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Vorüberlegungen zu einer künftigen Ethik

Medaillon der britischen Abolitionismusbewegung (gemeinfrei, Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Wedgwood_-_Anti-Slavery_Medallion_-_Walters_482597.jpg)Die Betrachtung dessen, was gesellschaftlich anders laufen könnte, ist ohne eine ethische Perspektive recht witzlos. Man kann sich dann zwar verschiedene „andere mögliche Welten“ ausmalen, aber ob diese „besser“ oder „schlechter“ wären, ist ohne Ethik nicht unterscheidbar. Aus materialistischer Sichtweise wird Ethik allerdings gern als nachgeordnet betrachtet, gemäß Karl Marx’ berühmtem Diktum:

Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. (MEW 13: 9)

Ist also unsere Ethik ein bloßes Produkt der Gesellschaft, in der wir leben, so dass wir einer künftigen andersgearteten Gesellschaft und deren Ethik nur mit Unverständnis begegnen können? Ein Stück weit ist das sicher so, doch darf man die gesellschaftlichen Umstände nicht als zu statisch denken. Es sind schließlich immer Menschen, die gesellschaftliche Übergänge und Veränderungen zustande bringen. Und für diese ist das Auseinanderklaffen zwischen dem Sein und dem, was sein sollte – was sie als ethisch wünschenswert oder notwendig empfinden – zweifellos oft eine wichtige Antriebskraft.

Wohl jede Emanzipationsbewegung – ob zur Abschaffung der Sklaverei, zur rechtlichen und faktischen Gleichberechtigung von Frauen, das US-amerikanische Civil Rights Movement gegen rassistische Ausgrenzungen, die Lesben- und Schwulenbewegung etc. – hat einen ethisch motivierten Ausgangspunkt. Auch politische Umbrüche werden oft ethisch begründet – so ging die US-amerikanische Unabhängigkeitsbewegung von dem Slogan „No taxation without representation“ aus, sprich dem Grundsatz, dass es ethisch unakzeptabel ist, Menschen Pflichten aufzuerlegen, ohne ihnen zugleich die damit üblicherweise verbundenen Rechte einzuräumen. Und auch Marx lässt sich nicht begreifen, vergisst man seinen in jungen Jahren formulierten

kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. (MEW 1: 385, Hervorhebung im Originall)

Auch dem im Kapital erwähnten

Verein freier Menschen […], die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewußt als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben (MEW 23: 92)

liegt eine ethische Vorstellung zugrunde, wie die gesellschaftliche Produktion besser einzurichten wäre, auch wenn Marx dies mit den Worten „zur Abwechslung“ verschleiert. Der späte Marx versucht nämlich, ohne ethische Begründungen auszukommen – vermutlich weil diese eine Argumentation leicht angreifbar machen. Der Dialogpartner kann sonst einfach erwidern, dass er die ethischen Grundannahmen nicht teilt, und sich so der Diskussion entziehen.

Mit dem Kapital zielt Marx deshalb darauf ab, die innere Selbstwidersprüchlichkeit des Kapitalismus zu demonstrieren. Er zeigt, dass dieser gegen die ihm zugrunde liegenden ethischen Grundannahmen – etwa den freien Tausch unter Gleichberechtigten – permanent und zwangsläufig selbst verstößt. So kann von „freiem“ Tausch keine Rede sein, wenn jemand zur Sicherung ihres Lebensunterhalts zum Verkauf ihrer Arbeitskraft gezwungen ist. Und spätestens mit dem Verkauf der Arbeitskraft ist es auch mit der Gleichberechtigung vorbei.

Das Problem an Marx’ Argumentation ist allerdings, dass sich die von ihm demonstrierte Widersprüchlichkeit in verschiedene Richtungen auflösen lässt. Man kann dann etwas fordern, dass den ethischen Grundannahmen des Kapitalismus zu ihrer Geltung verholfen werden muss, auch wenn das tiefgreifende Reformen oder sogar eine Abschaffung des Kapitalismus erfordert. Die sich daraus ergebende Gesellschaft würde allerdings die wesentlichen kapitalistischen Grundprinzipien beibehalten, etwa das Leistungsprinzip: „Wer sich nicht gegen andere durchsetzen kann, soll auch nicht essen (oder jedenfalls nicht viel)“. Ein Ausweg ist also, zwar den Kapitalismus selbst mehr oder weniger aufzugeben, seine Ethik aber beizubehalten. Damit wäre wenig gewonnen.

Ein anderer Ausweg besteht darin, den Kapitalismus durch Preisgabe der ethischen Grundannahmen zu verteidigen. Analog zu dem berühmt-berüchtigten Churchill-Zitat, „Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen“, wird so argumentiert, dass der Kapitalismus ethisch zwar vielleicht unbefriedigend ist (da keine echte Chancengleichheit besteht etc.), von seinen Ergebnissen her aber dennoch besser als alle denkbaren Alternativen. Will man dies bestreiten, muss man sich auf die Diskussion „besser in welcher Hinsicht“ einlassen – aber das ist wiederum eine ethische Fragestellung, zu der man ohne eigenen ethischen Standpunkt überhaupt nichts sagen kann!

Der Anarchist Erich Mühsam (1933: Kap. I) hält Marx denn auch zurecht entgegen, dass sich nur ethisch begründen lässt, warum der Sozialismus bzw. Kommunismus als wünschenswerter als der Kapitalismus anzusehen ist. Ohne eine ethische Position kann man zwar vielleicht erwarten, dass diese Gesellschaft eines Tages durch eine andere abgelöst wird, aber nicht sagen, ob man dies gut oder schlecht findet.

Mit diesen Bemerkungen will ich keineswegs eine ethisch-idealistische Sichtweise gegen eine materialistische ausspielen. Es waren keine ethischen Forderungen, die zur Entstehung des Kapitalismus geführt haben. Vielmehr schlugen sich die sich im jungen Kapitalismus verbreitenden Denkmuster in entsprechenden ethischen Theorien nieder, insbesondere in John Lockes Eigentumstheorie und in Adam Smiths Theorie der „unsichtbaren Hand“ des Marktes. Solche Theorien waren aber nicht einfach nur Ergebnis der wirtschaftlichen Umbrüche, sondern dienten zugleich auch zu deren Rechtfertigung und damit zu ihrer weiteren Durchsetzung.

Auch ist Ethik bekanntlich nichts Universelles und Unveränderliches. Ethische Standards müssen sich erst entwickeln und nach und nach verbreiten, und das dauert seine Zeit. So gab es im Altertum zwar Sklavenaufstände, aber es sind keine Proteste gegen die Sklaverei bekannt – auch durch Sklaven wurde die Institution Sklaverei nicht grundsätzlich in Frage gestellt, selbst wenn sie ihr individuell zu entkommen suchten. Auch das ganze Mittelalter hindurch und in vielen außereuropäischen Gesellschaften gab es Sklaverei und Leibeigenschaft als allgemein akzeptierte Institutionen.

Erst im 17. Jahrhundert wurde die Sklaverei von Mennoniten und Quäkern für illegitim erklärt (siehe Wikipedia 2014). Bis sich diese Sichtweise verbreitete, dauert es noch mehr als 100 Jahre, und bis zur Abschaffung der Sklaverei in den meisten Ländern verging ein weiteres Jahrhundert.

Neue ethische Überzeugungen fallen also nicht über Nacht vom Himmel, von ihrem ersten Auftreten bis zu ihrer allgemeinen Durchsetzung kann geraume Zeit vergehen. Wer genau hinguckt, kann also auch heute schon ethische Positionen vorwegnehmen, die sich erst in Zukunft allgemein verbreiten werden. Dies gilt insbesondere, wenn man berücksichtigt, wie sich neue ethische Positionen in der Vergangenheit entwickelt haben. Hier sind nämlich einige allgemeine Muster erkennbar.

Eins dieser Muster ist, dass gewisse Vorrechte mit der Zeit zu allgemeinen Rechten werden. Mit der Abschaffung der Sklaverei wurden den Sklavinnen die Rechte eingeräumt, die Freie schon vorher gehabt hatten. Der Feminismus forderte und fordert für Frauen dieselben Rechte, die Männer schon vorher hatten – zu wählen; den eigenen Alltag gestalten zu können, ohne andere um Erlaubnis fragen zu müssen; gemäß den eigenen Präferenzen einen Beruf ergreifen zu können; für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn zu erhalten etc. Die Lesben- und Schwulenbewegung erkämpfte für Schwule, Lesben und Bisexuelle das Recht, im gegenseitigen Einvernehmen lieben zu können, wen sie wollen, das Heterosexuelle schon vorher gehabt hatten.

Oft sind diese Emanzipationsbewegungen noch unvollendet, indem das gleiche Recht noch nicht oder nur auf dem Papier besteht. Schwule dürfen in Deutschland und manchen anderen Staaten heute etwa noch nicht heiraten. Frauen werden im Durchschnitt nach wie vor dramatisch schlechter bezahlt als Männer, auch wenn Diskriminierung aufgrund des Geschlechts nominell verboten ist. Die Richtung, in die die ethische Entwicklung geht, ist trotzdem klar.

Ein anderes Muster ist, dass willkürliche Privilegien aufgehoben werden. So schützen die Habeas-Corpus-Rechte in Rechtsstaaten heute die Einzelne vor willkürlicher Verhaftung ohne Begründung und gerichtliche Überprüfung, während im Mittelalter der Souverän das Recht hatte, seine Untertanen festnehmen zu lassen, ohne dies rechtfertigen zu müssen.

Zwar tun sich die heutigen Staaten chronisch schwer damit, die Rechte, die sie ihren eigenen Bürgern zugestehen, auch Nichtbürgerinnen (also „Ausländern“ aus Sicht des jeweiligen Staates) zukommen zu lassen. So werden in dem berüchtigten US-amerikanischen Gefangenenlager Guantanamo hunderte Personen über teils Jahrzehnte hinweg unter krasser Missachtung ihrer Habeas-Corpus-Rechte festgehalten. Ethische Konzepte und die tatsächliche Praxis kapitalistischer Staaten sind also zwei paar Schuhe. Dass ein nur für manche geltendes Habeas-Corpus-Recht schon ein gewisser ethischer Fortschritt gegenüber der Alternative kompletter staatlicher Willkür ist, dürfte sich dennoch nicht bestreiten lassen. Und gemäß des ersten Musters, dass Vorrechte mit der Zeit zu universellen Rechten werden, lässt sich schon voraussehen, dass sich die Begrenzung von Grundrechten wie Habeas Corpus auf die Bewohnerinnen eines einzelnen Staates in Zukunft nicht mehr rechtfertigen lassen wird.

Zu guter Letzt werden die ethischen Ansichten in jeder Gesellschaft durch deren praktisch-materielle Verfasstheit geprägt, wie oben schon festgestellt. Wie der Kapitalismus seine eigene Ethik hervorbringen musste, die die Praktiken der allgemeinen Warenproduktion und des Handels unter formal Gleichberechtigten absichert und rechtfertigt, so wird auch jede künftige Gesellschaft ethische Grundsätze entwickeln, die ihrer Funktionsweise entsprechen. Wenn wir also davon ausgehen – wie hier bei Keimform als „Arbeitshypothese“ üblich –, dass die künftige Gesellschaft (sofern alles gut läuft) Commons und Peer-Produktion als ihre Grundlagen haben wird, dann implizierten diese Grundlagen bestimmte ethische Grundsätze, über sie sich heute schon einiges sagen lässt. Welche das konkret sein könnten, ist Thema des nächsten Artikels.

(Fortsetzung: Elemente einer künftigen Ethik: Keine Ausnutzung von Zwangslagen)

Literatur

From: keimform.deBy: Christian SiefkesComments

Grundrisse einer freien Gesellschaft

aufbruch-ins-ungewisse[Artikel aus: Aufbruch ins Ungewisse]

Viele Ansätze erdenken neue Gesellschaften, indem sie interessante aktuelle Entwicklungen prognostisch verlängern. Im Zentrum stehen meist neue Technologien – Jeremy Rifkin (2014) und Ludger Eversmann (2014) machen es vor. Ob die prognostizierte neue Gesellschaft wirklich “neu” oder doch nur eine modernisierte Variante des Gehabten ist, wird selten thematisiert. Doch was macht das Neue einer Gesellschaft aus? Was überhaupt ist eine Gesellschaft?

Gesellschaft ist der soziale Zusammenhang, in dem Menschen ihre Lebensbedingungen herstellen und den sie herstellen. Gesellschaft ist somit doppelt bestimmt. Sie ist Bedingung des Machens und Gemachtes. Als Vorfindliches ist sie Rahmen des Handelns, als Aktuelles ist sie Ergebnis des (all-)täglichen Handelns. Kapitalismus als derzeit dominante Weise der Herstellung der Lebensbedingungen ist keine Veranstaltung außerhalb von uns, sondern wir stellen die sozialen Formen, die den Kapitalismus ausmachen, her. Jeden Tag, mit Notwendigkeit.

Das Neue einer neuen Gesellschaft ist nun ebenso doppelt bestimmt. Neu ist eine Gesellschaft nur, wenn die Lebensbedingungen qualitativ auf andere Weise als zuvor hergestellt werden und der soziale Zusammenhang, in dem dies geschieht und den wir täglich erzeugen, eben jene neue Qualität hat, dies zu tun. Es geht damit um zwei Themen: Re-/Produktion und soziale Vermittlung.

Re-/Produktion

Wir stoßen sogleich auf das erste Problem: Die Herstellung der Lebensbedingungen erscheint uns als Produktion, der ein anderer Bereich, die Reproduktion, gegenüber steht. Diese Sphärenspaltung ist jedoch nicht naturgegeben, sondern nur Artefakt der gegenwärtigen Produktionsweise. Tatsächlich umfasst das, was wir täglich brauchen und nutzen, Gebrauchsgüter, Dienste, Kommunikation, Zuwendung, Pflege, Erholung, Ernährung – alles: Produktion und Reproduktion, die wir machen. Genau besehen enthalten sich beide Aspekte: Keine Schöpfung von Neuem ohne Erhaltung von Bestehendem und umgekehrt. Dennoch stehen sich im Kapitalismus Produktion und Reproduktion als getrennte Sphären jeweils eigener Logik gegenüber.

Im Kapitalismus trägt der Sonderbereich “Produktion” den Namen Ökonomie. Diese Bezeichnung geht auf eine Zeit zurück, als Produktion und Reproduktion noch nicht gespalten waren: “Oikos” war der Haushalt, der beides umfasste. Heute bezeichnet die Ökonomie eine besondere Produktionsweise, die Warenproduktion. Waren – wir sprechen hier nur über solche in einer dominant Waren produzierenden Gesellschaft, nicht über Frühformen innerhalb anderer Produktionsweisen – sind eine historisch spezifische soziale Güterform. Es sind auf Grundlage des (individuellen oder kollektiven) Privateigentums getrennt produzierte Güter, die getauscht werden.

Der verallgemeinerte Tausch auf dem Markt ergibt im Mittel einen Wertvergleich der Waren, der den durchschnittlichen Aufwand zu ihrer Herstellung ausdrückt. Er wird auch Äquivalententausch genannt, weil sich durchschnittlich quantitativ Gleiches gegen Gleiches tauscht. Als operables Mittel des Wertverhältnisses, das sich im Tausch im Durchschnitt herstellt, dient das Geld. Aufgehäuft und in die Produktion investiert wird es Kapital, das unter produktivem Einsatz von Arbeitskraft mehr Geld abwerfen soll. Bei Strafe des Untergangs muss der Kapitalzyklus fortwährend erneuert werden. Die Kapitalverwertung ist selbstreferenziell und hat ihre innere Schranke dort, wo keine Arbeitskraft mehr zu verwerten ist, und ihre äußere Schranke dann, wenn Naturressourcen ausgehen. Die Annäherung an beide Schranken macht sich als systemische Krisen bemerkbar, die ihrerseits von “normalen” zyklischen Krisen überlagert sind. Kapitalismus in a Nutshell.

