Ein Gespräch zwischen Andreas Exner und Stefan Meretz
Teil 3 (Teil 1, Teil 2)
[Erschienen in: Grundrisse 42/2012]
Stefan: In dem von mir angebrachten Zitat nimmt Marx tatsächlich einen überhistorischen Standpunkt ein, in dem er die genuine Freiheit des Menschen als Kriterium für den geschichtlichen Prozess nimmt. Allerdings muss er da nichts konstruieren, sondern bewertet die ersten beiden Etappen als Verhältnisse, die auf persönlicher bzw. sachlicher Abhängigkeit basieren. Dass Marx die ersten Abhängigkeitsverhältnisse „naturwüchsig“ nennt, finde ich dabei nicht wichtig, den Feudalismus meint er damit ohnehin nicht. Das Wort „persönlich“ darfst du nicht zu eng sehen, heute würden wir vielleicht treffender von „personalen Abhängigkeitsverhältnissen“ sprechen – eine zutreffende Kennzeichnung für die vorkapitalistischen Gesellschaften wie ich finde, ebenso wie die relative individuelle Freiheit bei sachlicher Abhängigkeit im Kapitalismus.
Ich sehe nicht, dass die von dir auswählten Zitate das Gegenteil belegen. Marx zeigt dort nur, dass sachliche Abhängigkeitsverhältnisse personal exekutiert werden müssen. Marx ist da ansonsten ganz klar: „Diese sachlichen Abhängigkeitsverhältnisse im Gegensatz zu den persönlichen erscheinen auch so (das sachliche Abhängigkeitsverhältnis ist nichts als die den scheinbar unabhängigen Individuen selbständig gegenübertretenden gesellschaftlichen Beziehungen, d.h. Ihre ihnen selbst gegenüber verselbständigten wechselseitigen Produktionsbeziehungen), daß die Individuen nun von Abstraktionen beherrscht werden, während sie früher voneinander abhingen.“ (S. 24).
Mit sachlicher Abhängigkeit meint Marx die fetischistische Verkehrung von sozialen und sachlichen Verhältnissen, in denen die Sachzwanglogiken der Verwertung den Menschen als Fremdes in Form von Abstraktionen, wie er sagt, entgegentreten. Aus meiner Sicht ist der Wert tatsächlich und nicht nur scheinbar ein Verhältnis von Dingen, nämlich das Verhältnis der zur Herstellung der Dinge, der Waren, erforderlichen gesellschaftlich durchschnittlichen Arbeitszeit. Das begründet jedoch noch keinen Sachzwang wie du annimmst. Der Zwang kommt erst ins Spiel, wenn die Arbeitenden ihre Arbeitskraft verkaufen und die Kapitalbesitzer_innen diese kaufen und verwerten müssen, um ihre Existenz innerhalb und unter Nutzung der gegebenen Produktionsweise zu sichern.
Dass es sich dabei um ein Herrschaftsverhältnis handelt, liegt auf der Hand, erklärt aber nicht die funktionale Logik. Im Sinne des Kapitalismus spricht nichts dagegen, dass die Arbeitsklasse auch die Verwertungs- und damit Kommandofunktion übernimmt und gewissermaßen über sich selbst herrscht. Das zunehmende Selbstunternehmertum besteht im Kern genau darin. Sachliche Abhängigkeit bedeutet also im umfassenden Sinne, dass wir von sachlichen Verhältnissen abhängig sind und dabei – sofern wir entscheiden, uns in ihnen bewegen – nicht abseits der Imperative handeln können. Wert und Verwertung beruhen wesentlich nicht darauf, dass die Kapitalklasse personal über die Arbeitsklasse herrscht, sondern Kapital und Arbeit sind gesellschaftliche Funktionen, die in einem sachlichen Abhängigkeitsverhältnis zueinander existieren und irgendwie personal realisiert werden müssen, ggf. eben von ein und derselben Person oder Gruppe. Kapitalismus ohne Klassenherrschaft geht nicht, aber die Klassenherrschaft ist nicht als personales, sondern als sachliches Abhängigkeitsverhältnis zu begreifen.
