektivierung. Außerdem braucht es für den Aufbau von Alternativen (von der Erwerbsarbeit) befreite Zeit, die z.B. ein Grundeinkommen schaffen kann.
Zweitens und zugleich aber wäre es entscheidend, geldlose Netzwerke der Kooperation aufzubauen, die im Lauf der Zeit einen ganzen Sektor abseits der Geldwirtschaft bilden könnten. Diese Netzwerke müssten sich durch freie Absprache und wechselseitige Verpflichtung konstituieren. Sie könnten selbst eine neue „soziale Gewohnheit“ des geldfreien, verbindlichen Umgangs miteinander generieren. Daneben hätten sie die Aufgabe, Institutionen, Entscheidungsprozeduren und Funktionsteilungen zu entwickeln, die eine Produktion und Verteilung ohne Geld ermöglichen und die helfen, dabei auftretende Konflikte konstruktiv zu bearbeiten. Möglicherweise ist die Solidarische Ökonomie in Brasilien und anderen lateinamerikanischen Ländern ein in dieser Hinsicht entwicklungsfähiges Modell. Vom Staat wäre dabei zu verlangen, dass er solche Sektoren gesetzlich nach seinen (gleichwohl beschränkten) Möglichkeiten vor der Geldwirtschaft schützt und steuerlich bevorteilt.
Drittens sollten folgende Fragen in den Fokus der öffentlichen Diskussion, der gesellschaftlich aktiven Gruppen und nicht zuletzt der Wissenschaft rücken: Wie können wir unser Leben von Kauf und Verkauf entkoppeln? Was braucht es, um ohne Geldverkehr und Geldgewinn auszukommen? Worauf müssen wir fortlaufend verzichten und was drohen wir zu erleiden, wenn wir weitermachen wie bisher? Was können wir im Gegenzug gewinnen, wenn wir uns der Geldwirtschaft entledigen? Wie können wir gesellschaftliche Strukturen aufbauen, die es uns erleichtern, ethisch richtig zu handeln? Welche Art von Technologie und Energieversorgung, welche Materialien und Konsumweisen benötigt bzw. fördert eine Gesellschaft ohne Geld? Und schließlich: An welchen Initiativen und Praxen können wir anknüpfen, um ein Leben jenseits des Marktes zu entwickeln, ?
Der Fragen gibt es also viele. Die passenden Antworten werden wir nur gemeinsam geben können.
(3.4.2012)
Post from: Streifzüge. Liebe Leute: Allein hier zu schreiben, dass wir ein Leben ohne Geld wollen, kostet welches. Wer unsere Texte mag, soll dazu beitragen, dass sie hier (ent)stehen können. Wenn wer sich’s leisten kann. Eh klar. Dann aber seid so lieb: Her mit der Marie! Löst uns aus!
Streifzüge 33/2005
von Andreas Exner & Stephanie Grohmann
Der von Umweltzerstörung und von sozialen Katastrophen gesäumte Irrweg unserer “Zivilisation” ist für viele Menschen Anlass genug, ihre eigene Lebensweise gründlich zu hinterfragen. Viele wollen es nicht bei politischen Appellen belassen. Denn nur allzu deutlich werden die beschränkten Möglichkeiten der Demokratie, wenn etwa die Sicherung der immer weniger werdenden Arbeitsplätze nach immer neuem Wirtschaftswachstum verlangt. Und allzu schmerzhaft ist die Einsicht, dass wir dem Gesetz der Konkurrenz und dem Leiden an der sozialen Kälte nicht wie gewohnt allein entfliehen können. Was also läge näher, als sich zusammenzutun und etwas ganz Neues zu beginnen? Doch was ist konkret nun anders zu machen?
Eine bestimmte Antwort auf diese Frage ist mittlerweile populär geworden: das soziale Organisationsmodell des Tauschkreises soll einen Ausweg aus Umweltzerstörung und gesellschaftlichen Problemen zeigen. In jenen Weltregionen, die den großflächigen Zusammenbruch der formellen kapitalistischen Ökonomie erlebt haben, sind Tauschkreise mitunter ein Rettungsanker, aus der blanken Not und ohne Theorie geboren. Der kurze Boom der argentinischen Tauschkreise ist dafür das Paradebeispiel. Im Unterschied dazu sollen Tauschkreise hierzulande, sofern sie nicht als schlichtes Hobby ohne weitergehende Motivation betrieben werden, das Modell für eine andere Wirtschaft abgeben. In ihnen hat die Freiwirtschaftslehre von Silvio Gesell ihren praktischen Niederschlag gefunden. (1)
Gesells grundsätzliche Überlegung war so einfach wie falsch: der Zins sei die Wurzel aller Übel der kapitalistischen Wirtschaftsform. (2) Daraus folgerte er die Notwendigkeit eines “zinsfreien Geldes”. Durch regelmäßiges Abstempeln sollte das Gesellsche Freigeld kontinuierlich an Wert verlieren, wenn es nicht ausgegeben würde und so Geldkreislauf und Warenhandel in Schwung halten. Die Ursache des Zinses sah Gesell in der Hortung von Geld durch die Vermögensbesitzer. Alle Waren sind laut Gesell verderblich und seien deshalb von einem fundamentalen Nachteil gegenüber dem unverderblichen Geld gezeichnet. Weil nämlich alle Menschen Geld zum Tausch der Waren benötigten, würden Geldbesitzer ein Machtprivileg genießen, das sie sich im Zins bezahlen ließen. In der Sicht von Gesell bestand darin eine “Ungerechtigkeit” des Kapitalismus und zugleich auch die Ursache von Wirtschaftskrisen.
Gesells Zielsetzungen waren alles andere als menschenfreundlich. (3) Das Freigeld sollte die Konkurrenz entfesseln und “den Tüchtigsten” wieder zu ihrem “Recht” gegen die geldhortenden “Schmarotzer” verhelfen. Wie auch einige heutige Freiwirtschafter befürwortete er die Eugenik, also die “genetische Verbesserung” des Menschen durch “natürliche Zuchtwahl”, wozu das Freigeld seinen Beitrag leisten sollte.
Am Höhepunkt der Großen Depression der 1930er Jahre fielen die Ideen Gesells auf fruchtbaren Boden. (4) Die revolutionären Versuche der westlichen Arbeiterbewegung waren gescheitert und die Krise des Kapitals verschärfte sich. In dieser Situation kam die Ideologie der Zinskritik zum Zug: der Hass auf das Geldkapital, das man für die Misere verantwortlich machte, ermöglichte ein Festhalten an der kapitalistischen Ordnung und öffnete zugleich ein Ventil für die Erfahrung von Ohnmacht und Erniedrigung. (5) Nicht zufällig hatten Silvio Gesells Ansichten maßgeblichen Einfluss auf den NS-Funktionär und Partei-Ideologen Gottfried Feder, dessen zentrales wirtschaftspolitisches Ziel einer “Brechung der Zinsknechtschaft” in das Programm der NSDAP aufgenommen wurde. Die wahnhafte und massenwirksame Gleichsetzung von Zins und Juden, der auch Gesell und seine ideologischen Vorläufer erlegen waren, hatte den Boden für jene Katastrophe bereitet, die die völkische “Zinskritik” besiegelte.