Kapitalismus loszuwerden impliziert, anders zu produzieren, und anders zu produzieren, erfordert eine doppelte Überschreitung: keine Warenform, keine Sphärenspaltung. Warum? Die Ware ist die “Elementarform” (Marx 1890, 49) der kapitalistischen Handlungsstruktur. Es ist die soziale Form, in der wir produzieren und die wir reproduzieren. Es ist die soziale Mikroform, die die soziale Makroform – Kapitalismus – erzeugt und in ihr ihre Funktion erhält. Wer über den Kapitalismus hinaus will, muss eine andere Produktionsweise an die Stelle der Warenproduktion setzen.

“Kapitalismus abschaffen” im schlichten Sinne geht also nicht. Andererseits verbleibt bloß innerhalb der Änderungsreichweite des Kapitalismus, wer lediglich abgeleitete Formen – Geld, Gewinn, Zins, Kapital, Betriebsstruktur usw. – modifizieren will. Immanent spricht nichts gegen Genossenschaften, Karmakonsum, Gemeinwohlbetriebe, Arbeiten-ohne-Chef, Ethik und Moral usw., aber sie alle verbleiben innerhalb der Warenform und stellen diese her.

Das Fiese: Die Warenform strukturiert die Handlungsweise, die Exklusionslogik. Dabei geht das warenförmige Handeln des Einen stets auf Kosten eines Anderen: Käufer*in vs. Verkäufer*in, Arbeitsplatzbesitze*r vs. Arbeitslose*r, Markterobernde*r vs. Pleitier, Gewinner*in vs. Verlierer*in. Inklusionen sind keineswegs ausgeschlossen, im Gegenteil. Kooperationen haben die Funktion, die eigene Position in der universalen Konkurrenz zu verbessern. Sie sind der Exklusionslogik als struktureller Handlungsmatrix einverleibt und untergeordnet. Die Gegensätzlichkeit der “Metamorphose(n) der Waren, welche den gesellschaftlichen Stoffwechsel vermittelt” (Marx 1890, 119), spiegelt sich in den gesellschaftlichen Spaltungen, die sie entlang nahezu jeder sozialen Dimension (modern: “Sektion”) erzeugt: Klasse, Geschlecht, sexuelle Präferenz, Hautfarbe, Alter, Bildung, Sprache etc. Es ist eine sich durch alle gesellschaftlichen Bereiche durchziehende Logik des Drinnen und Draußen. Dem ist mit Ethik und Moral nur schwer beizukommen. Auch hier sei betont: Immanent spricht nichts gegen Interessenkämpfe, doch sie alle haben nur die Potenz zur immanenten Verschiebung von Kräfte- und Einflussgewichten, nicht zur Aufhebung der Exklusionslogik als Handlungsmatrix.

Eine besondere Form der gesellschaftlichen Spaltung ist die immer noch präsente geschlechtlich strukturierte Sphärenpolarität von Produktion und Reproduktion, von Ökonomie und Privathaushalt (vgl. Scholz 2000). Der Exklusionslogik von Berechnung, Verwertung und Vernutzung steht die Inklusionslogik mit Intimität, Sorge und Liebe komplementär gegenüber. Was nicht verwertbar ist, aber benötigt wird, bleibt der abgespaltenen Privatheit überlassen; was als Gegenstand der Kommerzialisierung entdeckt wird, wird in berechenbarer Form der Verwertung einverleibt (Stichwort: Pflege).

Das Verrückte dieser Sphärenspaltung ist ihre quantitative Verteilung: Entgegen dem Augenschein werden nahezu zwei Drittel der gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten nicht in der Warenform (vulgo: bezahlt) erbracht, sondern jenseits dieser mehr oder minder freiwillig. Gleichwohl bestimmt die Warenlogik die gesellschaftliche Entwicklung umfassend, sie durchwirkt auch die sozialen Beziehungen im privaten Nahraum. Da in abhängiger Weise auf eine funktionierende Warensphäre bezogen, kann die abgespaltene Privatsphäre in ihrer grundsätzlich inklusiven Logik die Ökonomie dennoch nicht ersetzen. Obwohl gesellschaftlich unabdingbar fehlt ihr die produktive Potenz. Eine Alternative kann nur eine Weise der Herstellung aller erforderlichen Existenzbedingungen sein, in der produktive und reproduktive Aspekte nicht konträren Logiken folgen, sondern einander durchdringen und Momente des gleichen Prozesses werden.

Peer-Commons

Eine solche Alternative existiert, es sind die Commons. Sie bilden eine Alternative zur Ware, denn sie repräsentieren eine andere soziale Form die Lebensbedingungen herzustellen. Sie sind die Elementarform einer anderen, einer commonistischen Handlungsstruktur. Ein Commons (das “s” wird für Einzahl und Mehrzahl verwendet) ist der Prozess der Nutzung und Erhaltung von Ressourcen durch eine Gruppe von Menschen, die ihren sozialen Prozess, das Commoning, selbst organisieren und dabei die Regeln ihres Miteinanders festlegen. Die Resultate dieses Prozesses sind traditionell die Erhaltung der gegebenen Ressourcen (meistens Naturressourcen wie Wald, Boden, Wasser) oder in neuerer Form die Herstellung von neuen Produkten (etwa Wissen, Software, Hardware, Nahrungsmittel, Produktionsmittel). Peer verweist in diesem Zusammenhang auf die Gleichrangigkeit der Beteiligten, die die Grundlage der selbst organisierten, freien Kooperation bildet. Peer-Commons sind vernetzbar, die Resultate des einen Commons können Ressource eines anderen sein. Damit ist ihre prinzipielle gesellschaftliche Integration und Verallgemeinerbarkeit gegeben. Doch in welcher Form können Schöpfung und Nutzung gesellschaftlich vermittelt werden, wie entsteht perspektivisch aus den vielen Mikroprojekten eine gesellschaftliche Makrokohärenz?

Vor der Beantwortung dieser Frage ist es sinnvoll, die unterschiedlichen Qualitäten der Elementarformen der Ware und der Peer-Commons zu verdeutlichen. Obwohl sich die realen Peer-Commons noch nicht auf ihrer eigenen Grundlage entfalten können, sondern sich als Keimformen in einer strukturell feindlichen Umgebung behaupten müssen, sind die Unterschiede in den Handlungslogiken dennoch bereits erkennbar.

Warenlogik und Commonslogik

Die Exklusionslogik als dynamisches Verhältnis von Inklusionen und Exklusionen wurde bereits als konstitutive Handlungsstruktur der Ware bestimmt. Voran kommt, wer sich auf Kosten anderer durchsetzt und dabei partielle Bündnisse eingeht. Dem steht die Inklusionslogik als bestimmendes Merkmal der Peer-Commons gegenüber. Hier geht es darum, möglichst viele und geeignete Mitstreiter*innen zu gewinnen, um die Projektziele zu erreichen. Die grundsätzliche Freiwilligkeit, dem auf Seiten der Ware der Zwang zur Verwertung gegenüber steht, ist die Grundlage dafür, dass die Strukturen integrativ und gewinnend gestaltet werden müssen. Die Entfaltung des Einzelnen wird hier zur Voraussetzung für die Entfaltung der anderen Beteiligten. Diese Beziehungsform kann als positive Reziprozität gefasst werden, der im Fall der Ware die strukturell exkludierende negative Reziprozität gegenüber steht. Während negativ-reziproke Beziehungen tendenziell strukturelle Vereinzelung erzeugen, ist das Resultat positiv-reziproker Inklusionsbeziehungen die strukturelle Gemeinschaftlichkeit.

Die Produktion der Güter ist bei der Ware durch fremde Zwecke bestimmt, nämlich die Verwertung des eingesetzten Kapitals. Bei den Commons geht es um die je eigenen Zwecke, um die Befriedigung der Bedürfnisse. Bedürfnisse zählen auf der anderen Seite bei der Ware nur, sofern sie zahlungsfähig sind – Ökonomen nennen sie Bedarfe. Doch auch die Bedarfe sind nicht in ihrer vollen Bandbreite gemeint, sondern nur insoweit sie auf den Kauf der aus Sicht des Verkäufers jeweils eigenen Ware zielen. Alle anderen Bedürfnisse werden unberücksichtigt gelassen oder gar verletzt, sie werden externalisiert. Im Ergebnis erfolgt die Vermittlung der Bedürfnisse ex post über den Markt oder den Staat, also nachdem die Produktion bereits gelaufen ist und die Waren zu Markte getragen wurden.

Die Isolation der unterschiedlichen Bedürfnisse voneinander und ihre getrennte Befriedigung bringt die Individuen in eine Situation struktureller Verantwortungslosigkeit – ethisches Handeln wird so zur externen und ebenso fremden Anforderung, die zudem faktisch nicht einlösbar ist. Sie resultiert in struktureller Selbstfeindschaft ausgedrückt als das Gegeneinander unterschiedlicher Partialinteressen, die durch die Personen hindurch gehen: Mobilität gegen Straßenlärm, Arbeitsplätze gegen saubere Umwelt etc. Peer-Commons auf der anderen Seite tendieren dazu, die unterschiedlichen Bedürfnisse zu internalisieren und ex ante zu vermitteln, also bevor die Produktion beginnt.

Die Kommunikation findet nicht wie bei der Ware über den wertvermittelten Umweg des Marktes statt, wo sich nur die Bedürfnisse durchsetzen, die zahlungsfähig sind, sondern die Kommunikation bezieht sich unmittelbar auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Menschen in ihrer vollen Bandbreite, die nun selbst und ohne die Möglichkeit des Einsatzes struktureller Gewalt (als die Geld wirkt) in struktureller Verantwortungsfähigkeit eine Vermittlung finden müssen. Dass dies auf der lokalen Ebene noch vorstellbar, auf regionalen oder überregionalen Ebenen schwierig wird, liegt auf der Hand (dazu gleich mehr). Dabei erscheint der vergrößerte Zeitaufwand für die direkte kommunikative Vermittlung unterschiedlicher Bedürfnisse nur vor dem Hintergrund der durch permanente Verbilligung der partialisierten Produktion erzwungenen Zeiteinsparung als “ineffizient”.

Tatsächlich ist eine Ex-Ante-Vermittlung gesamtgesellschaftlich betrachtet nicht nur effizienter, da durch ihre Ausrichtung eher auf die Vorsorge, Erhaltung und Schadensvermeidung als auf Nachsorge, Verschleiss und Schadensbewältigung (wie bei der Ware) orientiert ist. Sie ist auch individuell befriedigender, da durch die Freiwilligkeit der produktiven Tätigkeiten in der tatsächlichen Zeitverausgabung die Lebensqualität liegt und nicht in die abgespaltene Sphäre der Familie, Ehe, Freizeit, Urlaub etc. ausgelagert ist.

Gleichheit und Gerechtigkeit sind zentrale, positiv besetzte Begriffe in der bürgerlichen Gesellschaft, die gleichwohl historisch überhaupt erst mit der Warengesellschaft entstanden sind. Erst die Befreiung aus personaler Abhängigkeit schuf die Gleichheit der Individuen als Tauschsubjekte auf dem Markt. Erst die sich hinter dem Rücken durchschnittlich herstellende Äquivalenz des Tausches schuf jene Gedankenformen der Gerechtigkeit, die uns heute so selbstverständlich erscheinen. Gegen diese Formen abstrakter Gleichheit und formaler Gerechtigkeit der Ware setzen die Commons hingegen auf die konkrete Besonderheit und empfundene Fairness der beteiligten Menschen. Sie berücksichtigen die Tatsache, dass die Menschen nun einmal besondere Individuen sind, jede und jeder einzelne für sich.

Auch die neoliberale Ideologie setzt hier an, doch für sie ist die individuelle Besonderheit nur Faktor im Kampf aller gegen alle. Die Aufhebung der konkurrenzförmigen Entfaltung der Individualität ist jedoch nicht leere Gleichmachung, sondern die Entfaltung aller in ihrer jeweiligen Besonderheit in einer Weise, dass niemand unter die Räder kommt. Das ist in der exklusionslogischen Praxis nicht denk- und machbar. Hier ist die Freiheit des Anderen die Grenze der eigenen Freiheit. Inklusionslogisch begriffen ist hingegen die Entfaltung der konkreten Besonderheit des individuellen Menschen die Voraussetzung für die Entfaltung aller anderen Menschen. Diese positiv-reziproke Beziehung der Menschen zueinander fassten Marx und Engels (1848) als “Assoziation worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist”. Die Elementarform der Peer-Commons weist in ihrer sozialen Handlungslogik genau diese Beziehungsweise auf – in Keimform (vgl. Meretz 2014a) und mit allen Widersprüchen behaftet, die sich einstellen müssen, wenn sich die Mikroform nicht auf ihrer eigenen Grundlage, sondern in strukturell feindlicher Umgebung behaupten und entwickeln muss.

Vermittlung

Damit kommen wir zu der Frage, wie denn jene Assoziation, deren inklusive Logik schon Marx und Engels auf den Begriff brachten, aussehen kann und wie ihre gesellschaftliche Vermittlung funktioniert. Es ist klar, dass die Ware als Elementarform, als Mikroform dieser Vermittlung ausscheidet – und damit auch alle warenproduzierenden “Übergangsgesellschaften” (etwa der Sozialismus welcher Prägung auch immer). Die neue soziale Form der Vermittlung muss vielmehr in der dominanten alten Form direkt entstehen und sich dort verbreiten und schließlich die alte Warenlogik ablösen (zu den widersprüchlichen Schritten der Transformation vgl. Meretz 2014b und 2015).

Gesetzt also, die Elementarform “commonistischer” Vergesellschaftung sind die Peer-Commons. Wie lässt sich eine gesamtgesellschaftliche Vermittlung auf dieser Grundlage entwickeln? Drei Elemente, die sich teils getrennt, teils in Verbindung miteinander real herausgebildet haben und weiter entwickeln, sollen hier erläutert werden: Soziale Netzwerke, polyzentrische Selbstorganisation und Stigmergie.

Soziale Netzwerke sind Systeme sozialer Interaktionen, die mit Hilfe der Netzwerktheorie beschrieben werden können. Soziale Netzwerke wachsen zunächst langsam und benötigen dafür externen Ressourcen-Input. Oberhalb einer bestimmten kritischen Schwelle wachsen große Netzwerke schnell und tragen sich selbst, indem sie die benötigten Ressourcen selbst erzeugen (Netzwerkeffekt). Teil des Wachstumsprozesses großer sozialer Netzwerke ist ihre interne Ausdifferenzierung durch Funktionsteilung und Clusterbildung. Es bilden sich Hubs (wichtige “Knoten”) mit vielen Verbindungen (“Kanten”).

In sehr großen sozialen Netzwerken folgt die Verteilung der Verbindungszahlen der Knoten dem Potenzgesetz: Von wenigen sehr großen Hubs mit sehr vielen Verbindungen bis hin zu sehr vielen Knoten mit wenigen Verbindungen sind alle Verbindungsdichten vertreten. Solche Netzwerke sind damit häufig skalenfrei, das heißt, Netzwerkausschnitte (fast) beliebiger Größe sind strukturell gleichartig (gleiche Verteilung der Verbindungsdichten). Sie sind damit entwicklungsoffen (flexibel restrukturierbar) und fehlertolerant, da im Extremfall des Ausfalls wichtiger Hubs die abgetrennten Teilnetze weiterhin ihre Funktion erfüllen können (etwa in Katastrophenfällen). Die commonistische gesamtgesellschaftliche Vermittlung ist als soziales Makronetzwerk denkbar, das zwei Eigenschaften aufweist, die die beiden nächsten zu erläuternden Begriffe darstellen: polyzentrische Selbstorganisation (Qualität der “Knoten”) und Stigmergie (Qualität der “Kanten”).