Nun führst du das Adjektiv „direkt“ ein, um den Vorrang der Personalität von Herrschaft zu begründen. Schließlich seien es am Ende immer Menschen, die direkt über andere Menschen herrschen. Das trifft auch zu, nur erfasst es das Wesen der von sachlichen Abhängigkeitsverhältnissen bestimmten Herrschaft nicht, sondern ist im Gegenteil Quelle von personalisierenden Umdeutungen dieser Verhältnisse, von Ausgrenzungen, Rassismen, Sexismen etc. Es liegt dann eben nahe, sich direkt gegen Personen zu wenden, die zu Verantwortlichen gemacht werden – „die Bank(st)er“ –, anstatt zu erkennen, dass sich auch diese in einer strukturell begründeten Herrschaftsmatrix bewegen. Das bedeutet überhaupt nicht, dass man sich nicht auch personal wehren soll, das ist absolut notwendig, doch wird damit eben nur „direkt“ die eigene Existenz innerhalb des Herrschaftsverhältnisses verteidigt, das Herrschaftsverhältnis aber selbst nicht berührt. Die personale Funktionalität sachlich begründeter Herrschaft besteht gerade darin, dass es immer welche gibt, die sich „oben“ auf Kosten derer behaupten, die weiter „unten“ sind. Diese Logik gilt von „ganz oben“ bis „ganz unten“, niemand kann sich hier ausnehmen. Es handelt sich um einen strukturell verankerten Herrschaftszusammenhang, der nicht ursächlich personal auflösbar ist. Aus meiner Sicht ist stattdessen die basale Logik selbst, die „wechselseitigen Produktionsbeziehungen“ wie Marx das nennt, qualitativ zu ändern. Dabei ist die Perspektive – auch ohne Geschichtsdeterminismus – von Marx und Engels benannt worden: Statt Verhältnisse, wo sich die Einen stets nur auf Kosten der Anderen durchsetzen können, sind dies solche, in denen „freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ (Kommunistisches Manifest).
Individualität und Peer-Produktion
In meinen Worten reformuliert geht es darum, die Produktionsweise, die auf einer Exklusionslogik basiert und diese erzeugt und dessen Bestandteil die Klassenherrschaft ist, durch eine Produktionsweise aufzuheben, die in einer Inklusionslogik gründet. Die Aufhebung der Klassenherrschaft kann nur gelingen, wenn mit ihr die zugrunde liegende sachlich strukturierte Exklusionslogik mit aufgehoben werden kann. Ein Blick alleine auf die gesellschaftliche Kapital- und Arbeitsfunktion und ihre entsprechenden Klassenrepräsentationen finde ich zu eng. Die Logik der Exklusion speist sich aus wesentlich mehr Quellen, die personale Unterschiede zur Herrschaftssicherung von „ganz oben“ bis „ganz unten“ nutzt: Sexismus, Rassismus, Antisemitismus, Homophobie usw.
Wie soll die gigantische Aufgabe aber gehen? Hier bringt Marx die „freie Individualität“ ins Spiel. Damit kennzeichnet Marx Verhältnisse, die weder personale, noch sachliche Abhängigkeiten kennen. Die einzige Abhängigkeit, die es dann noch gibt, ist bestimmt durch das Verhältnis von menschlichen Bedürfnissen zu den Möglichkeiten ihrer Befriedigung. Doch freie Menschen können sich zu den Begrenzungen auch frei verhalten, das heißt, mit ihnen so umgehen, dass niemand mehr unter die Räder kommt oder sich auf Kosten anderer durchsetzt. Herrschaftsverhältnisse, gleich ob personal oder sachlich strukturiert, lassen das nicht zu. Eine freie Gesellschaft, in der Menschen ihre Individualität frei entfalten, schließt strukturell aus, dass sich die einen auf Kosten anderer durchsetzen. Eine solche inklusive Struktur legt auch individuell einen völlig anderen Fokus nahe, als wir ihn heute kennen: Nicht mehr, wie ich mich gegen andere behaupte, ist mein Bestreben, sondern wie ich Entfaltung der anderen Menschen als meine Entfaltungsvoraussetzung begreife und umsetze, ist die Frage. Von heute aus gesehen mutet das als bloße moralische Anforderung an, ist es aber nicht. Entwickelt sich eine Gesellschaft strukturell auf Grundlage einer Inklusionslogik, so tun es auch die Menschen – und umgekehrt. Es ist dann das Alltägliche wie heute die Ausgrenzung.