Nach dem Krieg brach eine Zeit des wirtschaftlichen Wachstums und der Vollbeschäftigung an, in der die Freiwirtschaftslehre in Vergessenheit geriet. Erst als das Wirtschaftswunder in den 1980er Jahren an sein Ende kam, die Arbeitslosigkeit anschwoll und zugleich die ökologische Krise Thema wurde, präsentierte sich die Freiwirtschaft erneut als Alternative.
Die Krise unserer “Zivilisation” drängt zu einer grundlegenden sozialen Transformation. Viele sehen diese in Tauschkreisen und in Freigeld, in lokalen Märkten, Komplementärwährungen und Kreditgenossenschaften sich verwirklichen. All jene Ideen haben verschiedene Namen und Ursprünge, doch einen gemeinsamen Nenner: Markt muss sein, aber möglichst klein; Geld muss sein, aber ohne Zins; Tausch muss sein, aber gerecht. Wenn uns diese Dreifaltigkeit zur Lösung angeboten wird, so sollten wir sie auch auf Herz und Nieren prüfen. (6) Denn das vermeintliche Rettungsboot darf nicht schon leck sein, bevor es überhaupt zu Wasser geht. Sehen wir uns an, was die Anhängerinnen des Freigelds mit dieser Idee verbinden. Zusammengefasst sind es drei Punkte: kein Wachstumszwang, Leistungsgerechtigkeit und wirtschaftliche Stabilität.
In ökologisch motivierten Tauschkreisen ist die Vorstellung verbreitet, das Freigeld ermögliche eine angeblich “natürliche Wirtschaft” ohne Wachstumszwang. Im Zins scheint sich das Geld ja wie von selbst zu vermehren und man könnte meinen, dass gerade deshalb auch die Unternehmen wachsen müssten. Gleichwohl ist diese Ansicht falsch. Dazu genügt schon ein Blick auf das Tagesgeschäft der Wirtschaftspolitik: Finanzminister und Notenbankchefs in aller Welt greifen zum Instrument der Zinssenkung, wenn das Wachstum der Wirtschaft zu erlahmen droht. Denn niedrige Zinsen bedeuten billige Kredite, in deren Folge die Investitionsbereitschaft ansteigt, sofern die Profiterwartungen entsprechend hoch sind. Hohe Zinsen hingegen würgen das Wachstum in jedem Fall ab, weil sie viele Unternehmen in den Konkurs treiben und zugleich kreditfinanzierte Investitionen unrentabel machen. Aus Sicht der Konsumentinnen wirkt das Freigeld schließlich nicht anders als die Inflation. Durch seine ständige Entwertung bestünde ein großer Druck, das Freigeld möglichst schnell auszugeben. Auch dieser Effekt würde das Wachstum bei guter Wirtschaftslage anheizen. Nicht zuletzt war das ja auch eines der erklärten Ziele, das Silvio Gesell mit dem Freigeld erreichen wollte.
Das einzige Argument, das zur ökologischen Ehrenrettung des Freigeldes übrig bleibt, lautet nach Ansicht der Freiwirtschafterinnen so: mit dem Wegfall des Zinses wäre immerhin die Möglichkeit gegeben, die Wirtschaft nicht wachsen zu lassen, während der Kreditzins im “jetzigen Geldsystem” Wachstum in jedem Fall erzwinge. Nun ist das aber nur die halbe Wahrheit: der Kreditzins erzwingt zwar einen Mindestprofit, allerdings nehmen Unternehmen Kredite gerade auf, um ihr Wachstum zu beschleunigen, nicht umgekehrt. Denn mittels verzinstem Fremdkapital können mehr Investitionen als mit dem begrenzten Eigenkapital getätigt werden. Der Kredit verschafft einen entscheidenden Vorteil in der Konkurrenz.
Damit sind wir auch schon bei der eigentlichen Ursache des Wachstums. Es ist nämlich nicht der Zins, sondern die Konkurrenz um möglichst hohe Profite, die das Wachstum der Unternehmen und damit der gesamten Wirtschaft verursacht. Das bestätigen auch die Unternehmen selbst. Im Rahmen einer Studie (7) wurden mehr als 100 große und kleine Unternehmen befragt, welche Faktoren sie aus ihrer Sicht zum Wachstum zwingen. Für die großen Unternehmen waren mit Abstand der internationale Wettbewerb und das Wachstum der Konkurrenten ausschlaggebend. Banken spielten für sie keine nennenswerte Rolle. Der Druck durch Aktionäre war aus ihrer Sicht weniger wichtig als das Wachstum der Konkurrenten. Schlagender kann man die Mär vom Wachstumszwang durch Zins wohl nicht entkräften. Nur die kleinen Unternehmen räumten den Banken und damit den Zwängen der Kreditvergabe eine nennenswerte Bedeutung ein. Auch für sie aber war die Konkurrenz wichtigste Wachstumsursache. Als zweitgereihter folgte der Faktor “Kunden”. Auch diesen Wachstumsantrieb dürfen wir wohl auf den Leistungszwang im Wettbewerb zurückführen.
In staatlich-politischer Hinsicht schließlich ist Wachstum notwendig, weil die konkurrenzbedingte Produktivitätssteigerung ständig Arbeitskräfte freisetzt, die nur durch Wachstum der Produktion wieder Beschäftigung finden und Steuern zahlen können. Zudem mildert wirtschaftliches Wachstum den Verteilungskampf und ist ein Erfordernis für das Überleben der nationalen Verwertungsmaschinerie im internationalen Standortwettbewerb, der übrigens nicht erst seit der Globalisierung existiert.
Ökologisch kleinlaut geworden, beschränken sich einige Anhänger der Freiwirtschaft schlussendlich darauf, die positive Wirkung eines niedrigen Zinsniveaus für umweltgerechte Investitionen herauszustellen. Damit aber haben sie sich von ihrer Forderung nach einem Freigeld bereits verabschiedet. Niedrige Zinsen sind schließlich auch aus der Sicht der keynesianischen ökonomischen Theorie wünschenswert, die allerdings wiederum hofft damit das Wachstum anzukurbeln.
Wie schon der Sozialdarwinist Silvio Gesell vor ihnen werben auch die heutigen Freiwirtschafter mit einer angeblichen “Leistungsgerechtigkeit”, die das zinslose Freigeld schaffe. Der Zins ist aus ihrer Sicht als “arbeitsloses Einkommen” zu kritisieren, der Unternehmensgewinn hingegen durch “Arbeit” gerechtfertigt. Diese Ansichten beruhen auf Phantasievorstellungen vom Leben “reicher Menschen”. Selbstverständlich gibt es Millionäre, die sich ein schönes Leben machen. Wer wollte das denn nicht? Der durchschnittliche Vermögensverwalter ist aber kein faulenzender Geldbesitzer, der in der Sonne liegt, während sich die Millionen mehren. Ein Blick in den Terminkalender eines Fondsmanagers oder das Gesicht eines gestressten Börsenbrokers genügt: Vermögensmanagement ist anstrengend und risikoreich wie kaum ein anderer Job. Zudem sind es die großen Industriekonzerne und Unternehmenskonglomerate selbst, die ihr Kapital auf den Finanzmärkten anlegen. Eine Trennung in “arbeitende” Unternehmer und “faulenzende” Geldbesitzer entspricht nicht der Realität. Vielmehr existiert eine dem entwickelten Kapitalismus entsprechende “Arbeitsteilung” von anonymem Industrie- und Geldkapital, die nichts mit den sozialen Phantasiefiguren der Freiwirtschafterinnen zu tun hat.