Polyzentrische Selbstorganisation ist ein Begriff von Elinor Ostrom (2009), der die strukturelle Meta-Organisation in großen Commons-Systemen beschreibt. Anders als in hierarchischen Systemen mit einem Entscheidungszentrum an der Spitze bilden sich viele Zentren heraus, die unterschiedliche Funktionen wahrnehmen. Es sind die Hubs im Netzwerk, die sich durch die Selbstorganisation der Commons entwickeln.

In Anlehnung an Christian Siefkes (2008) sind vier Commons-Typen vorstellbar. Aufgabe der Projekt-Commons ist das Machen, sie setzen ihre selbst gesetzten Produktionsziele um. Die kapitalistische Analogie wäre der Betrieb. Rolle der Meta-Commons als eines der Polyzentumstypen ist die Koordination. Sie schaffen die Voraussetzungen für und die Koordination der Aktivitäten der Projekt-Commons. Die kapitalistische Analogie wären Management oder Planungsstäbe. Infrastruktur-Commons als weiterer Polyzentrumstyp schaffen die Infrastrukturen für die Vernetzung der Projekt- und Meta-Commons durch Organisation der Informations- und Stoffflüsse. Kapitalistische Analogie wäre das Netzmanagement (Strom, Gas, Bahn etc.). Commons-Institutionen sorgen für die Bereitstellung kontinuierlich benötigter gesellschaftlicher Dienste, wie wir sie heute von Gemeindeverwaltungen kennen. Diese hypothetische Skizze ist nur ein Beispiel, das dazu dient, die Vorstellung einer gesellschaftlichen Vermittlung jenseits der Geldlogik greifbar zu machen. Bei der Frage wie die Vermittlung zwischen den verschiedenen Commons organisiert ist, kommt die Stigmergie ins Spiel.

Stigmergie ist eine Form der indirekten Koordination von Aufgaben in großen sozialen Netzwerken mittels lokaler Informationen. Ursprünglich aus der Tierforschung stammend wurde das Konzept auf technische und soziale Systeme übertragen. Francis Heylighen (2007) hat die commonsbasierte Peer-Produktion als stigmergisches System beschrieben und Christian Siefkes (2013) hat den Ausdruck hinweisbasierte Aufgabenverteilung geprägt.

Aus individueller Sicht ist Stigmergie eine Form der Selbstauswahl, bei der sich Individuen einer Aufgabe verschreiben und sich dabei ggf. mit anderen koordinieren, die auch an dieser Aufgabe arbeiten (wollen). Im Gegensatz dazu ist die hierarchische Aufgabenverteilung fremdzuschreibend, da andere entscheiden, welche Aufgabe der Einzelne zu erledigen hat. Aber auch konsensbasierte Entscheidungen, die oft als Alternative zu hierarchischen Strukturen angesehen werden, haben ihre Nachteile. Sie skalieren nicht besonders gut (begrenzte Gruppengröße), tendieren zu ausufernden Diskussionen und sind anfällig für Provokateure. Konsens bedeutet nicht, dass alle Beteiligten einer Entscheidung zustimmen, sondern nur, dass es keine Gründe gibt, zu widersprechen und ein Veto einzulegen. Solche unter Umständen nur mäßige Akzeptanz führt zu unklaren Motivationen, eine Aufgabe nach einer Entscheidung auch tatsächlich mit Energie umzusetzen. Bei freiwilliger Selbstauswahl ist die Motivationslage hingegen eindeutig: Ich tue genau das, was mir entspricht und ich tun will. Anders als in hierarchischen oder konsensorientierten Systemen fallen Entscheidung und Umsetzung zusammen. Damit wird auch jene “knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit” überwunden, was Marx als Kennzeichen der “höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft” (1875) ansah.

Eine stigmergische Vermittlung der gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten wäre aus zwei Gründen sowohl effektiv (gesicherte Zielerreichung) wie auch effizient (minimaler Mitteleinsatz): wegen des bedürfnisbasierten, motivierten Handlungsantriebs und wegen des minimierten Transaktionsaufwands aufgrund der Selbstorganisation. Es bedarf keiner dritten Instanz, die die Koordination und Planung auf gesamtgesellschaftlicher Ebene für andere übernimmt, und es bedarf auch keiner zusätzlichen Vermittlung etwa durch Geld. Das stofflich gesehen nutzlose Bewegen von Geld bindet menschliche Energie, die wesentlich sinnvoller für Tätigkeiten eingesetzt werden kann, die sowohl gesellschaftlich benötigt wie auch individuell befriedigend sind (zum Umgang mit unbeliebten Tätigkeiten vgl. Siefkes 2014). Gleichzeitig besteht auch eine funktionale Ähnlichkeit zum Geld als Signalgeber. Während jedoch die signalisierte Information beim Geld eindimensional und nur quantitativ ist (“Es rechnet sich – nicht”), ist sie bei der Stigmergie multidimensional und qualitativ. Ihre Vermittlungspotenz ist also wesentlich umfassender, einzelne Vermittlungen können wesentlich spezifischer gestaltet werden.

Stigmergie folgt dem Netzwerkeffekt. Je mehr Menschen oder Projekte sich einer Aufgabe verschreiben, desto größer sind die Ressourcen und damit Möglichkeiten, das angestrebte Ziel auch zu erreichen. Diese positive Rückkopplung verstärkt sich selbst und führt zu einem exponentiellen Wachstum, was bereits heute in vielen Commons-Projekten zu beobachten ist. Nachteil des Netzwerkeffekts ist die kritische Masse die erreicht werden muss, um die Schwelle zu überschreiten, ab der das Projekt “wie von selbst” wächst und sich trägt.

Im Unterschied zu hierarchischen und besonders zu konsensorientierten Entscheidungsstrukturen skaliert Stigmergie besonders gut für sehr große und komplexe Systeme. Stigmergie braucht Vielfalt und eine große Zahl von Menschen, die sich für eine Aufgabe interessieren könnten. In Anlehnung an das Linus-Gesetz (sinngemäß: “Viele Augen sehen alle Fehler im Programmcode”, vgl. Raymond 1999) lässt sich ein Stigmergisches Gesetz der gesellschaftlichen Vermittlung so formulieren: “Gibt es genug unterschiedliche Menschen, so findet sich für jede Aufgabe ein Nerd, der/die sich ihrer annimmt”. Eine gesamte Gesellschaft erfüllt genau diese Anforderung.

Zusammenfassend: Jede Gesellschaft lässt sich als soziales Netzwerk fassen, auch der Kapitalismus. Die unterschiedlichen Qualitäten liegen in der Form der Knoten und ihrer Verbindungen, die die gesellschaftliche Vermittlung ausmachen. Im Kapitalismus haben wir es mit einem Doppelnetz zu tun. In einem Teilnetz sind die Knoten die Unternehmen (samt Lohnarbeiter*innen), deren Verbindungen ex post als gesellschaftlich gültige Austauschrelationen (worüber die Wertäquivalenz entscheidet) über Märkte realisiert werden. Diesem Netz ist eine zweite, abgespaltene Netzstruktur zugeordnet, deren interne Verbindungen über die konkreten Lebensbedürfnisse entstehen.

Die Struktur des gesamten Netzwerks und die Proportionalität der Gesamtheit der Verbindungen ergibt sich als Resultat eines unbewussten Prozesses “hinter dem Rücken” (Marx 1890, 59) der Beteiligten. Die beiden Teilnetze funktionieren somit nach unterschiedlichen Logiken, die Verbindungen zwischen ihnen basieren auf gegensätzlichen Interessen und haben abstoßenden Charakter; gleichwohl bleiben es Verbindungen. Wie dargestellt resultiert diese widersprüchliche anziehend-abstoßende Wirkung aus dem Doppelcharakter der Ware, deren Exklusionslogik für das ganze Netz, also die gesellschaftliche Vermittlung insgesamt, bestimmend ist. Sie manifestiert sich im Konkreten in vielfältiger Weise entlang diverser willkürlich zu erzeugender menschlicher Unterscheidungsmerkmale und ist mit “Konkurrenz” viel zu undifferenziert beschrieben.

In der Skizze des Commonismus als freier Gesellschaft existiert nur ein Netz, das gleichwohl in sich hochgradig differenziert und polyzentrisch strukturiert ist. Die Sphärenspaltung ist aufgehoben. Die Knoten sind hier sowohl Peer-Commons (institutioneller wie informeller Art) wie auch Einzelpersonen, die je nach selbstbestimmter Zielsetzung eher mehr produktions- oder reproduktionsorientiert sind, was zudem beständig wechseln kann. Ihre Verbindungen untereinander entstehen aus ex ante bewusst eingerichteten oder im Prozess erzeugten stigmergisch vermittelten Beziehungen, die auf den Bedürfnissen der Beteiligten (Individuen oder Kollektive) beruhen. Planung wie Ausführung der gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten findet über das gesamte Netz verteilt statt und richtet sich permanent neu aus am Maßstab des Grades der Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen. Die Bewusstheit ist dabei nicht bei einer Institution (etwa eine Planbehörde) oder gar einer Person repräsentiert (wie in der nordkoreanischen Juche-Ideologie), sondern im Sinne kollektiver Bewusstheit vom gesellschaftlichen Prozess über das ganze Netz verteilt. Statt fetischistischer Dingfixierung (Statussymbole etc.) liegt der Fokus auf der Gestaltung und Intensivierung der zwischenmenschlichen Beziehungen.

Perspektivenwechsel

Niemand kann die Organisation einer freien Gesellschaft voraussagen. Darum geht es auch nicht. Es geht darum, die Vermittlung jenseits der Warenform prinzipiell denkbar zu machen, um daraus Inspiration und konkrete Kriterien für die Gestaltung der realen Commons-Projekte zu entwickeln. So sollte eines dieser Prinzipien deutlich geworden sein: Statt (fremder) Planung und Organisation der Produktionsprozesse geht es um die Selbstplanung (Meretz 1999) und Selbstorganisation (Schlemm 2006) durch die Produzent*innen. Statt für andere die Prozesse zu organisieren und zu planen, geht es darum, die Bedingungen und Infrastrukturen für die Organisation der Prozesse durch die Menschen selbst zu schaffen.

Die Frage ist also nicht, ob geplant wird, sondern wo, durch wen, für wen und orientiert an welchen Kriterien. Jede Gesellschaft ist in diesem Sinne eine Plangesellschaft. So aktivieren und fordern etwa Marktsysteme die Selbstplanung, dies jedoch unter den Bedingungen der Exklusionslogik auf volles eigenes Risiko und nicht auf Basis von Freiwilligkeit und Abgesichertheit. Fremdbestimmung und Existenzbedrohung schränken Kreativität und Motivation ein. Zentralplansysteme haben im Unterschied zu Marktsystemen die gesamtgesellschaftliche Proportionalität im Blick, können jedoch aufgrund ihrer unflexiblen hierarchischen Struktur nur zäh auf Veränderungen reagieren. Die Menschen sind zwar grundsätzlich abgesichert, in ihren schöpferischen Handlungsmöglichkeiten jedoch durch die Planvorgaben eingeschränkt.

Der Perspektivenwechsel besteht nun darin zu erkennen, dass die Menschen selbst am besten wissen, wie die konkreten Anforderungen vor Ort und an der Sache bewältigt werden. Sie brauchen dafür geeignete Entfaltungsvoraussetzungen, die unter warengesellschaftlichen Bedingungen – mit Markt oder Zentralplan oder Mischformen – nicht gegeben sind. Erst die Aufhebung der Warenform durch die Peer-Commons schafft die Voraussetzungen für eine gesellschaftliche Vermittlung durch stigmergische polyzentrische Selbstorganisation, die ihrerseits die Voraussetzungen für die allgemeine menschliche Selbstbestimmung und -entfaltung schafft.

Die neue Qualität liegt im Sozialen, in der neuen Art und Weise, die Lebensbedingungen und damit sich selbst als Mensch zu produzieren. Neue Technologien bieten hierbei wichtige Möglichkeiten – ohne das Internet keine vernetzten Peer-Commons, ohne neue Produktionsmittel keine relokalisierte Produktion. Sie allein erzeugen jedoch nicht den gesellschaftlichen Umbruch. Umbrüche sind soziale Prozesse, das müssen wir schon selber tun.

Literatur

Eversmann, Ludger (2014), Projekt Post-Kapitalismus. Blueprint für die nächste Gesellschaft, Hannover.

Heylighen, Francis (2007), Warum ist Open-Access-Entwicklung so erfolgreich? Stigmergische Organisation und die Ökonomie der Information, in: Lutterbeck, Bernd, Bärwolff, Matthias & Gehring, Robert (2007, Hrsg.), Open Source Jahrbuch 2007. Zwischen freier Software und Gesellschaftsmodell, Berlin.

Marx, Karl (1875), Kritik des Gothaer Programms, in: Marx-Engels-Werke 19 (1973), Berlin

Marx, Karl (1890), Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, 4. Auflage (hrsg. von Friedrich Engels), in: Marx-Engels-Werke 23 (1973), Berlin.

Marx, Karl & Engels, Friedrich (1848), Manifest der Kommunistischen Partei, in: Marx-Engels-Werke 4 (1973), Berlin.

Meretz, Stefan (1999), Produktivkraftentwicklung und Subjektivität. Vom eindimensionalen Menschen zur unbeschränkt entfalteten Individualität, online: kritische-informatik.de/pksubjl.htm

Meretz, Stefan (2014a), Keimform und Elementarform, in: Streifzüge 60, Wien.

Meretz, Stefan (2014b), Keimform und gesellschaftliche Transformation, in: Streifzüge 60, Wien.

Meretz, Stefan (2015), Peer commonist produced livelihoods, in: Lemmens, Pieter (2015, Hrsg.), Producing commons by the common (in Vorbereitung).

Raymond, Eric S. (1999), The Cathedral and the Bazaar, Sebastopol.

Rifkin, Jeremy (2014), Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft. Das Internet der Dinge, kollaboratives Gemeingut und der Rückzug des Kapitalismus. Frankfurt/Main.

Schlemm, Annette (2006), Selbstentfaltungs-Gesellschaft als konkrete Utopie, Osnabrück.

Scholz, Roswitha (2000), Das Geschlecht des Kapitalismus. Feministische Theorie und die postmoderne Metamorphose des Patriarchats, Bad Honnef.

Siefkes, Christian (2008), Beitragen statt tauschen. Materielle Produktion nach dem Modell freier Software, Neu-Ulm.

Siefkes, Christian (2013), Peercommony reconsidered, online: keimform.de/2013/peercommony-reconsidered/

Siefkes, Christian (2014), Artikelserie im Blog keimform.de, Start: keimform.de/2014/dank-produktivkraftentwicklung-zur-neuen-gesellschaft/

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Das Vernünftige, Mittlere, Gemäßigte

aufbruch-ins-ungewisseBei Telepolis ist ein bemerkenswertes E-Book erschienen, das sich der Frage widmet, wie denn Alternativen zum Kapitalismus aussehen können. Tomasz Konicz, einer der Herausgeber des E-Books, formuliert es im begleitenden Artikel »Wege aus dem Kapitalismus« recht drastisch:

Wir leben in einer extremistischen Gesellschaft, die beständig irre Ideologien wie Rechtsextremismus oder Islamismus ausschwitzt. Als Extremisten können folglich diejenigen Apologeten kapitalistischer Herrschaft bezeichnet werden, die dieses zu einem Schlachthaus der Menschheit mutierende System immer noch als alternativlos und als die “beste aller möglichen Welten” bezeichnen. Die Suche nach einer Systemalternative stellt hingegen das einzig Vernünftige, Mittlere, Gemäßigte dar: Es ist ein Unterfangen, dem sich ein jeder Spießer zu verschreiben hätte, der sich Sorgen um die Zukunft seiner Kinder macht – und der erkannt hat, dass deren Abrichtung zu Mobbingmaschinen, wie sie jetzt in der Mittelklasse gang und gäbe ist, ihnen keine lebenswerten Zukunftsperspektiven eröffnen wird.