Wie das prinzipiell gehen kann, sehen wir bei bei der commons-basierten Peer-Produktion. Dabei handelt es sich um eine Keimform einer neuen Produktionsweise. Obwohl erst im Embryonalstadium, kann man zahlreiche Entwicklungen studieren, die für eine freie Gesellschaft verallgemeinerbar sind. Ich nenne nur schlaglichtartig einige Punkte: Entkopplung von Geben und Nehmen, Beitragen statt Tauschen, Vermittlung der Bedürfnisse ex-ante statt ex-post wie beim Markt, neue Formen der Inklusion und Offenheit. Nachteile und Probleme seien nicht verschwiegen: Inselcharakter, keine Stoffkreisläufe, Dominanz von Immaterialgütern, Abhängigkeit von der alten Verwertungslogik, Import von traditionellen Exklusionsformen u.a.m.
Während sich ein Bild einer freien Gesellschaft in dem Maße entwickelt wie praktisch neue Erfahrungen mit neuen commons-basierten Logiken gemacht werden, ist die Frage der gesamtgesellschaftlichen Transformation nach wie vor unklar. Hier gibt es mehr Fragen als Antworten: Wie können vorhandene Produktionsmittel genutzt werden ohne die vergegenständlichte Logik zu importieren? Diese Frage stellt sich für Universalmaschinen wie einen Computer sicherlich anders als etwa für Spezialmaschinen wie ein Stahlwerk. Wie kann die Bedürfnisvermittlung ex-ante, also vor einer Produktion erfolgen? Wie wird gesamtgesellschaftlich entschieden, was wann und unter Einsatz welcher Ressourcen hergestellt wird? Wir wissen nur, dass es Markt und Staat nicht sind, die das erledigen. Welche neue Institutionen brauchen wir? Wie wird sichergestellt, dass sich institutionelle Eigenlogiken nicht gegen die Bedürfnisse der Menschen wenden?
Diese Fragen stellen sich nicht nur akademisch, sondern für die einzelnen „Inseln“ höchst praktisch. Sie sind den sachlichen Zwängen unmittelbar ausgesetzt und müssen etwa für eine Finanzierung sorgen, obwohl ihnen klar ist, dass langfristig das Geld abgeschafft gehört.
Eine bloß „gradualistische Transformation“, also ein schrittweises Hinüberwachsen von der einen in die andere Logik wird es nicht geben. Wie aber wird sich der notwendige Bruch zwischen der alten und neuen Produktionsweise vollziehen können? Auch hier sind alte Modelle außer Kurs gesetzt, etwa die Vorstellung, mittels Politik über den Staat revolutionär oder reformatorisch die Transformation hinzubekommen. Andererseits wird auch einiges übernommen werden müssen, etwa große stoffliche Infrastrukturen, allein schon aus Ressourcengründen. Wie ist das jedoch mit einem Bruch vereinbar? Kontinuität und Bruch sind also als dialektisches Verhältnis zu begreifen, doch was heißt das?
Viele Fragen, von denen wir die meisten nicht am grünen Tisch beantworten können.
Solidarische Ökonomien
Andreas: Was an den Aspekten von Transformation, die ich schon heute zu erkennen glaube, so spannend ist, etwa in den Solidarischen Ökonomien Boliviens oder in den städtischen Gemeinschaftsgärten der industrialisierten Länder, um nur zwei Beispiele zu nennen, ist, dass die Veränderung von alltäglichen Praktiken ausgeht. Solche Veränderungen haben lange Geschichten.