Anders als die Freiwirtschaftslehre behauptet, ist der Zins kein von “Geldbesitzern” erzwungener Preisaufschlag. Vielmehr handelt es sich dabei – zusammen mit dem Unternehmensgewinn – um einen Teil des Profits, der insgesamt auf der Aneignung unbezahlter Arbeit im Produktionsprozess der Waren beruht. Die Ware Arbeitskraft, die sich am Arbeitsmarkt verkauft, hat wie jede andere einen qualitativen Gebrauchs- und einen quantitativen Tauschwert. Der Gebrauchswert jener Ware für das Kapital besteht in der Möglichkeit, durch ihre Vernutzung Tauschwert zu gewinnen. Der Tauschwert der Ware Arbeitskraft, ihr Preis, der sich im Lohn ausdrückt, ergibt sich aus sozialen Gepflogenheiten, dem Erfolg von Verteilungskämpfen und allgemein aus den Kosten ihrer Reproduktion, also den Aufwendungen für Lebensmittel, Ausbildung usw. Wird Arbeitskraft über jene Zeitspanne hinaus eingesetzt, die für die Reproduktion ihres eigenen Tauschwerts vonnöten ist, ergibt sich für das Unternehmen ein Überschuss an Tauschwert. Dieser Mehrwert ist das Ziel kapitalistischer Produktion und drückt sich im Profit aus.
Was nicht durch Arbeitskraftvernutzung an wirtschaftlichem Wert “gewonnen” wurde, kann also nicht in Form des Zinses abgezweigt werden. Im Unterschied zum vormodernen Geldverleih, der tatsächlich von der finanziellen Substanz der Gläubiger zehrte, wird Geld unter kapitalistischen Bedingungen nicht als bloßes Tauschmittel, sondern primär als Kapital verliehen. Der Zins ist jener Preis, den das Geld als Kapital hat; als Mittel, um damit Mehrwert und Profit zu produzieren. Die Verfügung über Geld ermöglicht unter kapitalistischen Bedingungen die Produktion von Mehrgeld, und diese Potenz des Geldes will auch entsprechend bezahlt sein. Der im Zins ausgedrückte Preis des Geldkapitals richtet sich dabei nach Angebot und Nachfrage am Finanzmarkt. Die Zinsen werden schließlich aus dem Profit bezahlt, den das Geld als Kapital im Produktionsprozess erzielt. Schulden dienen unter diesen Verhältnissen nicht nur der Bereicherung der Gläubiger, sondern derjenigen der Schuldner, solange das Geld zur Profitproduktion eingesetzt und nicht für Zwecke des Konsums kapitalistisch unproduktiv verausgabt wird.
Die falsche Kapitalismuskritik der Freiwirtschaft sitzt dem oberflächlichen Eindruck auf, den das zinstragende Kapital erweckt: es scheint sich wie von selbst, ohne Dazwischenkunft der Warenproduktion, zu vermehren. Werden das Kapital als verdinglichte Ausbeutungsbeziehung und die Verhältnisse der Warenproduktion ausgeblendet, verengt sich der Blick auf die scheinbare Selbstvermehrung des Geldes im Zins. Dann liegt die Auffassung nahe, dem “unproduktiven” Geldkapital und seiner Verwaltung stünde – in einer Frontlinie mit den Arbeiterinnen und Arbeitern – der “produktive” Unternehmer gegenüber. Dieser gilt in dieser Sicht nicht als fungierender Kapitalist, der an seinen Arbeiterinnen und Arbeitern die Verwertung exekutiert und sich das dafür nötige Geldkapital ausleiht, sondern als “besonderer Arbeiter”. Er zieht in Wahrheit zwar Profit aus der Verfügung über Produktionsmittel und Ausbeutung von Arbeitskraft, scheint jedoch “Unternehmerlohn” für die Oberaufsicht und Organisation des Produktionsprozesses zu erhalten. Das “unproduktive” Geldkapital hingegen, das nicht in seinem untrennbaren Zusammenhang mit der Produktion gesehen wird, scheint seinen Zinsgewinn aus einer vermeintlich anderen Quelle zu lukrieren als das warenproduzierende Unternehmen seinen Gewinn bezieht. So ist der Gedankengang der Freiwirtschaftslehre nicht allein auf Grund ihrer politischen Zielsetzungen zu verstehen, sondern ebenso aus einer unzureichenden, dem oberflächlichen Eindruck jedoch nahe liegenden Auffassung von Kapital und Kapitalverwertung zu erklären.
Vor diesem Hintergrund ist nun auch die von den Freigeldanhängern breit ausgeführte Kritik des “Zinsanteils” in den Warenpreisen zu kommentieren. Wollte man den Zins mit dem kleinkrämerischen Argument kritisieren, dass er in die Warenpreise eingehe, so müsste man im selben Atemzug auch den Unternehmensgewinn verdammen; dieser geht natürlich ebenso in die Preise ein, und das nicht zu knapp. Es ist verständlich, dass die Käufer von Krediten lieber keine Zinsen und alle Konsumentinnen am liebsten gar nichts bezahlen würden. Insofern ist jeder Preis zu hoch. Das ist aber kein Argument für Freigeld, sondern eines gegen Geld überhaupt.
Auch die im Kapitalismus zu beobachtende “Umverteilung nach oben” führen die Freiwirtschafter auf den Zins zurück. Tatsächlich muss sich im Kapitalismus die Reichtumsschere auch ohne Zins notwendigerweise öffnen. Einerseits ist das ja Ergebnis des von der Freiwirtschaft propagierten “leistungsgerechten Marktes”, auf dem die Konkurrenzschwachen und “Leistungsunwilligen” ausgesiebt werden. Andererseits häuft sich der Profit, indem er in die Produktion von immer mehr Profit investiert wird, notwendigerweise auch ohne Zinsen an. Der Arbeitslohn hingegen wird in aller Regel konsumiert und nicht in die Profitproduktion investiert, ist also nur durch gewerkschaftliche Kämpfe zu “vermehren”. Und auch einer solchen Lohnerhöhung sind sehr enge Grenzen gesetzt: eine hohe wirtschaftliche Wachstumsrate ist dafür wesentliche Voraussetzung.
Tatsächlich bedeutet die Zinszahlung der armen Länder für ihre “Entwicklungskredite” eine massive Umverteilung von Süd nach Nord, die das Volumen der “Entwicklungshilfe” beträchtlich übersteigt. Man darf aber nicht die Augen vor der Tatsache verschließen, dass ohne Zinsen kein Unternehmen und kein Staat der Welt ihr Kapital in großem Maßstab verleihen würden. Eine solche Kreditvergabe erfolgt auch nur, wenn Profite in der Warenproduktion winken. Deshalb stecken vielfach gerade diejenigen Volkswirtschaften am tiefsten in der Schuldenkrise, die in den 1970er Jahren die kapitalistisch meistversprechenden Entwicklungskandidaten waren. Das Freigeld kann hier also keine Lösung bieten. Die einzig sinnvolle Forderung ist vielmehr eine bedingungslose Schuldenstreichung für die Armen und die Entwicklung grundsätzlich neuer Kooperationsmodelle jenseits von Markt, Tausch und Geld.