Christian Siefkes und ich waren mit Beiträgen beteiligt. Hier das Inhaltsverzeichnis:

Tomasz Konicz: Wenn die Wirtschaft nicht mehr wächst. Wie Deutschlands Medien und Ökonomen mit der Tatsache der säkularen Stagnation des spätkapitalistischen Weltsystems umgehen

Ludger Eversmann: Die Digitale Dinge-Allmende. Die materiellen Existenzbedingungen neuer höherer Produktionsverhältnisse werden gerade ausgebrütet im Schoß der alten Gesellschaft, man muss sie nur auch als solche erkennen

Michael Albert und Florian Zollmann: Parecon – Partizipatorische Ökonomie. Welche Institutionen können zivile Werte im Wirtschaftsalltag der Menschen verankern und eine Veränderung der Gesellschaft bewirken?

Jürgen Neumann: Welche Wege führen aus der Krise? Hat der Kapitalismus noch eine Chance oder müssen wir uns auf die Suche nach Alternativen begeben?

Andreas Exner: Es rettet uns keine höhere Technologie. Die Voraussetzung für eine neue Gesellschaft liegt in den “neuen” Menschen, die eine postkapitalistische Hochtechnologie nutzen

Ludger Eversmann: Schafft volkseigene “Infofakturen”! Von einem neuen Paradigma der Produktion zu einem neuen Paradigma der Ökonomie

Richard Wolff: Demokratisierung der Unternehmen statt Staatsinterventionismus. Die Linke braucht neue Ansätze und Visionen, um erfolgreich in der gegenwärtigen Krise agieren zu können

Abdullah Öcalan: Demokratischer Konföderalismus. Das Projekt der “demokratischen Moderne” ist ein Gegenentwurf zur zentralistisch-bürokratischen Moderne (eine deutliche längere Fassung dieses Texts gibt es als freies PDF)

Elke Dangeleit: Das Modell Rojava. Die Erprobung einer direkten kommunalen Demokratie mit emanzipatorischen Zügen stellt die Systemfrage an die Staaten im Nahen Osten, daher rührt die Gegnerschaft

Ludger Eversmann: Total Eclipse. Dämmerung des Kapitalismus, atomare Katastrophe oder Morgendämmerung einer Neuen Zeit?

Tomasz Konicz: Die wunderbare Welt des Jeremy Rifkin. Wie der Mainstream den Postkapitalismus diskutiert, ohne auch nur eine Ahnung vom Begriff des Kapitals zu haben

Arno Klönne: Der Kapitalismus auf dem Rückzug? Teilen und Kollaborieren statt Profitieren

Christian Siefkes: Peer Produktion. Wie im Internet eine neue Produktionsweise entsteht

Robert Kurz: Marxsche Theorie, Krise und Überwindung des Kapitalismus. Fragen und Antworten zur historischen Situation radikaler Gesellschaftskritik

W. Paul Cockshott, Allin Cottrell: Planungskonzepte für eine sozialistische Ökonomie. Grundzüge eines Systems, das Konsumentenwünsche erfüllen kann und gleichzeitig die Ökonomie zu sozialer Gerechtigkeit und Umweltverträglichkeit führt

Reinhard Jellen: “Do-It-Yourself-Urbanismus”. Hanno Rauterberg über neue Tendenzen des Stadtlebens

Lars Lange: Die Energiewende ist vollbracht. Jetzt brauchen wir die Entwicklung einer Postwachstumsstrategie

Elisabeth Voß: Die schöne neue Shareconomy und ihre Schattenseiten.

Norbert Rost: Postwachstumsökonomie. Vom “Negativzins” in der Haben-Gesellschaft

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Shareconomy – die neue Einhegung des Teilens

streifzuege62[Kolumne Immaterial World in der Wiener Zeitschrift Streifzüge]

Für die Durchsetzung des Kapitalismus war es notwendig, die Menschen durch die „Einhegung der Commons“ von ihren Subsistenzmitteln zu trennen. Zu den traditionellen Commons gehörte die gemeinschaftliche Nutzung von Naturressourcen: Wiesen, Weiden, Wälder, Wasser. Gewohnheitsrechtlich wurden sie geteilt genutzt und boten vor allem kleinen Bauernhöfen und Landarbeiter_innen ein Auskommen. Mit dieser Art des Teilens war mit der Einhegung Schluss. Freie, aber vereinzelte Lohnarbeiter_innen mussten fortan ihre Arbeitskraft verkaufen, um die Existenz ihrer getrennten, von der Warenökonomie abgespaltenen Privathaushalte zu sichern.

Der Privathaushalt, der allein für sich die Geldmittel beschafft, war in der Zeit des Fordismus ein Erfolgsmodell, das in der sich gegenwärtig ausbreitenden Krise jedoch seinen Modellcharakter verliert. Alte Denk- und Handlungsmuster werden in Frage gestellt, neue Lebens- und Handlungsweisen etablieren sich. Zu ihnen gehört eine Wiederentdeckung des Teilens. Der exklusive Privatbesitz ist nicht mehr erstrebenswert, die gemeinsame Nutzung von Ressourcen spart nicht nur Geld, sondern durchbricht auch soziale Trennungen. Warum nicht das Auto, den Garten, die Wohnung, die Werkzeuge und anderes mehr gemeinschaftlich nutzen?

Das Teilen ist eine positiv-reziproke Handlung. Die involvierten Menschen beziehen einander wechselseitig ein. Alle haben etwas davon, und dennoch wird nicht getauscht, denn das, was sie davon haben, ist sehr vielfältig und unberechenbar. Im Kern geht es um die (Wieder-) Herstellung menschlichen Reichtums jenseits von Tausch und Geld. Tauschen hingegen ist negativ-reziprok strukturiert. Die einen wollen möglichst viel haben, die anderen möglichst wenig geben. Im Tausch werden die Menschen strukturell voneinander getrennt.

Die Shareconomy, auch kollaborative Ökonomie genannt, macht aus Teilen wieder Tauschen. Sie ist eine moderne Form der Einhegung des Teilens, ist ein Weg der Verwarenformung menschlicher Beziehungen. Ressourcen werden nicht mehr gemeinschaftlich genutzt, Teilen ist also keine soziale Handlung mehr, sondern der Eigentümer einer Ressource teilt diese auf in einen selbst zu nutzenden und einen vermietbaren Teil – physisch oder zeitlich. Teilen wird verdinglicht, ganz wie Marx es für den Warenfetisch beschriebt: Das Verhältnis von Sozialem und Dinglichem, von Mittel und Zweck kehrt sich um. Die Ressource ist nicht mehr Mittel zur gemeinschaftlichen Bedürfnisbefriedigung, sondern ihr Zweck ist der Gelderwerb. Diesem fremden Zweck ist nun das Soziale als Mittel untergeordnet. Das Soziale wird kommodifiziert. Ich lerne nicht mehr Menschen kennen, um mit ihnen eine gute Zeit zu haben, zum Beispiel bei der gemeinsamen Nutzung meiner Wohnung, sondern ich lerne neue Kunden kennen, um ihnen temporär mein Zimmer gegen Bezahlung zu überlassen. Vermieten statt Teilen, Kunden finden statt menschlicher Begegnung.

Shareconomy ist Ausdruck der Krise. In Griechenland vermieten viele ihre Häuser und Wohnungen über AirBnB – aus Not. Wenn Arbeitskraft nicht mehr gefragt ist, bleiben oft keine anderen Ressourcen, die noch zur Verwertung taugen. Ökonomisch gesehen handelt es sich dabei um eine Umleitung von Einkommen: „Ich gebe dir von meinem Einkommen für die Nutzung deiner Ressource, bessere damit dein Einkommen auf und spare selbst dabei“. Dabei wird nicht nur kein neuer Wert geschaffen, sondern das gemeinsame Nutzen von Ressourcen vermindert den Absatz und damit die Produktion der entsprechenden Waren. Das ist ökologisch sinnvoll, aber ökonomisch bedrohlich, weil es die Krise befördert. Der Kapitalismus kann nur existieren, wenn Verwertung mittels Produktion und Absatz neuer Waren gelingt.

Individuell ist die Vermietung eigener Ressourcen eine Möglichkeit, das eigene Budget aufzubessern bzw. durch Nutzung der günstigen Angebote Ausgaben zu reduzieren. So schont die massenhafte Nutzung von UberPop (Vermittlung privater Fahrten) den eigenen Geldbeutel, ist jedoch für die Taxi-Unternehmen eine existenzbedrohende Konkurrenz. Doch die Logik, dass mein Fortkommen stets immer auch auf Kosten von anderen geht, durchzieht die Warengesellschaft als Ganzes. Die Exklusionslogik betrifft ebenso die Lohnarbeiter_innen und Unternehmer_innen wie eben auch die Shareconomy.

Ganz im Sinne der Schumpeterschen schöpferischen Zerstörung löst die Shareconomy bestimmte Märkte auf und schafft neue. Wird Carsharing zum Massenphänomen, sinkt die Autoproduktion. Wird der nächste Griechenland-Urlaub massenhaft im AirBnB-Quartier verbracht, müssen viele Hotels schließen. Im Unterschied zu früheren Innovationszyklen ist der schöpferische Anteil jedoch wesentlich kleiner als der zerstörerische: Große Marktsegmente werden zersetzt, und der Rest wird umverteilt. Dass daraus einige spezialisierte Vorreiter als Sieger hervorgehen, liegt auf der Hand. In den USA ist innovative Disruption – flächendeckende Marktzerstörung bei punktueller Innovation – explizite Strategie des Venture-Kapitals. Autokannibalismus statt Kapitalverwertung, und die Shareconomy bietet ein Spielfeld dafür.

Unter dem Label Shareconomy werden jedoch auch commonsorientierte Praktiken subsummiert, die mit Ökonomie nicht viel zu tun haben. Alle Projekte müssen sehen, wie sie die finanziellen Mittel aufbringen, die sie im Kapitalismus nun einmal benötigen. Die Scheidung geschieht dort, wo die gemeinschaftlichen Praktiken am Teilen oder am Tauschen orientiert sind. Dort wo Commoning und Geldlogik getrennt sind, ist der Widerstand gegen die Reintegration in die Warenproduktion am größten.

Obwohl die Tauschlogik mit der Shareconomy revitalisiert wird und dadurch das Teilen vergiftet, sorgt es dennoch für einen Mentalitätswandel. Nicht mehr alles selbst zu besitzen, sondern sich Ressourcen zu teilen – und sei es gegen Geld – ist ein Schritt in die Richtung zur Wiederentdeckung des bedürfnisorientierten Teilens und des Commoning. Doch dieser Schritt ist bewusst zu gehen. Von alleine kommt der Abschied vom Tauschen nicht, zu sehr ist das bedingungsvolle, miteinander verkoppelte Geben und Nehmen Teil der alltäglichen Handlungsweise geworden. Zu lernen ist: Nur Teilen jenseits von Geld und Tausch ist echtes Teilen.

From: keimform.deBy: Stefan MeretzComments

Anarchokommunistische Klassiker: Errico Malatesta (1)

Errico Malatesta (gemeinfrei, Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:ErricoMalatesta.gif) Ein Kommentar von Justin hat mich dazu gebracht, mich intensiver mit den Gesellschaftsvorstellungen des Anarchokommunismus zu beschäftigen. Das lohnt sich, da es in der Tat große Ähnlichkeiten zu unseren Keimform-Perspektiven gibt. Ich beginne mit Errico Malatesta, einem italienischen Anarchisten, der von den 1870er Jahren an fast 60 Jahre lang aktiv war.

Gegen politische und wirtschaftliche Unterdrückung

Malatesta (1891) zufolge gibt es zwei Arten von Unterdrückung, politische und wirtschaftliche. Politische Unterdrückung basiert auf Gewalt oder deren Androhung: wer nicht tut, was ich sage, oder wer gegen meine Gesetze verstößt, der oder dem drohen Verhaftung und Gefängnis (oder Schlimmeres).

Wirtschaftliche Unterdrückung ergibt sich aus der exklusiven Kontrolle von Land und anderen zum Leben benötigten Mitteln durch Einzelne oder Gruppen. Wer selbst nicht zu diesen privilegierten Gruppen gehört, ist gezwungen, ihnen die eigene Arbeitskraft (oder deren Produkte) zu verkaufen, um überleben zu können.

Anarchistinnen (ich verwende weibliche und männliche Formen zufällig im Wechsel) stellen sich gegen beide Formen von Unterdrückung, die politische (die auf Macht und der Drohung mit Gewalt basiert) ebenso wie die wirtschaftliche (die auf Eigentum basiert). Darin unterscheiden sich die „eigentlichen“ oder „linken“ Anarchisten von den heute insbesondere in den USA verbreiteten Marktanarchistinnen oder „Libertären“, die mit ungleichen Eigentumsverhältnissen und der daraus folgenden wirtschaftlichen Unterdrückung und Ausbeutung keine Probleme haben.

Kritik der parlamentarischen Demokratie

Was ist gegen Regierungen einzuwenden, wenn sie demokratisch bestimmt werden, durch allgemeine Wahlen? Malatesta (1891) weist darauf hin, dass wirtschaftliche Ungleichheit zwangsläufig auch zu Ungleichheit im politischen Prozess führt. Wer genug Geld hat, hat viel mehr Möglichkeiten, die öffentliche Meinung und die Regierung in seinem Sinne zu beeinflussen als diejenigen, die den ganzen Tag damit beschäftigt sind, ihr Überleben zu sichern. Auch unterschiedliche Bildungsniveaus spielen eine Rolle und diese hängen wiederum eng mit der persönlichen wirtschaftlichen Ausgangsposition zusammen. Allgemeines Wahlrecht ermöglicht also keineswegs die allgemeine und gleiche Beteiligung aller.

Zudem wird eine Regierung, an die eben der Anspruch gestellt wird, die Gesellschaft zu „regieren“ und alle eventuell auftretenden Probleme „in den Griff zu kriegen“, zwangsläufig die entsprechende Geisteshaltung entfalten. Sie wird alle gesellschaftlichen Entwicklungen von polizeilichen Standpunkt aus betrachten und sich fragen, ob und wie sie eingreifen kann und muss und wie sie durch Gesetze und andere Zwangsmaßnahmen für „Ordnung“ sorgen kann. Eine gesellschaftliche Selbstorganisation, bei der die Menschen selbst herausfinden, was für sie gut ist, und sich bei eventuellen Konflikten zusammensetzen, um nach für alle annehmbaren Lösungen zu suchen, wird so erschwert bis unmöglich gemacht.

Ergänzend wäre noch anzumerken, dass gemäß Malatestas Anspruch, keine politische oder wirtschaftliche Unterdrückung zuzulassen, die politische Unterdrückung von Minderheiten durch die Mehrheit ebenso wenig akzeptabel ist wie die Unterdrückung der Mehrheit durch eine Minderheit. Dass Gesetze demokratisch beschlossen wurden, also direkt oder indirekt dem Mehrheitswillen entsprechen, bedeutet somit noch lange nicht, dass sie alle – auch die, die nicht einverstanden sind – binden.

So dürften die meisten Menschen in westlichen Ländern zustimmen, dass die gesetzliche Sanktionierung homosexueller Handlungen – heute noch in vielen Ländern Realität – illegitim ist, und zwar auch dann, wenn eine Mehrheit in dem entsprechenden Staat sie gutheißt. Die Mehrheit hat kein Recht, Minderheiten nach Belieben den eigenen Vorstellungen zu unterwerfen. Richard Stallman (1994) drückt dies so aus:

Es ist von fundamentaler Bedeutung, dass nicht Gesetze entscheiden, was richtig und was falsch ist. Jeder Amerikaner sollte wissen, dass es in den 1950ern in vielen US-Staaten für eine schwarze Person gegen das Gesetz war, im vorderen Teil des Busses zu sitzen; aber nur Rassisten würden sagen, dort zu sitzen, war falsch.