In diesen alltäglichen Praktiken verändert sich auch das Denken und der Charakter der Menschen. Das ist sogar empirisch gezeigt worden, etwa am Beispiel strategischer Nischen der sozialen Basisinnovation, wie ich sie nennen würde, nämlich an Kooperativen. Das wurde unter anderem an Beispielen in Österreich untersucht. Menschen in solchen Kooperativen sind prosozialer und gleichheitlicher orientiert als Menschen in kapitalistischen Betrieben. Und zwar nicht, weil diejenigen, die von einer Kooperative aufgenommen werden, ohnehin schon eher prosozial und gleichheitlich orientiert sind, sondern weil die kooperativen, gleichheitlichen Produktionsverhältnisse jene Menschen prägen, die sie eingehen. Man darf solche Ergebnisse freilich nicht verabsolutieren, die Produktionsverhältnisse einer Kooperative oder sonst eines Zusammenhangs haben immer eine spezifische Geschichte und eine Feinstruktur, die wesentlichen Einfluss auf das emanzipatorische Potenzial ausübt. Mondragón-Kooperativen etwa zeigen sich weniger solidarisch mit der Belegschaft kapitalistischer Firmen als diese untereinander.
Dennoch würde ich die Bedeutung der Aneignung von Produktionsmitteln recht hoch veranschlagen. Nicht nur, weil man sie stofflich braucht und weil sie eine materielle Basis des Widerstands bieten gegen das Kapital, das, vermittelt über den Staat, ab einem gewissen Punkt einschreitet, werden seine Expansionsmöglichkeiten bedroht, besonders in der Krise. Sondern auch, weil vergleichsweise kleine Schritte der Transformation wichtige Veränderungen des Gesellschafts-Charakters erzeugen können, die weitere Schritte vorbereiten. Und diese Schritte der Transformation vollziehen sich gerade in Prozessen der Aneignung. Der Weg zu einer Kooperative ist daher meiner Meinung nach ebenso wichtig wie ihre interne Struktur, denn die Dynamik und die Perspektive entscheiden über ihren emanzipatorischen Charakter.
Herrschaftsmatrix
Du meinst, die Klassenherrschaft sei nicht aufzuheben ohne dass die ihr „zugrundeliegende“ sachliche Exklusionslogik mit aufgehoben wird. Da stimme ich dir zu, wenngleich ich nicht sehen kann, dass der Klassenherrschaft eine sachliche Exklusionslogik „zugrundeliegt“, wenn man damit ein historisches Prius oder eine logische Voraussetzung ansprechen wollte. Diese sachliche Exklusionslogik setzt der Staat fortlaufend ganz unsachlich in der sachlichen Form des Privateigentums durch. Er ist die Instanz der direkten Gewalt, die das Kapital benötigt. Die indirekte, sachlich erscheinende Gewalt des Geldes besteht nicht ohne die direkte Gewalt.
Die „sachliche Exklusionslogik“ ist in der Tat eine strukturell begründete Herrschaftsmatrix. Allerdings würde ich, das habe ich schon erwähnt, auch den Feudalismus als eine strukturell begründete Herrschaftsmatrix begreifen. „Direkte Herrschaft“ ist somit nicht eine Umschreibung für den Begriff der „persönlichen“ Herrschaft. Wie gesagt halte ich die Entgegensetzung von „persönlicher“ und „abstrakter“ Herrschaft nicht für überzeugend, denke jedoch, dass eine Unterscheidung von direkter und indirekter Herrschaft sinnvoll sein könnte.
Herrschaft ist nicht souverän im Sinne von selbstbestimmt, das ist wichtig festzuhalten. Ich glaube, das siehst du, wenngleich aus anderen Gründen, ähnlich. Herrschaft ist erstens Ergebnis psychischer Formierungen, die mit den Produktionsverhältnissen in Wechselwirkung stehen, und zweitens der Zuspitzung von Abhängigkeit. Herrschaft ist der wesentliche Grund für die Aufrechterhaltung eines Systems, das ihre Reproduktion ermöglicht, sei es kapitalistisch oder feudal. Das klingt tautologisch, und so ist es auch gemeint. Herrschaft hat keinen anderen Sinn als ihre eigene Reproduktion. Sie ist nicht ein Mittel für etwas anderes, Genuss zum Beispiel. Herrschaft ist lebens- und genussfeindlich. Sie ist in die Produktionsverhältnisse eingeschrieben, reproduziert sich in ihnen und erwächst aus ihnen immer neu.