Wir kommen nun zur letzten Behauptung: eine Marktwirtschaft mit Freigeld kenne keine Krisen. (8) Darin gleicht die Freiwirtschaftslehre bezeichnenderweise der neoliberalen Wirtschaftstheorie, der Rechtfertigungsideologie des gegenwärtigen Liberalisierungsfeldzugs. Wie der Neoliberalismus meint die Freiwirtschaft, dass ein sich selbst überlassener Markt stabil ist und keine wesentlichen politischen Eingriffe benötigt. Deshalb treten Freiwirtschafter auch unverblümt für eine “leistungsgerechte, freie Marktwirtschaft” ein. Die Freiwirtschaft unterscheidet sich in dieser Hinsicht vom Neoliberalismus lediglich insofern, als sie “zinsfreies Geld” für die Voraussetzung von Krisenfreiheit hält. Auch ihre heftige Klage über die Inflation, von der sie den Wertverlust des Freigelds unterschieden wissen will, und über die Staatsverschuldung gleicht der neoliberalen Suada.
Beide Theorien gehen von einer fiktiven Marktwirtschaft mit Naturaltausch Ware gegen Ware aus. Die reale, moderne Marktwirtschaft ist aber notwendigerweise Geldwirtschaft. Gerade durch das Geld werden die Schranken des unmittelbaren Tausches Ware gegen Ware überwunden: es kann verkauft werden, ohne nachfolgend gleich wieder zu kaufen; und Unternehmen können Kredite aufnehmen, um ihre Investitionen zu finanzieren. In einer Marktwirtschaft sprechen sich Produzierende und Konsumierende nicht bewusst ab. Vielmehr sind die Entwicklung des wirklichen Bedarfs, der tatsächlichen Kaufkraft, der Preise, der Bedürfnisse der Konsumierenden und der Produktivkraft ebenso wie die Unternehmensstrategien der Konkurrenz, die Verschiebung von Nachfrageströmen und das Entstehen neuer Branchen für die Investoren prinzipiell unbekannt. Durch diese fundamentale Unsicherheit des Marktes einerseits und den Mechanismus des Kredits andererseits häufen sich notwendigerweise Fehlinvestitionen an und führen schließlich zu einer Wirtschaftskrise. In einer solchen Krise wird das am wirklichen, zahlungsfähigen Bedarf vorbei investierte Kapital vernichtet, wertlos gemacht. Das bedeutet: Viele Unternehmen bankrottieren oder müssen schrumpfen, bauen Arbeitsplätze ab oder senken die Löhne.
Ein weiterer, in die Marktwirtschaft eingebauter Krisenfaktor ist die Erschöpfung von wirtschaftlichen Wachstumsmöglichkeiten. Da alle Märkte begrenzt sind, tritt dieser Fall früher oder später mit Notwendigkeit ein. Dann sinken die Profite, und die Investitionstätigkeit lässt nach. Es kommt ebenfalls zu einer Krise und viele Menschen verlieren Arbeit und Geldeinkommen. Die Freiwirtschaftslehre meint zwar, dass durch den Wertverlust des Freigelds die Investitionsbereitschaft steigt und eine als Wachstumshindernis angenommene Geldhortung unattraktiv wird. Eine Krise, das heißt eine stagnierende oder fallende Wirtschaftsleistung, soll ihrer Meinung nach damit unmöglich werden. Das Freigeld wirkt auf das Wachstum aber nicht anders als die Inflation: Auch ein noch so großer Wertverlust des Geldes kann niemanden zu Investitionen zwingen. Wenn keine ausreichenden Profite zu erwarten sind, wird sich die Investitionslaune in engen Grenzen halten.
Das Freigeld würde aber nicht nur keine Krisen verhindern, seine Wirkung wäre sogar selbst krisenauslösend. Aufgrund seines ständigen Wertverlusts würde es nämlich wie ein heißer Erdapfel von Hand zu Hand gereicht und die Inflation unkontrolliert in die Höhe treiben. Die Rolle des Wertaufbewahrungsmittels fiele wohl irgendeinem anderen Wertgegenstand, ausländischen Darlehen oder Ähnlichem zu. Genau das passiert ja tatsächlich in Ländern mit sehr hoher Inflation.
Die Freiwirtschaft missversteht die Funktionsweise des Marktes und kann deshalb nicht verstehen, warum in einer Marktwirtschaft sowohl Gewinne als auch Zinsen notwendig existieren. In ihrer Vorstellung soll Geld “wieder zu einem reinen Tauschmittel werden”. Geld ist in einer Marktwirtschaft aber nicht nur Tauschmittel, sondern unter anderem auch Kapital. Das heißt, es wird nur Geld in die Warenproduktion investiert, wenn es einen Profit abwirft. Ohne Profit gibt es in einer Marktwirtschaft keinen Anreiz zur Produktion. Das zeigt sich, sobald der scheinbare Produktionsautomatismus der Märkte erlahmt und in eine Krise gerät. Obwohl die materiellen Produktionsmöglichkeiten genau dieselben sind wie zuvor, werden Produktionsmittel stillgelegt und massenhaft Arbeitskräfte entlassen. Einfach gesagt, kann es aufgrund der irren Logik der Märkte passieren, dass Menschen neben voll funktionsfähigen Produktionsanlagen verhungern.
Weil die Produktion nicht gemeinschaftlich gesteuert wird, kann die “wirtschaftliche Tüchtigkeit” eines Unternehmens einzig an der Höhe seines einzelbetrieblichen Profits bemessen werden. Schon allein aufgrund der Konkurrenz wird der Profit vom Unternehmen nach Möglichkeit maximiert. Wer mehr Profit macht, kann aufgrund größerer Investitionen schneller wachsen und sein ökonomisches Überleben besser sichern. Andererseits ist der Profit damit auch einziger Zweck kapitalistischer Produktion: aus Geld muss mehr Geld werden. Mehr Profit bedeutet bessere ökonomische Zielerreichung, besseres Wirtschaften. An dieser Vorgabe ändert sich auch bei Nullzinsen nichts. Der Profit wiederum wird im Wesentlichen nicht konsumiert und von einem freiwirtschaftlichen Phantasiekapitalisten für Yachten und Champagner ausgegeben, sondern vielmehr in die weitere Produktion von Profit reinvestiert. Das ist eben der irre Selbstzweckmechanismus des Kapitalismus, produzieren um des Produzierens willen; arbeiten um zu arbeiten; investieren, um mehr investieren zu können. An diesem Wahnwitz ändert das Freigeld keinen Deut, es ist insistiert vielmehr geradezu darauf.