Solidarische Selbstorganisation

In Malatestas (1891) Vision einer anarchistischen Gesellschaft gibt es weder eine Regierung, deren Wille für alle bindend ist und notfalls gewaltsam durchgesetzt werden kann, noch gibt es die Notwendigkeit, sich selbst – die eigene Arbeitskraft oder deren Ergebnisse – zu verkaufen, um überleben zu können. Es gibt also keinen Staat, der „das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht“ (Max Weber, zitiert nach Wikipedia 2014) – Anarchistinnen lehnen das staatliche Gewaltmonopol ab, da ihrer Meinung nach überhaupt niemand Gewalt ausüben darf, außer in Notwehr. Es gibt aber auch keinen Markt, auf dem mit Arbeitskraft und deren Produkten gehandelt wird, und keine Firmen, die Menschen beschäftigen und ausbeuten, um Profite zu machen.

Stattdessen besteht die Gesellschaft aus einem Netzwerk selbstorganisierter Vereinigungen (Assoziationen), mittels deren die Beteiligten ihre Existenz, ihre Entfaltungsmöglichkeiten und ihr Wohlbefinden sichern. Grund für diese freiwillige Kooperation und gegenseitige Hilfe ist die Einsicht, dass man durch Zusammenarbeit besser und eher zum Ziel kommt, während sich ein vereinzeltes Individuum schwertut und ein allgemeiner Konkurrenzkampf gegen andere allen schadet – nicht nur den Verlierern, sondern auch den (momentanen) Gewinnerinnen, die immer damit rechnen müssen, in der nächsten Runde ihrerseits auf der Strecke zu bleiben.

Malatesta sieht die Entwicklung der Kooperationsfähigkeit sogar als entscheidenden Schritt in der Evolution des Menschen: nur in der Gruppe, durch Kooperation und Absprachen, konnten die frühen Menschen gedeihen. Die Sprache mit ihrer potenziell unbegrenzten Ausdrucksfähigkeit – das Merkmal, das den Menschen wohl am deutlichsten von anderen Tierarten unterscheidet – hat sich seiner Ansicht nach als Kooperationsmittel entwickelt.

Solidarische Selbstorganisation bedeutet für Malatesta, dass die Produktionsmittel – Land und andere Rohstoffe sowie Arbeitsmittel – allen gehören und gemeinsam genutzt werden. Er bezeichnet dies als „Abschaffung des Privateigentums“ (ohne dabei auf Privateigentum, das nicht als Produktionsmittel angesehen werden kann, weiter einzugehen). Eine effektive Abschaffung des Privateigentums setzt für ihn auch die Abschaffung von Regierungen voraus, da diese sonst immer wieder private Eigentums-Vorrechte oder andere Privilegien einführen und durchsetzen würden (siehe weiter unten für eine Diskussion dieses Punkts).

Das Verschwinden von Privateigentum und Herrschaft würde aber keineswegs ein Ende der gesellschaftlichen Kooperation bedeuten, ganz im Gegenteil. Wo die Kooperation heute unter Zwang erfolgt (man muss die eigene Arbeitskraft verkaufen, um überleben zu können) und in erster Linie privilegierten Gruppen zugute kommt (man arbeitet für den Profit der Aktionärinnen oder sonstigen Kapitalgeber), wäre sie dann freiwillig und ungezwungen und würde allen zugute kommen.

Die Gesellschaft würde sich durch die freie und freiwillige Beteiligung aller spontan selbst organisieren. Die gesellschaftliche Organisation würde dezentral, von unten nach oben, erfolgen. Sie würde sich zuerst den dringendsten Bedürfnissen widmen, aber dann immer weiter um sich greifen, bis sie auch exotische Sonderwünsche erfüllen kann.

Malatesta bezweifelt nicht, dass auch komplexe Angelegenheiten wie Post und Eisenbahnen – die zu seiner Zeit Staatsbetriebe waren – in freiwilliger Selbstorganisation betrieben werden können. Je mehr Menschen solche Dienste nutzen wollen und je dringender ihr Bedürfnis danach ist, desto eher werden sich Freiwillige finden, die sich darum kümmern. Und die Freiwilligen sind selbst in der Lage, praktische Lösungen für alle sich ergebenden Probleme zu finden. Sie brauchen keinen Staat, der ihnen Vorschriften macht, sondern ihre Kontrolleure sind die Nutzerinnen selbst, die ihnen schon erzählen werden, wenn sie unzufrieden sind. Auch das sind Gedankengänge, die uns bei Keimform vertraut sind.

Malatesta betont, dass Arbeitsteilung und Kooperations- und Verwaltungsaufgaben dadurch nicht verschwinden würden. An die Stelle von Regierungsvorschriften oder hierarchischen Kommandostrukturen würden freie Vereinbarungen zwischen den Menschen treten, die als Nutznießer oder Freiwillige an bestimmten Diensten oder Produkten interessiert sind. Dabei wären alle gleichberechtigt, es gäbe niemand mehr, der aufgrund seines Amtes oder seiner Stellung im Produktionsprozess besonders privilegiert ist.

Egoismus und Altruismus

Kein anderer gesellschaftlicher Modus kann Malatesta zufolge des Wohlergehen der Menschen so gut sicherstellen wie die solidarische Selbstorganisation. Wer dies verstanden hat, wird die anarchistische Gesellschaft schon aus rein egoistischen Gründen befürworten. Egoismus und Altruismus (Sorge um das Wohlergehen der anderen) sind also keine Gegensätze, sondern fallen bei richtiger gesellschaftlicher Organisation zusammen. Auch diese Idee ist uns bei Keimform schon begegnet.

Beispiele für Selbstorganisation

Als Beispiele für mehr oder weniger anarchistische Selbstorganisation, die weder von der Regierung angeordnet noch durch Profitinteressen motiviert ist, nennt Malatesta wissenschaftliche Organisationen und Kongresse, Hilfsorganisation wie die Wasserrettungsorganisationen und das Rote Kreuz und Arbeiterorganisationen. Zweifellos würde er heute Freie-Software-Projekte und andere Peer-Projekte als weitere Beispiele ansehen.

Eine „gute“ Regierung?

Können Regierungen nicht doch uneigennützig und zum Wohle aller handeln? Malatesta bezweifelt das. Er weist darauf hin, dass die Regierenden selbst ja schon notwendigerweise gewisse Privilegien haben – andernfalls wären sie keine Regierung, sondern ein ganz normaler Teil der Bevölkerung. Regierung und Gesellschaft ohne Privilegien schließen sich also gegenseitig aus.

Zur Frage, ob Regierungen nicht übergangsweise eine gewisse Rolle spielen könnten, bis sie schließlich überflüssig werden und verschwinden – entsprechend der marxistischen Vorstellung vom allmählichen „Absterben des Staates“ im Sozialismus – verweist Malatesta auf ein Phänomen, das man als Variante des Parkinsonschen Gesetzes ansehen kann:

Jede Institution wird immer darauf hinwirken, dass sie in Zukunft mindestens ebenso sehr gebraucht wird wie heute.

Eine sich selbst überflüssig machende Regierung ist also eine Illusion.

Eine Regierung kann zudem niemals alle zufriedenstellen. In jeder strittigen Position muss sie sich Verbündete suchen, um sich durchzusetzen, und diese Verbündeten müssen umworben und belohnt werden. Auch deshalb kann selbst eine gutwillige Regierung nicht auf die Zusicherung und Durchsetzung gewisser Privilegien – ob Privateigentum, Macht oder anderes – verzichten.

Literatur

(Wird fortgesetzt.)

From: keimform.deBy: Christian SiefkesComments

Solidarische Ökonomie der Commons

Ausweg aus dem Wachstumsgetriebe der Marktwirtschaft

Beitrag für den Tagungsband zum Kongress “Solidarische Ökonomie” 2013 zu meinem Workshop. Der hervorragend gestaltete und inhaltlich spannende Band ist sehr zu empfehlen. [Repost]

Weltweit dominiert die kapitalistische Produktionsweise das Leben der Menschen. Sie unterliegt einem Drang und Zwang zum Wachstum, der sozial und ökologisch verheerend ist. Anders als historisch ältere Formen von Wirtschaft, die zum Teil Märkte inkludierten, ist die kapitalistische Produktionsweise wesentlich Marktwirtschaft. Sogar die Lebenszeit wird zur Ware.

In einer Marktwirtschaft haben die Produkte zweifache Gestalt: Sie sind Gebrauchswerte mit konkretem Nutzen und zugleich abstrakter ökonomischer Wert, der sich im Geld ausdrückt. Reichtum erscheint also in doppelter Form. Abstrakter Reichtum ist eine allgemeine Form des Reichtums, Geld verkörpert pure soziale Macht. Als solche dominiert Geld die Gebrauchswerte. Die Produktion hat daher die Erzielung von Geldgewinn zum Zweck, nicht die Befriedigung konkreter Bedürfnisse. Diese ist notwendige Bedingung, nicht aber zureichender Zweck der kapitalistischen Produktion.

Drang und Zwang zum Wachstum

Daraus resultiert (1) ein Drang zum Wachstum. Geld als solches hat keinen Gebrauchswert, es unterscheidet sich von sich selbst nur der Menge nach. Wenn alles gekauft und verkauft werden muss, Ausgaben mit Einnahmen verglichen werden, dann wird Geldgewinn zum Produktionszweck. Weil Geld abstrakten Wert verkörpert, man es „nicht essen kann“, gibt es keine objektivierbare Grenze der Gewinnproduktion, Geld macht niemals „satt“. Die Produktion von Geldgewinn und die Herstellung von Gebrauchswerten, die gesamtgesellschaftlich dafür notwendig ist, sind daher maßlos.

Es resultiert aus der Existenz einer Marktwirtschaft (2) ein Zwang zum Wachstum. Geld verkörpert allgemeinen Reichtum und bildet deshalb auch den Zusammenhang der Menschen mit der Gesellschaft. Ohne Geld sind wir nicht vollwertig anerkannt. Deshalb konkurrieren alle um Geld und versuchen, sich möglichst viel davon anzueignen. Geldgewinn muss maximiert werden.

Von der Nische in die Breite: Demonetarisierung als soziale Basisinnovation

Die Voraussetzung einer Postwachstumsgesellschaft ist folglich eine Demonetarisierung. Direkte menschliche Beziehungen müssen den Markt ersetzen. Demonetarisierung ist eine soziale Basisinnovation, die sich in Nischen entwickelt. Beispiele sind Solidarische Ökonomien und Gemeingüter (Commons) im Bereich der Landnutzung oder der digitalen Information. Es gibt dort keine Lohnarbeit, Märkte verlieren an Bedeutung und der Staat spielt keine tragende Rolle. Herrschaftsverhältnisse und Ausschlussmechanismen können reflektiert und zurückgedrängt werden.

Die weitere Verbreitung dieser Basisinnovationen erfordert Meta-Innovationen. Eine Vielzahl solidarökonomischer Einheiten oder von Gemeingütern macht noch keine solidarische Postwachstumsökonomie. Bewusste Steuerungsmechanismen müssen entwickelt werden. Die Groß-Kooperative Mondragón oder die Kibbuzim der 1960er Jahre zeigen, wie das möglich sein kann, illustrieren aber auch, dass Alternativen problematisch bleiben, solange die kapitalistische Produktionsweise ihr Umfeld ist.

Die Alternative: Gleichheit ohne Geld

Eine Alternative muss das Geld und damit auch den Markt überwinden, und zwar in Richtung von erheblich mehr soziale Gleichheit. Zugleich würde ein hohes Ausmaß sozialer Gleichheit die Bedeutung von Geldverhältnissen minimieren und diese letztlich überflüssig machen.

Regionalwährungen sind kein Ausweg aus Markt, Ausbeutung und Konkurrenz. Ebenso wenig hilft zinsloses Geld. Der Zins ist nicht die Ursache von Wachstum, sondern würgt es im Extremfall ab. Fragwürdig ist auch die Perspektive einer staatlichen Steuerung. Denn der Staat ist ein Herrschaftsapparat, kein neutrales Werkzeug schöner Ideen.

Es gilt vielmehr anzuerkennen: Der Markt parasitiert immer schon an dem, was wir in direkter Kooperation, lokal, regional und global machen, im Haushalt, im Betrieb, in sozialen Netzwerken, Bewegungen und im Ehrenamt. Die Alternative ist schon im Hier-und-Jetzt vorhanden. Wir müssen sie entfalten. Und das geht nicht mit, sondern nur gegen Kapital und Staat.

In einer solchen Perspektive machen Forderungen nach Globalen Sozialen Rechten, dem Ausbau öffentlicher Güter, einem bedingungslosen Grundeinkommen und Erleichterungen für solidarische Ökonomien Sinn. Der Knackpunkt liegt jedoch darin, dem Markt fortschreitend Ressourcen zu entziehen und den Staat zugunsten einer freien und gleichberechtigten gesellschaftlichen Koordination über gestaffelte Gremien abzubauen.

From: keimform.deBy: Andreas ExnerComments

„Wo hört Nische auf und fängt Transformation an?“

Christina Kaindl, Caroline Rosenthal, Thomas Lohmeier und Christian Siefkes (zum Vergrößern klicken)[Repost aus dem Onlinemagazin prager frühling. Die sehr umfangreiche aktuelle Ausgabe ist ganz den Commons gewidmet.]

Gespräch mit Caroline Rosenthal, Christina Kaindl und Christian Siefkes

Über das emanzipatorische Potential von Commons und über deren Beschränkungen sprachen wir mit dem Programmier und Publizisten Christian Siefkes, der Psychologin Christina Kaindl sowie Caroline Rosenthal, von Rathausstern Lichtenberg. Die Bürgerinitiative will auf dem Gelände einer ehemaligen Polizeiwache in Berlin-Lichtenberg Wohnraum, einen Stadtteilgarten, Versammlungsräume, ein Nachbarschaftscafé und eine Kita schaffen.

prager frühling: Caroline, du engagierst dich, bei den Rathaussternen. Was ist euer Anliegen?

Caroline Rosenthal: Wir haben den Rathausstern als eine Art Statement, als ein Experiment geplant: Wir wollten ausprobieren, ob Menschen, die das nicht professionell machen, an einem Berliner Liegenschaftsvergabeverfahren teilnehmen können und in den angeblich verbesserten Vergabeverfahren auch wirklich eine Chance haben. Aber wir unterscheiden uns auch von klassischen Hausprojekten. Wir sind da ähnlich wie das Philosophikum …

pf: … einem Projekt, das bezahlbaren Wohnraum in einem zum Abriss vorgesehenen Hochhaus der Frankfurter Universität schaffen will …

Caroline: … dass wir nicht in erster Linie schöne Wohnungen für uns wollen. Wir machen das Projekt schon auch für den Kiez. Sicher wird der eine oder die andere aus der Projektgruppe dort wohnen oder sein Kind in die Kita bringen, die wir auf dem Gelände planen, aber die meisten Bewohner_innen stehen noch nicht fest. Außerdem soll das Gelände ja viel mehr umfassen: Projekträume, eine große Kita, ein offen begehbares Gelände mit Garten und Nachbarschaftscafé, das die Nachbarschaft selbst bespielen soll.

pf: Ihr seid dabei ein Hausprojekt als Teil des Mietshäusersyndikats zu gründen. Das hat zur Folge, dass das Haus nicht mehr ohne weiteres verkauft werden. Warum macht man das?

Caroline: Wir haben uns dafür entschieden, weil wir das Prinzip richtig finden, dass Immobilien eben nicht nach zehn oder fünfzehn Jahren, wenn die ursprüngliche Gruppe keine Lust mehr hat, zurück auf den Immobilienmarkt fallen und zur Gentrifizierung der Nachbarschaft beitragen. Wir sind Anhänger des Mottos: Die Häuser denen die drin wohnen. Wir wollen zwar, dass die Leute, die drin wohnen das Haus besitzen und frei über das Gebäude verfügen können. Aber sie sollen es nicht verkaufen können und sie müssen sich bei größeren Veränderungen mit der Mitgliederversammlung des Syndikats abstimmen. Dafür die Beteiligungskonstruktion des Mietshäusersyndikats zu nutzen, die eigentlich auf dem prototypisch kapitalistischen Organisationsmodell GmbH beruht, ist eine interessante Umnutzung.