Viel ist über den anscheinenden Selbstzweck der Kapitalverwertung geschrieben worden. Und in der Tat, an der Oberfläche des Marktes betrachtet macht G–W–G’ keinen Sinn, sie erscheint wie ein automatisches Subjekt, eine metaphyische Wesenheit, etwas ganz Unbegreifliches. Ich denke allerdings, dass die soziale Form des Kapitals eben genau das ist: die strukturell begründete Matrix der Herrschaft. Die Herrschaft selbst hat einen ganz einfachen und klaren Zweck: sich zu reproduzieren. Kapitalisten trachten danach Kapitalisten zu bleiben – ich unterstelle hier, wie gesagt, keinen freien, souveränen Willen. Und sie trachten nach dem Triumph über die Konkurrenz, um ihre Position in der Statushierarchie zu wahren und zu verbessern. Sie unterliegen damit, wohlgemerkt, einem gesellschaftlichen Zwang. Dem zu gehorchen fördert keineswegs Freude und Genuss. „Arbeit“ ist das allerdings auch nicht, sonst würden Kapitalisten Mehrwert produzieren, was sie nicht tun.
Zurück zum Selbstzweck der Reproduktion der Herrschaftsposition. Zur Verwirklichung dieses Zwecks müssen sich die Mitglieder der herrschenden Klasse dem Akkumulationsimperativ fügen, der unabhängig von ihrem kollektiven Willen wirkt. Es stimmt, dass diese Herrschaftsstruktur sich unglaublich fein verästelt, etwa in den Einkommensdifferenzen. Allerdings halte ich die Klassenspaltung für ihre Grundlage.
Ohne Klassenspaltung gibt es auch keine Marktwirtschaft, Markt und Kapital gehören zusammen.
Der Wert ist in der Tat kein Trick der Kapitalisten, da gehen wir konform. Er ist allerdings auch kein einfaches Verhältnis von Dingen, Dinge können kein Verhältnis eingehen. Der Wert erscheint wie ein Verhältnis von Dingen, und dieses Verhältnis scheint paradoxerweise materielle Macht auszuüben. Tatsächlich ist der Wert aber ein gesellschaftliches Verhältnis, eine Beziehung zwischen Menschen, wenngleich in dinglicher Gestalt. Er ist weder ein physikalisches noch ein psychisches Phänomen. Daher der Begriff des Fetischismus, der Wert ist eine eigene Gegenstandskategorie, wenn man so will. Ich spreche hier von der Wertform – du sprachst oben den Wert als Verhältnis der gesellschaftlich durchschnittlich notwendigen Arbeitszeit, also seine Substanz und Größe an.
Jedenfalls: Weil ich die Herrschaftsverhältnisse für letztlich bestimmend halte und das Kapital als Herrschaftsverhältnis begreife, erwarte ich mir vom Zusammenbruch kapitalistischer Produktionsverhältnisse alleine noch nichts Gutes. Herrschaft wird sich weiterhin zu reproduzieren trachten – ob nun in der Form des Kapitals, in einer Art postmodernem Feudalismus oder in welcher anderen Form auch immer. Das ist eine große Gefahr, und die sollte man sehen.
Gemeingüterbasierte Produktionsweisen wie die Peer-Produktion im Bereich Freier Software sind nicht allein nicht-kapitalistisch, sie sind auch in gewissem Ausmaß herrschaftsfrei – wenn man ihren Kontext mal vergisst, der da hineinwirkt und auch die Peer-Produktion in bestimmter Weise formt. Das ist meines Erachtens wesentlich. Das gilt aber auch für Kooperativen, mitsamt ihrer zumeist sehr widersprüchlichen Einbindung in den Markt. Ich sehe keine wesentlichen Unterschied zwischen freier Software-Produktion und einer Kooperative, die sagen wir Waschmaschinen herstellt – mit Ausnahme des Umstands, dass die Kooperative die für ihr Produkt unmittelbar notwendigen Produktionsmittel kollektiv angeeignet hat.