Der Zins spielt in diesem Hamsterrad, hat man seine Irrenlogik einmal akzeptiert, eine durchaus “sinnvolle” Rolle. Das Geldkapital wird dem Marktgesetz von Angebot und Nachfrage entsprechend tendenziell in die Branchen mit den größten Profiterwartungen und damit auch dem höchsten Kapitalbedarf verschoben, der sich ja nicht nach den Bedürfnissen der Menschen, sondern nach den Erfordernissen der Verwertung richtet. Dieser Mechanismus wird durch Kreditvergabe und Zinshöhe bewusstlos, also ohne direkte Absprache der Unternehmen, gesteuert. Investitionen, die als riskant oder unrentabel eingeschätzt werden, erhalten schwerer Kredit als Investitionen, die einen sicheren und hohen Profit erwarten lassen. Ohne Zins gäbe es für diesen Prozess der Kapitalverteilung keine Orientierungssignale.
Im Rahmen des kapitalistischen Systems bestünde die Alternative zum Kreditmechanismus freier Finanzmärkte in einer staatlichen Investitionsplanung. Dies würde die Verfügungsgewalt des Staates über alle Ressourcen und eine umfassende Staatsbürokratie erfordern. Der Realsozialismus hat gezeigt, zu welchen Problemen das führt. Zwar will die Freiwirtschaft den Staat möglichst zurückdrängen beziehungsweise auflösen und dem “leistungsgerechten Markt” zum Durchbruch verhelfen. Allein das “zinslose Geld” kann nur in einer vom Weltmarkt abgeschotteten Volkswirtschaft funktionieren, in der die nationale Zentralbank volle Kontrolle ausübt. Schon der Ansatz zur Einführung von Freigeld würde eine beispiellose Kapitalflucht und damit große wirtschaftliche Probleme verursachen. Sogar in der von Protektionismus gekennzeichneten NS-Zeit mitsamt ihrer antisemitischen Wahnidee einer “Brechung der Zinsknechtschaft” gelang eine Umsetzung nicht. Im Zeitalter der Globalisierung ist ein solches Abschottungsszenario schlicht nicht vorstellbar. Die einzelnen Nationalökonomien sind mittlerweile viel zu sehr verflochten, als dass sie sich aus dem Weltmarkt ausklinken könnten.
Die Erschöpfung billiger und relativ arbeitsintensiver Wachstumsmöglichkeiten sowie die Rückgänge im Binnenmarktwachstum bildeten Anfang der 1970er Jahre wichtige Auslöser für den gegenwärtigen Globalisierungsprozess des Kapitals. Diese Entwicklung kann nicht rückgängig gemacht werden. Die freiwirtschaftliche Annahme, dass die Aufblähung der Finanzmärkte und die Verschuldung der öffentlichen und privaten Haushalte die Gründe für stagnierendes Wachstum und Wirtschaftskrise seien, ist falsch. Der tatsächliche Zusammenhang ist genau umgekehrt: das Kapital strömte auf die Finanzmärkte, weil die Profite in der Warenproduktion seit Anfang der 1970er Jahre zurückgingen.
Ihr grundlegendes Fehlverständnis des Kapitalismus offenbart die Freiwirtschaft unter anderem auch, wenn sie das Brakteatenwesen des Mittelalters als Beweis der segensreichen Wirkung des Freigelds anführt. Auf den behaupteten ursächlichen Zusammenhang zwischen Brakteaten, einer mittelalterlichen Währung mit kontinuierlichem Wertverlust, und Wohlstand wollen wir nicht eingehen. Hier soll nur betont werden, dass das Geld in der mittelalterlichen Feudalgesellschaft eine vernachlässigbare Rolle spielte und nicht mit heutigem Geldkapital vergleichbar ist. Auf mittelalterlichen Märkten existierte keine freie Preisbildung; die Menschen der Feudalgesellschaft waren nicht auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen; es gab kein industrielles Kapital; es dominierte Produktion für den Eigenbedarf; das Leben der Gemeinwesen wurde nicht durch anonyme Rechts- und Geldbeziehungen, sondern durch persönliche soziale Bindungen geregelt. Weil eine freie Preisbildung von profitproduktiv eingesetztem Kapital fehlte, ist der mittelalterliche Wucher mit dem kapitalistischen Zins nicht zu vergleichen.
Aufgrund all der genannten Schwächen, Ungereimtheiten und politisch völlig indiskutablen Aspekte distanzieren sich viele Anhängerinnen und Anhänger des “zinslosen Geldes” von der Freiwirtschaftslehre. Das mag durchaus ehrlich gemeint sein und ist deshalb zu begrüßen. An der Haltlosigkeit der Idee vom “Geld ohne Zins” ändert sich damit aber selbstverständlich nichts, gleichgültig, ob sie nun in Kombination mit anderen Reformideen auftritt oder schon für sich allein genommen als Patentrezept beworben wird.
Ganz unabhängig von der Freiwirtschaftslehre übt ihr konkreter Umsetzungsversuch, der Tauschkreis, auf viele Menschen große Anziehungskraft aus. Das Spektrum individueller Motivationen reicht neben der Kritik an der herkömmlichen Geldwirtschaft von ökologischen und spirituellen Ausgangspunkten bis hin zu persönlichen Notlagen, in denen die Fähigkeit, am gesamtgesellschaftlichen Selbstmordkommando teilzunehmen, gegen Null tendiert. Auf den ersten Blick scheint die Idee ja attraktiv zu sein: Was dem und der Einzelnen als außer Kontrolle geratener, globaler Wildwuchs entgegentritt, soll auf ein überschaubares, persönlich kontrollierbares Format zurückgestutzt werden. Man macht füreinander eben, was man kann, und tauscht miteinander, was man hat – wie in einer großen Gemeinschaft. Nicht umsonst steht die Tauschkreisbewegung in Zusammenhang mit der Idee der Ökodörfer, quasi-familiären und meist spirituell orientierten Lebensgemeinschaften.
So respektabel diese Motivationen sein mögen, die Schwächen der freiwirtschaftlichen Argumentation schlagen letztlich auf die Tauschkreisbewegten zurück. Die grundlegende Spielregel des globalkapitalistischen Wahnsinns wird in ihrem Rahmen nämlich ebenso wenig überwunden wie von der Freiwirtschaftslehre kritisch hinterfragt: die Vermittlung gesellschaftlicher Beziehungen über Geld und Tausch.
Das Hauptmerkmal der kapitalistischen Produktionsweise besteht in jener indirekten Form von Kontakt, der sich zwischen Produzierenden und Konsumierenden herstellt, die ihre Bedürfnisse weder direkt mitteilen und absprechen noch ihnen gemäß produzieren. Somit werden materielle Produkte und Dienstleistungen in Form von Waren hergestellt und erbracht. Über ihre gegenseitige Austauschbarkeit treten die Waren – auf lokalen oder globalen Märkten – in eine eigenartige, von der Gesellschaft gewissermaßen abgehobene, verselbstständigte Beziehung miteinander und beziehen auf diese Weise erst ihre scheinbar unabhängigen, beziehungslosen Produzenten aufeinander. Die Marktwirtschaft ist in erster Linie eine “Beziehung” zwischen Waren statt zwischen Menschen. An ihr kann daher nur teilnehmen, wer auch etwas zu tauschen hat. Das gilt für die Börse ebenso wie für den Tauschkreis. Die Schwächsten in einer Gesellschaft, nämlich jene, die über keinen Besitz verfügen und nicht einmal ihre Arbeitskraft eintauschen können, bleiben folglich vom Markt ausgeschlossen. In der Praxis der Tauschkreise werden solche Menschen mitunter einfach mitversorgt. Das spricht zwar für das soziale Gewissen der Beteiligten, ändert aber nichts an der prinzipiellen Marktnatur des Tauschkreises. Wo Tauschkreise als Alternative zum regulären kapitalistischen Markt entstehen, handelt es sich im Wesentlichen um eine Armutsvariante für jene, die aus der “ersten Marktwirtschaft” herausfallen; die Ausschluss- und Konkurrenzlogik des Tausches trifft aber auch auf einem solchen “zweiten Markt” die Schwächsten immer am härtesten.