Christian Siefkes: … ja gewissermaßen ein Hack der GmbH.

pf: Christina, findest Du das auch einen gelungenen Hack der Eigentumsverhältnisse?

Christina Kaindl: Das fällt mir schwer zu beantworten. Ich sage das jetzt nicht auf euch bezogen, sondern etwas allgemeiner: Es gibt ja in Berlin eine Reihe von Hausprojektgruppen auf der Suche nach Möglichkeiten des Erwerbs von Eigentum. Ich stehe denen meisten sehr sympathisierend gegenüber, viele haben einen linken Hintergrund oder machen das als linkes Projekt. Ob damit aber schon die Eigentumsform betroffen ist? Viele Leute, die sich für solche gemeinschaftlichen Anschaffungen interessieren, haben eher einen akademischen Hintergrund, können sich ganz gut selbst organisieren, viele gerade weil sie links aktiv sind. In meinem Haus in Kreuzberg, wo mit der Privatisierung von Mietswohnungen der Anteil türkischer Familien von vormals sechs, auf eine gesunken ist. Und ich bin da eher Teil des Problems, auch wenn ich zur Miete wohne. Von denen hört man recht wenig über Wohngruppen, die übers Mietshäusersyndikat finanziert werden. Es gibt eine bestimmte Selektivität im Zugang. Das ist keine Gemeinheit des Modells, wirkt aber trotzdem. Die Einführung einer effektiven Mietobergrenze, würde den Verbleib im Kiez und eine Bremse gegen Gentrifizierung wahrscheinlich effektiver verwirklichen. Konkret: Wenn ein klassisches Hausprojekt ein Haus zusammen kauft, ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Leute bald wieder ausziehen nicht übermäßig groß. Mir ist zwar sympathisch, wenn man Dinge dem Markt entzieht. Wenn man aber eine Momentaufnahme macht, ist es eine Form des kollektiven Privateigentums. Und dieser Prozess der Schaffung kollektiven Privateigentums spielt sich in einem Umfeld des allgemeinen Rückgangs von Mietwohnraum ab. Da liegt ein klassenspezifischer Zugang, zumal es ja auch Leute gibt, die sich auch mit Mietshäusersyndikat niemals leisten könnten, ein Haus zu kaufen. Diese Frage stellt sich bei Projekten im Feld der Commons öfters: Wie kann man allgemeine gesellschaftliche Ungleichheitsdimensionen in einem solchen Projekt bearbeiten?

Caroline: Das is ne gute Frage, das wird bei uns auch diskutiert: Uns ist klar, dass unser Modell aber auch unsere spezifische Situation mit der Vergabe, viele Leute ausschließt. Es braucht schon eine riesige Kommunikationsbereitschaft und –fähigkeit sowie sehr viel Zeit, allein um sich an diesen ganzen Gesprächen zu beteiligen. Dieses Verständnis von transparenter Basisdemokratie ist im Kontext der Hausprojektszene relativ üblich – einfach oder niedrigschwellig ist es deshalb nicht. Wir diskutieren bei uns, in wie fern bei einem großen selbstverwalteten Projekt, wo es für die Teilhabe an der Planung schon enorm viele Voraussetzungen braucht, auch Menschen ohne viele soziale oder kulturelle Ressourcen profitieren können. Ich bin dafür, dass immer ein Teil der Wohnungen öffentlich ausgeschrieben wird. Andere finden, dass ein Hausprojekt sehr viel von Menschen erwartet. Die müssen auch im Alltag viel Verantwortung übernehmen und Koordinationsarbeit erbringen, und öfter mal Chaos aushalten. Gerade in der Anfangsphase ist es schwierig, wenn nicht alle auf einem ähnlichen Level sind und Ideen und Prinzipien teilen. Ich bin trotzdem dafür. Deswegen wäre es auch gut, wenn es mehr öffentliche Unterstützung gäbe, Stichwort Wohnungsbauförderung. Und auch die Bezirke könnten viel mehr einbringen und Anreize schaffen. Leider sind wir da ganz auf uns gestellt.

pf: Das ist ja eine wichtige Frage. Sozialer Ausschluss …

Caroline: Es gibt da ganz verschiedene Überlegungen – von sehr weitgehenden wie der Offenlegung aller Einkommensverhältnisse bis hin zu weichen, eher auf Freiwilligkeit abzielenden Vorschlägen. Das praktische Problem bisher: Wir können noch gar nicht absehen, wie hoch die Mieten sind. So lange Du nicht weißt, wie hoch die Baukosten sind, ist das schwer konkret zu machen. Am Anfang haben wir diskutiert ob wir gleich Solizimmer einplanen können. Da gab es sehr viele Vorschläge zum Beispiel: Solizimmer für Kinder von Leuten mit geringem Einkommen, für Leute ohne oder mit prekärem Aufenthaltsstatus. Zum Schluss hatten wir mehr Solizimmer als reguläre. Letztlich haben sich die Pragmatiker durchgesetzt, die gesagt haben: Erst müssen wir schauen, ob wir überhaupt die Gesamtmiete tragen können.

Christian: Dafür finde ich Ideen, wie sie in der solidarischen Landwirtschaft verwirklicht werden, spannend. Die Idee ist dort Lebensmittel für alle Beteiligten zu produzieren. Viele von denen haben das Konzept der Bieterrunde. Die setzen sich einmal im Jahr zusammen und fragen: Was brauchen wir und was soll produziert werden? Dann wird geschätzt, was das ungefähr kosten wird. Anschließend wird der Hut rumgereicht und jeder schreibt anonym auf einen Zettel, was er oder sie beitragen kann. Wenn das nicht reicht, geht es in die zweite Runde. Meistens sind spätestens nach der dritten Runde die Kosten gedeckt.

Caroline: Clevere Lösung. Führen wir sofort ein, wenn alles fertig ist, denn das Modell funktioniert nur, wenn man ein stabiles System hat und die Kosten kennt. Wegen unserer fluiden Form und der äußeren Umstände, die sich wegen des komplizierten Vergabeverfahrens quasi wöchentlich ändern können, ist das bisher nicht umsetzbar.

pf: Kommen wir einmal bei den äußeren Rahmenbedingungen und damit zum Verhältnis von Commoning und Staat: Braucht es z. B. den Wohlfahrtsstaat um die Grundlagen für Commoning zu schaffen? Um Zeit, finanzielle Ressourcen um Zuge von Umverteilung bereitzustellen oder wird der Staat sukzessive durch eine Ausdehnung des Commoning ersetzt?

Christian: Im Idealfall setzt der Staat gute Rahmenbedingungen. Im schlechteren Fall kann es Gesetze geben, die Commoning quasi unmöglich machen und im besseren Fall kann es durchaus Förderung von Projekten geben. Ein Beispiel aus der Welt der freien Software: Es gab den Versuch zu verbieten, dass Leute Inhalte verschenken. Wenn Du was Intellektuelles machst, solltest Du dafür bezahlt werden. Das war gut gemeint, hätte aber die freie Softwareentwicklung unmöglich gemacht. Zum Glück gab es damals bereits Leute, die darauf aufmerksam gemacht haben und dafür gesorgt haben, dass es eine Ausnahmeklausel gegeben hat: Wenn das Ergebnis nicht einem Einzelnen zu Gute kommt, sondern der Öffentlichkeit geschenkt wird. Das ist ein Beispiel, wo die staatlichen Rahmenbedingungen wichtig sind.

Aber ich würde den Fokus anders legen, weil Commons sehr viel älter sind, als der moderne Staat. Das zeigt, dass Commons nicht zwingend auf den Staat angewiesen sind, weswegen ich sie auch eher als eine Alternative zum Staat ansehen würde.

Christina: Ich habe da ein anderes Staatsverständnis. Ich bin eher durch Gramsci geprägt und für mich lässt sich Staat nicht nur darauf reduzieren, dass er die Rahmenbedingungen und die Gesetze macht. Im Staat drücken sich die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse aus, die durch allgemeine Strukturen durchzogen sind, Klassenverhältnisse, Ausbeutungsverhältnisse, Profitorientierung usw. Ich glaube, dass es Probleme aufwirft, wenn wir als Linke diesen Diskurs so schmal machen würden: Staat soll einen Rahmen geben und ansonsten machen lassen … Mir stellt sich zumindest die Frage: Wie bekommen wir die grundlegenden Ungleichheitsstrukturen in den Blick, die die Gesellschaft durchziehen? Wie wirkt das, was in kleinen oder großen Zusammenhängen entwickelt wird auf Gesellschaft? Wie wird das Verhältnis von Innen und Außen bestimmt? Wo hört die Nische auf und wo fängt die Transformation an?

Caroline: Wir haben als Initiative keine gemeinsame Haltung zu Staatsverständnis. Wir engagieren uns konkret für Liegenschaftspolitik in Berlin, und sind da sehr nah daran an dem was die Initiative „Stadt neu denken“ fordert. Das ist ja nicht nur eine transparente Liegenschaftspolitik, die die sich vom Höchstpreisverfahren verabschiedet. Sondern die Forderung geht dahin, dass die Stadt ihre Grundstücke behalten soll. Es steht ihren nicht zu, die zu verkaufen, ohne BürgerInnen zu fragen. Wissen wir, wofür wie die Flächen in zehn oder hundert Jahren brauchen? Grundstücke sollen natürlich genutzt werden, aber bitte in Erbbaurecht. Wie die Nutzung aussieht, auch da müssen Bürger_innen selbstverständlich mitentscheiden.

Aber natürlich haben wir inzwischen auch Erfahrung mit Themen wie Selbstausbeutung. Projekte wie unseres, ohne Gewinnerwirtschaftung, lassen sich ohne wohl nicht stemmen, es sei denn es gäbe ein bedingungsloses Grundeinkommen. Das wäre natürlich auch staatlich zu organisieren.

Christina: In Bezug auf Selbstausbeutung gibt es das Problem, dass aus der Perspektive der Selbstermächtigung die Welt manchmal ganz klein wird und die zu entscheidenden Probleme ganz groß. Umverteilung wird dann leicht ein Thema unter den Mitbewohner_innen. Gerade bei selbstverwalteten Betrieben ist aber ja auch die Frage, wie sie sich auf dem Markt verhalten, also ob sie z.B. in Konkurrenz zu klassischen Betrieben treten, in denen ggf. Tariflöhne gezahlt werden. Die United Steel Workers in den USA begleiten z.B. Kollektivbetriebe und sorgen dafür, dass kein Dumping erfolgt und die Lebensinteressen der Beschäftigten gewahrt bleiben – und das Ganze gedacht wird.

pf: Christian, wäre das von Christina genannte Modell, Gewerkschaften in selbstverwaltete Betriebe zu lassen, auch etwas für die Community der freien SoftwareentwicklerInnen?

Christian: Ich würde sagen, dass man sich bei etwas, das man gerne macht, nicht selbst ausbeuten kann. Da ist es egal ob man Fußball spielt, für Wikipedia schreibt oder freie Software programmiert. Außerdem sind Programmierer recht privilegiert. Sie werden gut bezahlt und finden gute Jobs. Und häufig werden die ProgrammiererInnen ja auch von Firmen bezahlt, die von der freien Software dann auch profitieren. Daher stellt sich dort die Frage so nicht.

Aber als gesellschaftliches Prinzip würde ich gern da hinkommen, dass man überhaupt keine Bezahlung mehr braucht. Dass es also eine Art Grundauskommen gibt: nicht geldvermittelt, sondern produktvermittelt, dass man freien Zugriff auf die Güter des Grundbedarfs hat und nicht mehr gezwungen ist, seine Arbeitskraft zu verkaufen. Da sehe ich die Begrenzung des Staates, denn der ist schließlich darauf angewiesen, dass die Verwertung im Kapitalismus funktioniert.

pf: Wenn man aber wie Caroline über Grundeinkommen redet, braucht es da nicht einen Staat, der die Umverteilung organisiert.

Christian: Umgekehrt: Es ist ja der Staat, der Eigentumsverhältnisse schützt. Eigentumsrechte sind ja durchgesetzt. Es braucht ein anderes Paradigma, bei dem es um die Produktion für die Erfüllung von Bedürfnissen geht und nicht für die Kapitalverwertung. Vieles von dem, was heute Eigentum ist, würde dann keinen Sinn mehr machen. Das geschieht ja auch, durch z.B. Landbesetzungen wo sich auch die Leute die Dinge holen, die sie zum Leben brauchen.

Christina: Dabei werden sie halt in vielen Ländern leicht mal erschossen. Es ist ja nicht nur der Staat, der Eigentum garantiert. In ihm drücken sich Machtverhältnisse aus, die sich ja auch in privatisierten Formen durchsetzen lassen. Ein guter Teil der Truppen an den Grenzen der USA haben private Verträge. Die Frage ist: Welche Vorstellung von Transformation haben wir? In der Vorstellung einer Keimform, sprießt die postkapitalistische Gesellschaft aus dem Bestehenden. Nur: Wie verhält sich das zu den machtvollen Grenzen, die dem Ende der warenförmigen Produktion entgegenstehen werden?

Christian: Ich denke, dass Eigentum ja auch uninteressant werden kann. Der Fabrikbesitzer einer gut gehenden Fabrik ruft vielleicht das Militär. Aber da wo sich Produktion nicht mehr rentiert und Eigentum uninteressant für den Besitzenden wird, kann man natürlich ansetzen.

Caroline: So haben diese Hausprojektsachen ja auch mal angefangen. Es gab die Idee, man könne für wenig Geld die Häuser kaufen, die kein Investor will. Deshalb leben doch überall auf der Welt die Armen in den unattraktivsten Gegenden. Wir sehen jetzt aber auch immer wieder, dass Gruppen versuchen am regulären Markt teilzunehmen. Warum auch nicht – wir sind doch keine Menschen zweiter Klasse, die nur dort leben dürfen wo kein anderer hin will.

Christina: Ich habe Zweifel, dass man zu Porsche gehen und sagen kann: Diesmal nehmen wir uns eine Fabrik, wo noch alles gut läuft. (Allgemeines Gelächter) Im Ernst, es ist ja ein reales Modell, dass Beschäftigte Fabriken übernehmen, die deren BesitzerInnen nicht mehr wollen. Wenn man sich die in Argentinien übernommenen Betriebe anschaut, unterscheidet sich sicher das Alltagsgefühl der ArbeiterInnen. Der Lohn ist sicher auch etwas anders als vorher, aber nicht viel. Ansonsten sind das abgeranzte Fabriken, in denen man dann acht oder mehr Stunden steht. Das wird auch dann nicht viel schöner, wenn man sie selbst verwaltet. Die berühmtesten besetzten Fabriken haben ja für den internationalen Haute-Couture-Markt produziert. Und das sind dann Zwänge, in denen sich die Leute bewegen.

In den USA gibt es Versuche, dass Produktionskooperativen im Dienstleistungsbereich mit öffentlichen Körperschaften wie Universitäten Kooperationen aushandeln, es entsteht ein Netzwerk von alternativen Betrieben, bis zu kooperativen Banken, die die Gründung von Belegschaftsbetrieben finanzieren. In Teilen wäre es auch in Deutschland möglich, Vergabestandards auszuhandeln. Die öffentlichen Einrichtungen verpflichten sich, bestimmte Kriterien einzuhalten. Das ließe sich auf Ebene der Landesgesetzgebung verwirklichen. Allerdings nur wenn die Freihandelsabkommen zurückgeschlagen werden können.

pf: Trotzdem, bei aller Skepsis, siehst Du denn Potentiale für eine Demokratisierung der Wirtschaft.