Dass Freie Software nicht verkauft wird, die Waschmaschinen jedoch schon, scheint mir dagegen keine wesentliche Differenz zu sein. Denn diese Software wird ja nur deshalb nicht verkauft, weil die Kosten ihrer Produktion, die notwendige freie Zeit, die Computer etc., über die Lohnjobs der Programmierenden gedeckt sind. Das heißt nicht, dass ich den Software-Produzentinnen unterstelle, ihr Motiv wäre der Verkauf. Die machen das vielmehr aus Freude und Verantwortung. Ich möchte damit allerdings sagen: Man kann auf den Verkauf dann verzichten, wenn eine Quersubventionierung möglich ist. Eine andere Möglichkeit besteht darin, Kooperationen einzugehen, die den Markt auflösen. Das freilich ist genau der notwendige qualitative Sprung. Auch Kooperativen, die materielle Güter herstellen, schaffen das nur in sehr wenigen Fällen und in begrenztem Ausmaß. Es scheinen mir insbesondere solche Kooperativen, die aus sozialen Kämpfen heraus entstehen, solche Beziehungen zu entwickeln. Etwa besetzte oder „wiedergewonnene“ Betriebe. Das zeigt meines Erachtens das transformative Potenzial sozialer Kämpfe.
Warum ist der Aspekt einer Bewegung von Kooperativen so wichtig, meiner Meinung nach?
Erstens wachsen in dieser Bewegung die Fähigkeiten und auch die Möglichkeiten der Kooperation. Zweitens entspringt das Wachstum einer Bewegung von Kooperativen, die transformatorische Perspektiven aufmacht, schon dem Bruch mit Marktprinzipien und staatlicher Intervention. Denn diese Bewegung braucht Produktionsmittel, die sie weder als Geschenk erhält, noch in größerem Umfang kaufen kann. Der Markt macht sich drittens ab einem gewissen Punkt ihrer Entwicklung als innerer Widerspruch und äußere Barriere bemerkbar, was die Ausweitung der Kooperation fördern kann, sodass Marktverhältnisse zwischen den Kooperativen, sofern sie noch bestehen, aufgelöst werden. Diese Barriere wird aber nicht zwangsläufig überwunden, einzelne Kooperativen oder eine kooperative Bewegung können sich wieder in die bürgerlich-kapitalistischen Formen integrieren.
Sicherlich zeigt das Selbstunternehmertum nicht das Verschwinden der Klassenspaltung an, nur um das klar zu sagen. Die Klasse ist, so denke ich, keine „personale“ Kategorie. Nur um kein Missverständnis meiner Position aufkommen zu lassen. Es ist ganz gleichgültig, ob die Eltern eines Kapitalisten Kapitalisten waren oder er selbst als Tellerwäscher begonnen hat.
Klassenkampf und die „fiktive Ware“ Arbeitskraft
Für die Transformation ist, wie ich denke, der Klassenkampf wichtig. Da haben wir allerdings mit Sicherheit unterschiedliche Begrifflichkeiten. Das beginnt schon damit, dass ich den Klassenkampf nicht ökonomistisch verstehe – ebenso wenig wie das Kapital. Silvia Federici etwa hat, so glaube ich, gezeigt, dass das Kapital zugleich patriarchal und sexistisch strukturiert ist.
Meines Erachtens gründet der Klassenkampf auf dem Widerstand dessen, was im Kapitalverhältnis eben nicht aufgeht und nicht aufgehen kann und ist damit der Ankerpunkt von Emanzipation überhaupt. Dieser Widerstand ist immer spontan, nicht das Produkt von Manifesten oder Parteien. Klassenkampf ist dieser Widerstand nicht, weil sich zwei soziologisch homogene Blöcke irgendwo gegenüberstehen, schon gar nicht physisch, sondern weil dieser Widerstand systematisch, also strukturell notwendig entlang der Klassenspaltung entsteht, die das Kapital konstituiert.