In den Tauschkreisen wird die Ideologie des “gerechten Tausches” hochgehalten, der ein moralisch und sozial überlegenes Gegenmodell zum angeblich “ungerechten Tausch” der realen Marktwirtschaft darstellen soll. “Gerechter Tausch” soll dabei nicht allein in einem Verbot der Zinsnahme auf Tauschkreiswährung bestehen, sondern auch die Austauschverhältnisse der Waren betreffen.
Wenn Waren oder Dienstleistungen “gerecht” getauscht werden sollen, muss es ein Maß der “Gerechtigkeit” geben. Irgendeine Art der Verrechnung von “Leistung” muss erfolgen. Hier lässt sich bereits ahnen, dass die Ideologie “gerechten Tausches” in die ordinäre Realität des Marktes mündet. Um etwa festzustellen, wie viele handgestrickte Pullover ich für meine Dienste als Elektrikerin bekomme, müssen diese beiden Waren auf einen gemeinsamen Nenner, auf abstrakten ökonomischen Wert, reduzierbar sein. Geld ist tatsächlich nichts anderes als die Verkörperung dieses gemeinsamen Nenners, der als Gleiches in allen Waren halluziniert wird, sie gewaltsam gleichsetzt und damit erst allseits und systematisch gegeneinander austauschbar macht. Der Inhalt dieses gemeinsamen Nenners ist die abstrakte Arbeitskraft, die für die Herstellung einer Ware verausgabt wird. Denn die unterschiedlichen Produkte haben, vom Hubschrauber bis zur Frühstückssemmel, nur eines gemeinsam: Ergebnisse der Verausgabung abstrakt gleicher menschlicher Arbeitskraft zu sein. Wir stellten vorhin fest, dass wir uns in der Marktwirtschaft auf einem Umweg, nämlich über unsere Produkte, aufeinander beziehen, weil wir nicht in direkte Beziehung miteinander treten. Die Produkte nehmen damit die Form von Waren an. Diese gelten allesamt lediglich als unterschiedliche Verkörperungen abstrakt gleicher menschlicher Tätigkeit, wobei vom konkreten Inhalt und Kontext derselben abgesehen, abstrahiert wird. Die Größe des Zählers, die Wertgröße, richtet sich dabei nach der in der Gesellschaft durchschnittlich notwendigen Arbeitszeit zur Herstellung einer Ware. Diese Arbeitszeit ermittelt sich allerdings nicht anders als über den bewusstlosen Mechanismus von Märkten, von Angebot und Nachfrage. Ein “gerechter Tausch” nach “Arbeitsleistung” ist damit nur durch freie Preisbildung zu verwirklichen. Viele Tauschkreise versuchen hingegen eine einheitliche Bezahlung aller Arbeitsstunden zu praktizieren. Indem damit von jeglichen Unterschieden in Vorbildung, Geschick, Anstrengung, Outputmenge und Qualität abgesehen wird, handelt es sich paradoxerweise um das Gegenteil “gerechten Tauschs”, wie er am Markt ja ohnehin praktiziert wird; dieser offenkundige Widerspruch führt in Tauschkreisen auch häufig zu Diskussionen und mündet – zumindest unter der Hand – immer wieder in die Aufgabe dieses Prinzips.
Halten wir also fest: Geld ist in jeglicher Form – ob staatliche Währung oder selbstorganisierte Komplementärwährung – nicht nur das simple Tauschmittel, als das Gesell und seine Anhängerschaft es gerne sehen würden, sondern immer Folge einer Produktion, die in erster Linie für abstrakte Märkte und nicht für konkrete Menschen erfolgt. Ob das Geld nun LETS, Talente oder Euro heißt, macht – abgesehen von der oben diskutierten “Zinslosigkeit” der Tauschkreiswährungen – keinen wesentlichen Unterschied.
Getreu Gesells Begeisterung für das Überleben der “Tüchtigsten”, ist die Konkurrenz im Tauschkreis genauso wie in der herkömmlichen Marktwirtschaft präsent. Ist ein Tauschkreismarkt erst groß genug und wirtschaftlich ausreichend attraktiv, treten alle Produzierenden zueinander in Konkurrenz. Zwar werden oft Mindestpreise, etwa für eine Arbeitsstunde, festgelegt. Bieten mehrere Personen gleichartige Ware an, müssen sie jedoch nahe diesem Mindestpreis kalkulieren, wenn sie nicht von billigeren Anbieterinnen ausgestochen werden wollen.
In der Praxis erfahren die Menschen im Tauschkreis letztlich dieselben Schwierigkeiten wie jeder und jede “da draußen” auf dem Arbeits- oder Warenmarkt. Nicht was ich einerseits brauche und andererseits gerne täte, kann meine erste Sorge sein, sondern was auf dem lokalen Tauschkreismarkt absetzbar ist, muss mir zur ersten Pflicht werden. Will oder kann niemand ihre Produkte mit mir tauschen, erwerbe ich auch keine Verrechnungseinheiten, also Tauschkreiswährung, und kann demzufolge auch nicht eintauschen, was ich gerne hätte oder dringend bräuchte. Obwohl die herkömmliche Lohnarbeit von Tauschkreis-Begeisterten gerne und zu Recht als moderne Sklaverei geschmäht wird, ist ihre Lage in Tauschkreisen letztlich nicht wesentlich verschieden vom Zwang, auf dem Arbeitsmarkt ihre Haut verkaufen zu müssen. Im Unterschied zum Tauschkreis, wo frau bei mangelnder Vermarktbarkeit ihrer Produkte oder Fähigkeiten eben Pech gehabt hat, durften Arbeitslose bis jetzt allerdings immer noch ein paar Gnadeneuro vom siechen Sozialstaat erwarten.