Christina: Ich glaube schon, dass Commons exemplarisches Lernen ermöglichen können. Bei Lenin hieß es „Jede Köchin muss in der Lage sein, die Staatsmacht auszuüben.“ Wie aber kommt die Köchin da hin? Wenn Menschen lernen, dass sie die wichtigen Entscheidungen bis zu wirtschaftlichen Entwicklungen und Planungen selbst fällen können, lernen sie, sich als geschichtsmächtig zu denken – wenn es gut läuft. Ein Beispiel: Die Initiative der IG Metall Esslingen in Baden Württemberg, die von dem verstorbenen Sieghard Bender stark geprägt wurde, hat versucht, exemplarische Modelle von Wirtschaftsdemokratie zu verwirklichen. Eine Element waren regionale Sozial- und Wirtschaftsräte, in denen Bedarf und Produktion abgestimmt werden sollten. Einerseits finde ich es sinnvoll die Frage des Bedarfs gegen die Profitlogik zur Geltung zu bringen. Dass also nicht nur die Beschäftigten, sondern auch die Bewohner der Region ihren Bedarf zu Geltung artikulieren. Der Haken: Überall, wo es einen starken Zusammenhang zwischen Export und Wohlstand der Region gibt, kann der „Bedarf“ durchaus auch in der Sicherung der Exportindustrie bestehen kann.

Die Frage bleibt die Universalisierbarkeit. Wie drückt sich der eigentliche Bedarf z.B. gegenüber den deindustrialisierten Strukturen in Mecklenburg-Vorpommern oder gar global aus? Wenn man all diese Leute mit in die Bedarfserhebung einbezieht, könnte dabei herauskommen, dass die Leute in Mecklenburg finden, die Hälfte der Produktion gehöre zu ihnen verlegt. Es braucht daher, wenn man über Konversion spricht, eine Instanz, die Bedarfe gesamtgesellschaftlich formuliert.

pf: Christina hat jetzt beschrieben, dass bei Commons bei den ganz großen Fragen an Grenzen kommen. Ist es also wirklich, dass sie nur für Nischen taugen?

Christian: Ich sehe das nicht so. Es gibt ja jetzt schon sehr große Projekte: Mietshäusersyndikat, Wikipedia, Linux … Ein Problem sehe ich eher bei Projekten, die weiter für den Markt produzieren wollen. Da bleibt das Transformationspotenzial sehr begrenzt.

Christina: Egal ob man für den Markt produziert oder nicht, er ist ja trotzdem da.

Caroline: Ja, das müssen wir auch feststellen. Selbst wenn es uns gelingt das Gelände zu „retten“ bleiben wir mit dem Markt verwoben und dann noch vertraglich an die Stadt gefesselt. Wir kaufen für mindestens 1,4 Mio das Gelände und müssen es dann in einem eng gesetzten Zeitrahmen entwickeln. Wir müssen zusätzliche Kredite aufnehmen, nur für eine Bürgschaft im Falle von Vertragsstrafen. Wir haben mal angefangen mit der Frage: Was wollen wir auf dem Gelände entstehen lassen. Jetzt sind wir dabei für jeden Quadratzentimeter tausend verschiedene Kosten auf die Mieten umzulegen … natürlich ohne jeden Gewinn für uns und trotzdem, was da rauskommt gefällt uns zum Teil gar nicht.

Um die Kredite zu decken werden die meisten Bewohner Mieten zahlen müssen, die derzeit nicht unter den Marktmieten liegen. Das wird in dreißig Jahren anders sein … aber bis dahin … Das ist schon manchmal sehr frustrierend. Wir stellen uns jeden Tag die Frage, ob sich der enorme Aufwand dafür lohnt. Noch beantworten wir sie mit „ja“.

Christina: Das ist ja das gemeine. Hier betreiben Leute Umverteilung zwischen Armen und ganz Armen, während sich die anderen einfach ihre Villa in Dahlem kaufen. Das macht eigentlich nur klar, wo man hingehen muss. Oder was noch alles in die Commons einbezogen werden muss.

Christian: Die können sich ihre Villa aber auch nur leisten, wenn wir die Produkte kaufen, die sie verkaufen möchten. Für mich bleibt es dabei, dass die Perspektive eigentlich die Aufhebung des Marktes sein muss. Es gibt ja Bereiche, in denen der Markt schon fast verschwunden ist. Es gibt keinen Markt für Enzyklopädien mehr oder für bestimmte Programmierwerkzeuge, weil sich dort die Wikipedia und freie Software durchgesetzt haben. Da wäre eben zu schauen, ob das nicht auch für Lebensmittel und andere Dinge geht.

Caroline Rosenthal ist Mitglied von Rathausstern Lichtenberg. Die Initiative versucht seit 2012 das 6000 qm Gelände große Gelände einer früheren Polizeiwache zu kaufen und hat erreicht, dass der Liegenschaftsfonds des Landes Berlin bei der Veräußerung des Geländes nicht mehr allein nach dem höchsten Gebot entscheidet. Die Initative steht kurz vor Abgabe des Finalen Angebots und sucht derzeit dringend Menschen, die das Projekt mit Direktkrediten ab 500 € unterstützen.

Christina Kaindl ist Redakteurin der Zeitschrift LuXemburg. Neben Aufsätzen und Büchern zur Kritischen Psychologie hat sie verschiedene subjekt- und hegemonietheoretische Arbeiten herausgegeben. Sie leitet den Bereich Strategie und Grundsatzfragen bei der LINKEN.

Christian Siefkes arbeitet als Programmierer und ist einer der Gründer von Keimform. Er ist der Autor von u.a. „Beitragen statt tauschen“ und „Freie Quellen oder wie die Produktion zur Nebensache wurde“.

Das Gespräch aufgezeichnet haben Thomas Lohmeier und Stefan Gerbing.

From: keimform.deBy: Christian SiefkesComments

Nicht-aufteilbare Arbeiten im Freiwilligenspiel

Lily Braun (gemeinfrei, Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Lily_Braun.jpg)(Voriger Artikel: Vorzüge und Abwandlungen des Freiwilligenspiels)

Das Freiwilligenspiel basiert auf der Grundidee, dass die Menschen die notwendigen und gesellschaftlich gewünschten Tätigkeiten freiwillig und selbstbestimmt untereinander aufteilen. Die benötigten Tätigkeiten werden dabei in öffentlich einsehbaren Listen gesammelt, aus denen sich die Menschen Aufgaben heraussuchen, die ihren Interessen und Fähigkeiten entsprechen. Allerdings gibt es auch Aufgaben, die sich nicht auf diese Weise aufteilen lassen, sondern bei denen von Anfang an klar ist, wer sich dafür zuständig fühlt.

Eltern wollen sich vielleicht um ihre jungen Kinder kümmern; andere haben pflegebedürftige Verwandte, Lebenspartner oder Freunde, die sie betreuen möchten. Und Hausarbeiten (kochen, waschen, putzen, kleine Reparaturen durchführen etc.) können am ehesten von den im jeweiligen Haushalt lebenden Personen erledigt werden.

Eine absolute Notwendigkeit, dass solche Tätigkeiten von bestimmten Personen übernommen werden, gibt es freilich nicht. In früheren Zeiten wurden die Kinder wohlhabender Familien oft von Ammen, Kindermädchen und Hauslehrern aufgezogen. Und zu Beginn des 20. Jahrhundert aufgekommene sozialistisch-feministische Reformbewegungen strebten eine kollektive oder “industrielle” Reorganisation dieser Tätigkeiten an.

So sah das von der Sozialdemokratin Lily Braun konzipierte „Einküchenhaus“ eine zentral bewirtschaftete Großküche für jedes Mietshaus sowie Kinderhorte und -krippen vor. Dies sollte Frauen aller Schichten von der Hausarbeit und Kinderbetreuung entlasten (Reuschling 2013: 156f). Später wurden ähnliche Ideen in manchen der israelischen Kibbuzim über mehrere Generation hinweg erfolgreich umgesetzt, etwa die gemeinschaftliche Erziehung der Kinder und Jugendlichen unter Gleichaltrigen mit nur losen Kontakten zu ihren Eltern. Ebenfalls verbreitet war die kollektive Haushaltsführung, die allerdings immer noch großteils von Frauen übernommen wurde (ebd.: 166ff).

Es gibt also keine gesellschaftliche Notwendigkeit dafür, dass bestimmte Dinge nur von ganz bestimmten Personen übernommen werden können. Dennoch sollten die Menschen in der Lage sein, sich bewusst für solche Aufgaben zu entscheiden, die dann niemand anders übernehmen kann, und das Freiwilligenspiel muss flexibel genug sein, mit solchen Entscheidungen umzugehen.

Eine weitere Aktivität, die sich nicht delegieren lässt, ist das Lernen. Wenn ich mir bestimmte Fähigkeiten und Kenntnisse aneignen will, bin ich damit eine gewisse Weile lang beschäftigt. Und wenn ich das Gelernte später zur Re/produktion der umfassenden Quasi-Flatrate einsetze, kommt es auch der Allgemeinheit zugute. Somit sollten meine Ausbildungszeiten auch als Beiträge ins Freiwilligenspiel einfließen können.

Berücksichtigung nicht-aufteilbarer Aufgaben bei der Berechnung des Durchschnittsbeitrags

Care-Arbeit, Ausbildung und andere nicht-aufteilbare Aufgaben können bei den Vorbereitungen zu einer neuen Spielrunde mit abgefragt und berücksichtigt werden. Jede Freiwillige gibt an, ob sie während des kommenden Jahres mit nicht-aufteilbaren Aufgaben beschäftigt sein wird, und schätzt den Umfang dieser Tätigkeiten ab. Je nachdem, wie hoch der Umfang der individuell abgeschätzten nicht-aufteilbaren Aufgaben ist, gilt die Freiwillige damit als anteilig oder voll beschäftigt; die Höhe der von ihr und von den anderen erwarteten Beiträge wird entsprechend berechnet.

Ein Beispiel für anteilige Beschäftigung: Ich will im kommenden Jahr einen Programmierkurs absolvieren, der mich schätzungsweise 200 Stunden beschäftigen wird. Diese 200 Stunden fließen in den insgesamt aufzuteilenden Aufwand ein. Angenommen, die anschließende Berechnung ergibt einen Durchschnittsbeitrag von 640 Regelstunden und ich will mich in Höhe des Durchschnittsbeitrags beteiligen. Dann verbleiben für mich 640 – 200 = 440 Regelstunden, für die ich mir weitere Aufgaben suchen soll. (Nicht-aufteilbare Aufgaben gehen mit normaler Gewichtung in die Aufwandsschätzung ein, da von Anfang an klar ist, wer sie übernimmt und sie also nicht höhergewichtet werden können oder müssen; eine Zeitstunde entspricht hier einer Regelstunde.)

Ein Beispiel für volle Beschäftigung: Ich schätze, dass ich mich im Lauf des Jahres etwa 1095 Stunden lang um meine beiden Kinder kümmern werde (3 Stunden pro Tag). Diesen Beitrag will ich auf jeden Fall erbringen und mich ansonsten mindestens in durchschnittlicher Höhe beteiligen. Da mein individueller Beitrag über dem Durchschnittsbeitrag liegt, bin ich damit schon voll beschäftigt; alle anderen Aufgaben werden unter anderen Freiwilligen aufgeteilt.

Auf diese Weise könnten Care-Tätigkeiten, Hausarbeit, Ausbildungszeiten und anderen Aktivitäten, die anderen zugute kommen, ohne aber frei aufteilbar zu sein, ins Freiwilligenspiel einfließen. Die mit ihnen Beschäftigten können so nicht fälschlich für unbeschäftigt oder „Trittbrettfahrerinnen“ gehalten werden, sondern es ist klar, dass sie auf ihre Weise ihren Beitrag leisten.

Bürokratie bei Beitragspflicht

Und wenn sich das Freiwilligenspiel zur Organisation der Quasiflat als nicht ausreichend erweisen sollte, sondern es stattdessen eine Beitragspflicht gibt, wie im letzten Artikel als Möglichkeit skizziert? Grundsätzlich können auch dann nicht-aufteilbare Aufgaben auf dieselbe Weise berücksichtigt werden, allerdings könnten eventuell weitere bürokratische Regelungen nötig werden.

Heute gibt es in Deutschland etwa „Pflegestufen“, die festlegen, wie viel Betreuungsaufwand für pflegebedürftige Personen je nach ihrem Gesundheitszustand besteht. Bei einer Beitragspflicht könnten ähnliche Obergrenzen für das Sich-Kümmern um Pflegebedürftige oder Kinder festgelegt werden; mehr Aufwand kann dafür dann nicht abgerechnet werden, selbst wenn es real länger dauert. Auch für Studien- und Ausbildungszeiten könnten Obergrenzen festgelegt werden, bis zu deren Höhe sie maximal angerechnet werden. Wer sich darüber hinaus weiterbilden will, kann dies zwar machen, muss es aber in seiner „Freizeit“ tun.

Im besseren Fall könnte allerdings auch bei Beitragspflicht auf solchen bürokratischen Overhead verzichtet werden. Nötig wird er wohl nur, wenn die Mehrheit der Menschen das Gefühl bekommt, dass andere nicht-aufteilbare Aktivitäten nur vorschieben, um sich vor der Beitragspflicht zu drücken. Wenn sich die Menschen gegenseitig vertrauen, sollte es ohne gehen.

Und wie im letzten Artikel ausgeführt, sehe ich sowieso gute Gründe für die optimistische Annahme, dass das Freiwilligenspiel robust genug sein sollte, um eine Beitragspflicht gar nicht erst nötig zu machen.

Fortdauern geschlechtsspezifischer Stereotypen

Eine in diesem Kontext drohende Gefahr ist allerdings, dass bestimmte Aufgaben weiterhin überwiegend von bestimmten Personengruppen übernommen werden könnten. Und zwar nicht, weil sie darauf besonders viel Lust haben, sondern weil dies von ihnen erwartet wird. So könnte es passieren, dass sich Klischees darüber halten, was Frauen und was Männern besonders „liegt“, und dass deshalb Hausarbeiten und Care-Tätigkeiten weiterhin in erster Linie von Frauen erledigt werden, während bei Autoreparaturen, Müllabfuhr und Softwareentwicklung Männer dominieren.

Ein Problem an solchen Klischees ist, dass sie selbstverstärkend sind: Je mehr ein Geschlecht bei bestimmten Tätigkeiten dominiert, desto schwieriger wird es für Angehörige des anderen, solche Aktivitäten überhaupt erst einmal als „ihr Ding“ ansehen zu können und damit ernst genommen zu werden. Die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten jedes und jeder Einzelnen werden so eingeschränkt.

Einen Automatismus, der dies aufbrechen könnte, gibt es wohl nicht. Es bleibt nur ein bewusster Umgang damit und die aktive Unterstützung und Ermunterung aller, die sich solchen Trends entgegenstellen.

(Wird fortgesetzt.)

Literatur

  • Reuschling, Felicita (2013): Domestic Utopias. In jour fixe initiative berlin (Hg.): „Etwas fehlt“ – Utopie, Kritik und Glücksversprechen. Münster: edition assemblage.
From: keimform.deBy: Christian SiefkesComments

Vorzüge und Abwandlungen des Freiwilligenspiels

Freiwillige beim Spielen(Voriger Artikel: Das Freiwilligenspiel)

Das vorgeschlagene Freiwilligenspiel zur selbstorganisierten Arbeitsaufteilung vermeidet weitgehend die Nachteile eines ganz informellen Modells der reinen Freiwilligkeit. Reine Freiwilligkeit kann zu einer äußerst unausgewogenen Lastenverteilung führen: Einzelne übernehmen möglicherweise viel mehr oder viel undankbarere (auch für ihr eigenes Empfinden) Aufgaben als andere, um zu verhindern, dass sie sonst womöglich liegen bleiben. Auch Verantwortungsgefühl gegenüber der Community kann dazu führen, das manche immer mehr Aufgaben übernehmen, da es kein Feedback dazu gibt, was von einer erwartet wird und wann man genug getan hat. Beim Freiwilligenspiel kann sich zwar jeder nach eigenem Ermessen stärker oder weniger stark engagieren, doch weiß man dabei immer, wie man relativ zum Durchschnittsbeitrag steht.