Der Klassenkampf lässt sich meiner Meinung nach nicht auf einen immanenten Interessenkampf reduzieren. Ein Kampf, besser: ein Antagonismus immanenter Interessen, der also die Identität des Individuums mit der gesellschaftlichen Form voraussetzt, besteht zwischen Käufer und Verkäufer, und zwar, meines Erachtens, lediglich am Markt für Produktionsmittel. Am Markt für kapitalistisch hergestellte Konsumgüter kaufen die Lohnabhängigen lediglich einen Teil ihres Produkts zurück, sie erneuern die Abhängigkeit vom Kapital.
Betrachten wir den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit: Der Punkt ist hier, dass im Grunde der „Arbeitsmarkt“ kein Markt ist, die „Arbeitskraft“ keine Ware und die Arbeit kein Tausch. In Termini der bürgerlichen Ökonomie ausgedrückt sehr wohl. Aber das ist Ideologie, die man dechiffrieren muss. Karl Polanyi nannte die Arbeitskraft daher eine „fiktive Ware“.
Erstens ist das Ziel der arbeitenden Klasse primär nicht, Lohn zu erhalten. Wenn man um den Lohn nichts kaufen kann, ist er kein Ziel des Klassenkampfes. Der Lohn dient einem anderen Zweck, der Aneignung eines Teils des Produkts der arbeitenden Klasse, der zum Leben notwendig ist. Dieser Zweck, die Aneignung von Lebensmitteln, bleibt auch im Kommunismus bestehen, wird dann aber freilich kollektiv und ohne Marktvermittlung realisiert. Sekundär kommt der Lohn zum Zweck eines differenzierten Statuskonsums zum Einsatz und stabilisiert damit die Klassenspaltung. Der Profit des Kapitalisten ist dagegen vorrangig ein Mittel um seine Statusposition zu reproduzieren und erst in zweiter Linie das Einkommen, das sein Leben ermöglicht. Dafür würden ja auch der Lohn oder die Subsistenzproduktion genügen oder der Kommunismus.
Weil der Klassenkampf-von-unten nicht im Kapital aufgeht, kann er sich unter bestimmten Bedingungen auf die Aneignung der Produktionsmittel richten, von Fabriken, Land, etc.
Zweitens hat der Klassenkampf ein „Interesse“ im ökonomischen oder politischen Sinn gar nicht zur Voraussetzung. Ich spreche hier, nota bene, einmal ausschließlich vom Kampf zwischen arbeitender und kapitalistischer Klasse. Das ist allerdings weniger als die halbe Story. Meines Erachtens ist der Kampf zwischen den bäuerlich Produzierenden und dem Kapital sowie dem Kleinbürgertum, der so genannten Mittelschicht, wozu man wohl die unternehmerischen Farmer rechnen muss, wichtiger.
Analytisch ist der Klassenkampf meines Erachtens also nach wie vor eine wichtige Kategorie. Man muss dazu allerdings den Blick von oben, den Blick der herrschenden Klasse, der Partei, der intellektuellen Avantgarde oder des Kapitals mitsamt dem Co-Management der Gewerkschaft, aufgeben. Wie auch immer man dieses Moment nennen will, Demonetarisierung als eine emanzipatorische Perspektive hat es nicht nur mit Nischen sozialer Basisinnovationen zu tun, sondern ebenso mit der Frage der Aneignung von Produktionsmitteln verschiedener Art.
Deine Ausgangsfrage war, wie die Widersprüche in der Übergangsphase beschaffen seien, und wie gewährleistet werden kann, dass sich die „nach vorne“ hin auflösen. Entscheidend ist für mich, dass die Bewegungen der Demonetarisierung-durch-Aneignung sich gegen die Institutionalisierung in Parteien, im Staat, und gegen das Kapital richten. Der Aufbau des Neuen und die Ablehnung dieser Elemente des Alten sind ein- und dasselbe, von zwei Seiten aus betrachtet.
Wie siehst du das Verhältnis demonetarisierter, herrschaftsfreier Produktionsverhältnisse und der Aneignung dafür nötiger Produktionsmittel? Woher kommen deiner Meinung nach die sozialen Kräfte, die eine solche Aneignung vollziehen und stabilisieren – wenn du eine Aneignung überhaupt für notwendig hältst.
(→Teil 4 und Schluss)