Der Tauschkreis setzt trotz aller sozialen Motive die irre Logik der Marktwirtschaft und das Strickmuster des vereinzelten kapitalistischen Leistungs- und Konkurrenzautomaten fort. Wo paradoxerweise Warenbeziehungen über die Beziehungen ihrer Produzentinnen bestimmen, müssen Letztere einander zwangsläufig und in einem fundamentalen Sinn als Fremde, als im Grunde lästige Notwendigkeit zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse entgegentreten. Insbesondere in den kapitalistischen Zentren wirken dem sozialdarwinistischen Prinzip des Marktes nicht einmal mehr rudimentäre Formen traditioneller Sozialbindungen entgegen. Die Menschen treten einander folglich von Haus aus als potenzielle Feinde gegenüber, deren wirtschaftliche Interessen einander entgegenstehen. Diese Marktsozialisation prägte auch die großen Tauschkreise der Krisenregionen, wie etwa in Argentinien (9): Kaum dass aufgrund der Marktgröße eine persönliche Bekanntschaft zwischen den Beteiligten nicht mehr gewährleistet werden konnte, wurden sie zum Tummelplatz für die bornierte Egozentrik, die das Wesen des Warenmenschen ausmacht; mochte sie sich nun im Verkauf eingetauschter Produkte gegen Staatswährung, in der Spekulation mit knappen Gütern, im Ausnutzen von Preisgefällen oder im Horten von Tauschkreiswährung äußern. Dem zur Konkurrenz sozialisierten Menschen fällt es nicht auf Anhieb ein, ein alternatives Wirtschaftskonzept mit solidarischem Verhalten zu verbinden, vor allem dann nicht, wenn seine Struktur die Zwänge der Konkurrenz festschreibt und deren Logik nahelegt. Ein Markt ist das Gegenteil gesamtgesellschaftlicher Koordination zur Befriedigung der gesellschaftlichen Bedürfnisse. Die argentinischen Tauschkreise konnten den Menschen daher gerade das nicht in ausreichendem Maße bieten, was sie am dringendsten benötigten, nämlich Lebensmittel. Der Tauschkreis garantierte das Überleben der Menschen ebenso wenig wie jeder andere Markt. Markt ohne Krise, Ausschluss und Unterversorgung gibt es nicht. All diese Probleme wären durch eine gesamtgesellschaftliche Koordination zu vermeiden.
Dass sich in Tauschkreisen häufig Menschen mit hohen moralischen Standards engagieren und daher die verrechnungslose, wechselseitige Hilfe einen hohen Stellenwert einnimmt, sei unbestritten. In diesen Fällen wird die Gesetzmäßigkeit von Markt und Tausch aber gerade überwunden, und es zeigt sich im Ansatz, quasi als überschießendes Moment, eine ganz andere Art gesellschaftlicher Beziehung.
Wenn das Tauschkreisprinzip je über das begrenzte Niveau eines hobbymäßig betriebenen Gesellschaftsspiels oder einer vom Elend diktierten Notfallsökonomie hinauskommen soll, darf es nicht nur die bloße Verteilung individuell oder in der Familie hergestellter Waren regeln, sondern muss auch auf die tauschlose Kooperation vieler Menschen in der Produktion angewandt werden. Haarschnitt kann ich einfach gegen Abwasch tauschen, das ist klar. Was aber passiert, wenn sich eine Gruppe von Menschen das Ziel setzt, gemeinsam einen Traktor herzustellen? Vieles kann ja gar nicht alleine produziert werden, sondern nur in breit angelegter Kooperation. Bei anderen Gütern wiederum spricht einerseits die höhere Produktivität, andererseits auch die Ressourcenersparnis klar für Zusammenarbeit. Die logische Folge liegt auf der Hand: der Tauschgedanke führt in diesem Fall schnurstracks zurück zur bekannten Lohnarbeit, also zum Tausch zwischen Kapital und Arbeit. Es gäbe einen Arbeitsmarkt, Konkurrenz zwischen den kooperativen Einheiten, vulgo “Unternehmen”, somit den Zwang zum Profit und über kurz oder lang den ganzen Rattenschwanz an Problemen, zu denen der Tauschkreis doch eigentlich eine Alternative bieten wollte.
Gerade weil in Tauschkreisen hierzulande ideelle Motivationen die ökonomischen überwiegen (10), wäre es angebracht, die unmenschlichen Marktprinzipien einerseits und den durch sie bestimmten Warenmenschen andererseits zu hinterfragen. Als Anknüpfungspunkte markt- und tauschkritischer Praxen können durchaus die von den Tauschkreisen zumindest in zweiter Linie angestrebten Ziele dienen: die Herstellung sozialer Bindungen, direkte Formen menschlichen Kontakts, die Entfaltung persönlicher Fähigkeiten und die freie Kooperation. Diese Ziele sind jedoch vom Ballast der kapitalistischen Denk- und Handlungsmuster zu befreien, um eine tatsächlich neue Art gesellschaftlicher Beziehungen zu ermöglichen.
Es gilt eine Lebensweise anzudenken, in der konkrete menschliche Bedürfnisse Priorität haben. Dazu ist es vonnöten, die Vorstellung vom tauschenden “Ich”, das durch die Tauschhandlung als dominierende Form des sozialen Stoffwechsels definiert wird und deshalb auch erst in dieser Form sozial vollgültig eingebunden werden kann, zu hinterfragen und sich gemeinsam mit vielen anderen in einen bewusst und sinnvoll gestalteten Zusammenhang zu setzen, der die Zersplitterung der Marktgesellschaft an der Basis aufhebt. Dass dieser nicht durch eine staatliche Oberaufsicht über die an sich unbeherrschbaren Marktmechanismen herstellbar ist, zeigte die Erfahrung im ehemaligen Ostblock, wo versucht wurde, ein kapitalistisches Prinzip (das staatliche) gegen das andere (das marktwirtschaftliche) auszuspielen. Der Markt rächt sich am Ende bitter für jeden Versuch, seinem Selbstlauf Schranken aufzuerlegen.
Eine emanzipatorische Bewegung müsste es sich zum Ziel machen, die Prinzipien der freien Gemeinschaft, der konkreten Bedürfnisbefriedigung und der tauschlosen Verteilung zu verbinden. In der Praxis hieße das, einerseits einen gesellschaftlichen Zusammenhang über nicht-marktliche Organisationsformen zu entwickeln, in denen Menschen gleichberechtigt über Produktion und Verteilung entscheiden können. Es hieße andererseits sich an den konkreten Bedürfnissen zu orientieren, anstatt sich nach Profit und Konkurrenzfähigkeit zu richten. Und es würde drittens auch bedeuten, gemeinschaftlich Verantwortung zu übernehmen für die Menge und die Art der Produktion, um die Vereinbarkeit zwischen menschlichen Bedürfnissen und ökologischen Rahmenbedingungen zu sichern.
Dass das wesentlich leichter gesagt als getan ist, leuchtet ein. Die Unterwerfung unter die scheinbar äußerliche und eigenmächtige Logik von Geld und Warenproduktion hat die Menschen jahrhundertelang nicht nur voneinander getrennt, sondern uns zudem der Verantwortung für die Konsequenzen unseres Handelns weitgehend enthoben. Dagegen sind ganz neue Weisen des Umgangs miteinander zu gestalten und gesellschaftliche Organisation ohne “Sachzwänge” zu stärken.
siehe auch: Gründet Kostnixläden! (Exner-Hintersteiner)
Anmerkungen
(1) Silvio Gesell, ein Kaufmann zur Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, interessierte sich für die Bedingungen eines stabilen, krisenfreien Kapitalismus. Die Freiwirtschaftslehre und verwandte Ansätze in Darstellungen ihrer Vertreter: Creutz, Helmut (2001): Das Geld-Syndrom. Wege zu einer krisenfreien Marktwirtschaft. München; Gesell, Silvio (1920): Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freigeld und Freiland. Rehbrücke bei Berlin, im Netz unter http://userpage.fu-berlin.de/~roehrigw/gesell/nwo/ (letzter Zugriff 17.10.04); Lietaer, Bernard (2002): Das Geld der Zukunft. Über die zerstörerische Wirkung unseres Geldsystems und Alternativen dazu. München; Musil, Robert (2003): Neue Wege des Wirtschaftens. In: Becker, Joachim; Heinz, Ronald; Imhof, Karen; Küblböck, Karin; Manzenreiter, Wolfram (Hg. ): Geld, Macht, Krise. Finanzmärkte und neoliberale Herrschaft. HSK 22 Internationale Entwicklung. Wien; Senft, Gerhard (1990): Weder Kapitalismus noch Kommunismus: Silvio Gesell und das libertäre Modell der Freiwirtschaft. Archiv für Sozial- und Kulturgeschichte 3. Berlin; Suhr, Dieter (1983): Geld ohne Mehrwert. Entlastung der Marktwirtschaft von monetären Transaktionskosten. Frankfurt/M.