Bei reiner Freiwilligkeit droht auch, dass die Bedürfnisse derer, die etwas nicht selbst erledigen können, womöglich auf der Strecke bleiben, wenn sich niemand anders hinreichend motiviert fühlt, sich darum zu kümmern. Beim Freiwilligenspiel werden alle für die Organisation der umfassenden Quasi-Flatrate nötigen Aufgaben aufgeteilt und jede Freiwillige trägt ihren Anteil dazu bei. Das Raymond’sche „scratching an itch“ – etwas machen, dessen Ergebnisse einem selber wichtig sind (Raymond 2001) – ist hier als Motivator also weniger bedeutend. Ich kann ohne Weiteres Dinge machen, die mir liegen und die anderen zugute kommen und zugleich darauf vertrauen, dass sich andere um die für mich wichtigen Dinge kümmern.

Dass als wichtig empfundene Aufgaben womöglich liegen bleiben, weil alle lieber anderes machen, kann zwar nicht ganz ausgeschlossen werden, doch können die Syndikate dem zumindest entgegen wirken durch das Höhergewichten von „unbeliebten“ Aufgaben, für die es an Freiwilligen fehlt. Reine Freiwilligkeit kann auch langfristige Planung und Großprojekte schwierig machen, weil unklar ist, ob die interessierten Freiwilligen lange genug dabei bleiben und ob sich andernfalls motivierte Nachfolger für sie finden. Im Freiwilligenspiel ist das einfacher: Hat sich die Gesellschaft zur Durchführung eines Projekts entschlossen, werden alle dafür nötigen Aufgaben aufgeteilt und kommen potenziell für alle, die ihren Teil zur gesellschaftlichen Reproduktion beitragen wollen, in Frage.

Die problematischen Aspekte der Arbeitsteilung in traditionellen Commons sollten ebenfalls nicht auftreten. In traditionellen Commons hat die Einzelne kaum Wahlmöglichkeiten in Bezug auf die zu leistenden Aufgaben. Beim Freiwilligenspiel suchen sich alle gezielt die Tätigkeiten aus, die sie erledigen möchten, weil sie Lust darauf haben oder gut darin sind. Deshalb (und weil Aufgaben bei Bedarf hochgewichtet werden können) eignet sich das Spiel auch für die Organisation komplexer arbeitsteiliger Prozesse mit Dutzenden oder Hunderten unterschiedlicher Aufgaben, die verschiedene Talente und Qualifikationen erfordern. In traditionellen Commons werden dagegen meist nur relativ gleichförmige Arbeitspakete aufgeteilt. Alle müssen alles machen können oder Traditionen diktiert den Einzelnen, was sie zu tun haben, etwa in Form unterschiedlicher Geschlechterrollen.

In traditionellen Commons besteht in der Regel zudem eine Beitragspflicht. Ein individuelles Opt-out ist schwierig und muss von der Community akzeptiert werden. Im Freiwilligenspiel wird die Entscheidung zur Beteiligung und ihr genauer Umfang dagegen von den Einzelnen getroffen und muss nicht begründet werden.

„Trittbrettfahrer“-Risiko und Beitragspflicht

Dass alle diese Entscheidung individuell treffen, führt allerdings auch zu dem Risiko, dass das Spiel mangels Freiwilliger kollabieren könnte. Jede Einzelne hat die Möglichkeit, sich als Freiwillige zu beteiligen oder nicht, kann aber in jedem Fall die produzierten Güter nutzen. Je mehr Menschen sich also nicht oder nur in geringem Maße beteiligen, desto höher wird die Arbeitsbelastung für die verbleibenden Freiwilligen.

Eine sinkende aktive Beteiligung könnte so zu einem Teufelskreis führen: Die noch Aktiven haben einerseits immer mehr zu tun und sehen andererseits immer mehr „Trittbrettfahrer“, die es sich auf ihre Kosten gut gehen lassen. Das könnte weitere Freiwillige zum Ausstieg bewegen und so bald das völlige Scheitern des Spiels bewirken. Dann hätten auch die Trittbrettfahrerinnen Pech gehabt; eine andere Lösung zur Aufteilung der anfallenden Tätigkeiten müsste gefunden werden.

In diesem Fall wäre eine Beitragspflicht nach dem Modell der traditionellen Commons die naheliegende Lösung. Die Erbringung des Durchschnittsbeitrags wäre dann nicht länger freiwillig, sondern für alle arbeitsfähigen Erwachsenen (z.B. zwischen 18 und 63) verpflichtend, sofern sie die per Quasiflat hergestellten Güter im vollem Umfang nutzen wollen. Individuell gewünschte Befreiungen von der Beitragspflicht wären zwar möglich, müssten aber beantragt und begründet werden. Die Koregion müsste ein Gremium einsetzen (z.B. per Los oder Wahl), das über solche Befreiungen entscheidet.

Verweigert man die eigenen Beteiligung, ohne dafür Gründe vorzubringen, die das Gremium akzeptiert, wären Sanktionen die unvermeidliche Konsequenz (andernfalls bestünde die Beitragspflicht nur auf dem Papier). Der Zugang zu bestimmten per Quasiflat zugänglich gemachten Gütern könnte verweigert oder eingeschränkt werden. Allerdings dürften die drohenden Sanktionen meiner Meinung nach nicht so gravierend sein, dass sie das Leben oder die Gesundheit der betroffenen Person gefährden könnten, da niemand das Recht hat, über Leben und Tod anderer Menschen zu entscheiden. Zumindest die Befriedigung lebenswichtiger Grundbedürfnisse müsste also weiterhin möglich sein.

Die Aufteilung der notwendigen Arbeiten würde durch die Beitragspflicht bürokratischer werden. Die Motivation vieler Beteiligter würde wahrscheinlich ein Stück weit sinken, weil sie nicht mehr freiwillig beitragen, sondern ihren Pflichtanteil erfüllen müssen. Dennoch würde sich auch diese Version der Quasiflat deutlich vom kapitalistischen Modell unterscheiden: Die Menschen würden die Erledigung der nötigen Aufgaben weiterhin unter sich aufteilen und so gemeinsam für die Befriedigung der Bedürfnisse aller arbeiten. Niemand müsste sich in Konkurrenz mit ungewissem Ausgang gegen andere durchsetzen.

Allerdings ist das Risiko, dass aufgrund zu vieler „Trittbrettfahrer“ eine Beitragspflicht nötig wird, meiner Einschätzung nach viel geringer als es heute scheinen mag. Menschen haben nicht nur konsumtive, sondern auch produktive Bedürfnisse – jahrein, jahraus nur bequem am Strand zu liegen oder Internetvideos zu gucken, würde wahrscheinlich die wenigsten dauerhaft glücklich machen. Gleichzeitig würde ein Trittbrettfahrerverhalten zur psychologisch unbefriedigenden Situation einer einseitigen Abhängigkeit führen. Man ist von anderen abhängig, ohne deren Aktivitäten man nicht überleben könnte (das gilt für alle Menschen in jeder Gesellschaft), gleichzeitig tut man aber nichts für andere, was die einseitige in eine gegenseitige Abhängigkeit auflösen würde. Auch die eventuell von Freundinnen oder Bekannten gezeigte Irritation oder Missbilligung, wenn man im Gegensatz zu ihnen nichts beiträgt, könnte eine abschreckende Wirkung entfalten.

Und nicht zuletzt ist das Freiwilligenspiel so konzipiert, dass es der Einzelnen leicht zugängliche Informationen dazu bietet, in welchem Umfang und auf welche Weisen sie sich an der allgemeinen gesellschaftlichen Vorsorge beteiligen kann. Dieses Feedback verpflichtet zwar zu nichts, dürfte aber den Effekt haben, dass man die eigene Rolle im gesellschaftlichen Prozess überdenkt und sich entsprechend verhält.

„Entbürokratisierung“ zur reinen Freiwilligkeit

Auch wenn es niemand formelle Pflichten auferlegt, ist das Freiwilligenspiel immer noch mit einer gewissen Bürokratie verbunden. Das wäre unnötig, wenn die Menschen die anfallenden Tätigkeiten spontan unter sich aufteilen würden, ohne auf die Feedbackmechanismen des Freiwilligenspiels angewiesen zu sein. Es dürfte auch dann noch Listen der zu erledigenden Aufgaben und der auszufüllenden Tätigkeitsfelder geben, doch alle würden spontan im eigenen Ermessen entscheiden, ob und in welchem Umfang sie sich einbringen. Wenn sich dies als ausreichend erweist, um für alle gewünschten Tätigkeiten jemand zu finden, der sie zum richtigen Zeitpunkt erledigt, würden die Bieterrunden und die Zeiterfassung des Freiwilligenspiels überflüssig.

Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn der Wunsch vieler Menschen, sich auf sinnvolle und für andere nützliche Weise zu betätigen, groß genug ist, um alle zu erledigenden Aufgaben abzudecken (und potenziell noch mehr). Eine Annäherung an diesen Zustand kann von zwei Seiten aus erfolgen. Einerseits dadurch, dass der Umfang der benötigten Aufgaben – insbesondere von solchen, auf die wenige Lust haben – aufgrund von höherer Automatisierung und verbesserter gesellschaftlicher Organisation zusammenschrumpft. Und andererseits dadurch, dass sich die Haltung der Menschen zur Arbeit dahingehend entwickelt, diese – zumindest in begrenztem Umfang und in ihrer selbstbestimmten und selbstorganisierten Variante – nicht mehr als lästige Notwendigkeit anzusehen, sondern als befriedigenden Teil des Lebens.

Ein völliger Verzicht auf die Feedbackmechanismen des Freiwilligenspiels ist allerdings nur dann empfehlenswert, wenn sichergestellt ist, dass die Tücken der reinen Freiwilligkeit vermieden werden. Wenn also alle mit den übernommenen Aufgaben zufrieden sind, statt dass sich manche aus Verantwortungsgefühl abrackern, während andere nur tun, worauf sie Lust haben. Sofern Eigenarbeit verbreitet ist, sollte sie nicht dazu führen, dass Einzelne ausgeschlossen werden, weil sie diese Tätigkeiten nicht selbst übernehmen können oder wollen und es niemand gibt, die sie ihnen abnimmt.

Es ist gut möglich, dass die gesellschaftliche Entwicklung in einer cosyndikalistischen Gesellschaft in diese Richtung gehen wird. Die Aushandlungsprozesse des Freiwilligenspiels könnten sich mit der Zeit als unnötig formell erweisen und zugunsten reiner, spontaner Freiwilligkeit fallen gelassen werden.

Sollte diese Entwicklung nicht eintreten, sondern sich die Spielregeln des Freiwilligenspiels (wahrscheinlich in weiterentwickelter Form) weiterhin als sinnvoll erweisen, wäre das aus meiner Sicht aber auch kein Beinbruch.

Die am Schluss des letzten Teils aufgeworfene Frage nach dem Umgang mit schlecht delegierbaren Tätigkeiten (z.B. sich um die eigenen Kinder kümmern) ist noch offen geblieben, aber der nächste Artikel kommt bestimmt.

(Fortsetzung: Nicht-aufteilbare Arbeiten im Freiwilligenspiel)

Literatur

  • Raymond, Eric S. (2001): The Cathedral & the Bazaar. 2. Aufl. Sebastopol: O’Reilly.
From: keimform.deBy: Christian SiefkesComments

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Streifzüge Nr. 60/2014[Alle »Keimformen«-Artikel in Streifzüge 60/2014]

Einem lieben Wunsch kann leicht passieren, dass er etwas findet, was er zu schnell für das Gesuchte hält. Columbus glaubte bis an sein Lebensende daran, 1492 den Seeweg nach China (das damals zu „Indien“ zählte) entdeckt zu haben, obwohl er auf einem ganz anderen Kontinent gelandet war. Manchmal ist es sicherer, auf unerwartete oder gar unerwünschte Entdeckungen zu setzen.

Zwei ganz normale VWL-Professoren (Ralf Reichwald/Frank Piller, Interaktive Wertschöpfung, Wiesbaden 2006) entdeckten z.B. vor sieben Jahren etwas Neues, was sie in ihrer gewohnten wertfixierten Sprache „interaktive Wertschöpfung“ nannten. Sie hatten routinemäßig betriebswirtschaftliche Modelle untersucht und zu ihrer Überraschung festgestellt, dass es tatsächlich etwas Neues zu beobachten gab, das mit der klassischen BWL nicht zu erklären war: „Die interaktive Wertschöpfung ergänzt die … beiden klassischen Koordinationsformen (Hierarchie und Markt) durch einen dritten Weg: das Organisationsprinzip einer ‚commons-based-peer-production‘. Diese Organisation des Wertschöpfungsprozesses verlangt eigene Organisationsprinzipien und Kompetenzen der Akteure. Beispiele bilden die Selbstselektion und Selbstorganisation von Aufgaben durch (hoch) spezialisierte Akteure, deren Motivation vor allem die (eigene) Nutzung der kooperativ geschaffenen Leistungen ist. Hinzu kommt jedoch eine Vielzahl weiterer sozialer, intrinsischer und extrinsischer Motive.“ (S. 314)

Auch in der aktuellen Keimformdebatte sind mir die Entdeckungen am liebsten, die nicht durch eine allzu präformierte Sicht zustande kommen; Keimformen also, die auf den ersten Blick kaum als solche zu erkennen sind. Keimformen, die in der Mitte oder am progressiven Rand des alten Systems entstehen und dann empirisch nachweisen müssen, dass sie eventuell die Potenz haben, auch über die Logik des bestehenden Systems hinauszugehen.

Zum Beispiel das Geschäftsmodell „Flatrate“ oder „all inclusive“: Diese beiden erfolgreichen Geschäftsmodelle der letzten 10 Jahre sind vollständig kapitalistisch kalkuliert: Sie sollen Kunden anlocken und Marktanteile vergrößern (müssen sich also „rechnen“), beinhalten aber eine Logik, die durchaus im Widerspruch zum ehernen Äquivalenztausch-Prinzip unserer Geld-Logik steht. Sie erlauben in einem begrenzten Rahmen (der natürlich zuvor mit Geld dem Geltungsbereich der Geldlogik abgekauft wurde) nach eigenen Bedürfnissen zu leben – ohne sich auf die Matrix des Wertes zu beziehen.

Wenn die Unternehmer und Manager der Geldlogik eines können (müssen), dann ist es das: Rechnen. Und wenn dabei das Geschäftsmodell Flatrate oder „all inclusive“ erfolgreich wird, ist das nicht nur kein Nachteil, sondern in der Form der „Nachfrage“ ein Beweis dafür, dass das Neue tatsächlich (massenhaft) verstanden und gewollt wird. Offensichtlich ist es nicht nur denkbar, sondern empirisch feststellbar, dass Menschen auch ohne monetäre Fremdbestimmung mit (hier erst einmal temporär) freien Gütern vernünftig umgehen können.

Ein Hotelier auf Mallorca sagte mir in einem Interview, er glaube an „all inclusive“ und gehe davon aus, dass es sich in nächster Zeit weiter durchsetzen werde. Es zeige, dass sich seine Kunden spätestens am dritten Tag daran gewöhnt hätten, nach ihren Bedürfnissen zu leben. Spätestens dann würden sie aufhören, sich die teuersten Speisen und Getränke vom Buffet zu nehmen und die pauschal bezahlten Ansprüche nach dem alten Nachkriegsmotto auszunutzen: lieber den Magen verrenkt als dem Wirt was geschenkt! Sie würden dann tatsächlich nur das und soviel davon nehmen, wie sie gerade Lust hätten – so wie alle anderen Lebewesen auf der Erde.

From: keimform.deBy: Uli FrankComments