(2) Die Freiwirtschaftslehre will die Marktwirtschaft vom Kapitalismus befreien. In unserer Auffassung benennen die beiden Begriffe jedoch nur zwei Seiten einer Medaille. Sie gehören untrennbar zusammen: Marktwirtschaft bezeichnet die Seite des Warenhandels, Kapitalismus die Seite der Warenproduktion. Die Ausdrücke “marktwirtschaftliches” und “kapitalistisches System” sind daher im Wesentlichen gleichbedeutend. Auch der Realsozialismus ist in die Reihe der marktwirtschaftlich-kapitalistischen Systeme zu stellen. Es handelte sich dabei um den zum Scheitern verurteilten Versuch einer geplanten Marktwirtschaft. Unter Kapital versteht die Freiwirtschaft nur das Geldkapital. In unserer Sicht ist das Kapital kein Ding, sondern ein unaufhörlicher Selbstzweckprozess der Vermehrung von wirtschaftlichem Wert. Dieser Prozess umfasst sowohl Geld als auch Waren (Produktionsmittel, Arbeitskraft). Unsere Kapitalismuskritik unterscheidet sich daher fundamental von der “Kapitalismuskritik” der Freiwirtschaft.
(3) Kirschner, Monika (2000): Gesell, Silvio. In: Lexikon Rechtsextremismus, im Netz unter http://lexikon.idgr.de/g/g_e/gesell-silvio/gesell-silvio.php (letzter Zugriff: 17.10.04).
(4) Mit Ausnahme von Irving Fisher und John Maynard Keynes wurde die Freiwirtschaft von der universitären Volkswirtschaftslehre entweder ignoriert oder belächelt. Der Marxismus der Arbeiterbewegung hingegen bekämpfte sie als “kleinbürgerlich”. Und tatsächlich spiegelte sich in der Gesellschen Lehre das Interesse der kleinen Wirtschaftstreibenden, wohlhabenderen Angestellten und Beamten wider, die in der Wirtschaftskrise unter dem Druck der Banken zu leiden hatten. Aus ihrer persönlichen Sicht lag es nahe, den Zins als ihre größte ökonomische Belastung zu erleben. In dieser Empfindung bestärkte sie die Freiwirtschaftslehre. Sie erblickte im Zins ja nicht allein die Ursache ihres persönlichen Elends, sondern gar das Grundübel der gesamten Gesellschaft. Nicht zuletzt vermeinte Gesell darin die Quelle aller Ausbeutung zu erkennen, während er den Profit der Industrie als “Unternehmerlohn” rechtfertigte. Die Freiwirtschaftslehre gab den konservativen Kräften damit auch ein Argument gegen die erstarkende Arbeiterbewegung und ihre revolutionären Forderungen in die Hand.
Ein häufig zitiertes Beispiel für die praktische Erprobung von Freigeld in der Zwischenkriegszeit ist das “Experiment von Wörgl” in Tirol. Mit Hilfe von selbst ausgegebenem Freigeld konnte die Gemeinde Investitionen in kommunale Bauvorhaben finanzieren, das Wirtschaftswachstum ankurbeln und damit Arbeitslosigkeit und Armut reduzieren. Das Experiment wurde bald von der österreichischen Nationalbank unterbunden, die ihre Währungshoheit gefährdet sah. Seine Wirkung glich einem keynesianischen Programm zur Wachstumsförderung und steht insofern im Widerspruch zum wachstumskritischen Grundtenor vieler heutiger Freiwirtschafter. Vielfach wurde von diesem zeitlich begrenzten kommunalen Wirtschaftsprogramm auf die mögliche Wirkung einer großräumigen Einführung von Freigeld geschlossen, was sich allerdings schon aufgrund der besonderen Rahmenbedingungen und der kurzen Zeitdauer des Wörgler Experiments verbietet.
(5) Zum Zusammenhang von Geldkrise, Geldkritik und Antisemitismus siehe Hanloser, Gerhard (2003): Krise und Antisemitismus. Eine Geschichte in drei Stationen von der Gründerzeit über die Weltwirtschaftskrise bis heute. Münster.
(6) Zur Kritik von Freiwirtschaftslehre, Tauschkreisen und einzelner ihrer Aspekte: Altvater, Elmar (o.J.): Eine andere Welt mit welchem Geld? In: Wissenschaftlicher Beirat von Attac (Hg. ): Globalisierungskritik und Antisemitismus. Zur Antisemitismusdiskussion in Attac. Attac-Reader Nr. 3. ; Bierl, Peter (2001): “Schaffendes” und “raffendes” Kapital. Die Tauschringe, die Lehre des Silvio Gesell und der Antisemitismus. ContextXXI 2, im Netz unter: http://www.contextxxi.at/html/start/start_fr.html (letzter Zugriff 17.10.04); Herr, Hansjörg (1986): Geld – Störfaktor oder Systemmerkmal? PROKLA 63; Janssen, Hauke (1998): Nationalökonomie und Nationalsozialismus. Die deutsche Volkswirtschaftslehre in den dreißiger Jahren. Marburg; Kurz, Robert (1995): Politische Ökonomie des Antisemitismus. Die Verkleinbürgerlichung der Postmoderne oder die Wiederkehr der Geldutopie von Silvio Gesell. krisis 16/17, im Netz unter: http://www.krisis.org; Niederegger, Gerhard (1997): Das Freigeld Syndrom. Für und wider ein alternatives Geldsystem. Eine kritische Bestandsaufnahme. Wien; Rakowitz, Nadja (2000): Einfache Warenproduktion. Ideal und Ideologie. Freiburg im Breisgau.
(7) Bakker, L. (2000): Wachstum wider Willen? In: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg. ): Jenseits des Wachstums, Politische Ökologie 66.
(8) Zur Krisentheorie auf Grundlage der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie: Brenner, Robert (2003): Boom & Bubble. Die USA in der Weltwirtschaft. Hamburg; Heinrich, Michael (2001): Monetäre Werttheorie. Geld und Krise bei Marx. PROKLA 123; Heinrich, Michael (2004): Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung. Stuttgart; Hirsch, Joachim (2002): Herrschaft, Hegemonie und politische Alternativen. Hamburg; Kurz, Robert (1991): Der Kollaps der Modernisierung. Vom Zusammenbruch des Kasernensozialismus zur Krise der Weltökonomie. Frankfurt/M.
(9) Colectivo Situaciones (Hg. , 2003): Que se vayan todos! Krise und Widerstand in Argentinien. Berlin-Hamburg-Göttingen.
(10) Musil, Robert (2003): a.a.O.
1. März 2005