Geld raubt Leben und schränkt unsere Freiheit ein
[erschienen in “Der Standard” vom 13. Juli 2012, im “Kommentar der Anderen”, online hier]
Kéllia Ramares-Watson
Geld wurde erfunden um kommerzielle Transaktionen zu vereinfachen. Zuerst diente Geld als Mittel zum Tausch und Wertmaßstab, es war ein Symbol. Was zählte waren die Dinge, die getauscht oder deren Wert gemessen wurde. Doch dann begann Geld ein Eigenleben anzunehmen. Wie schon der Schriftsteller E.M. Forster sagte: „Eine der Übel des Geldes ist, dass es uns dazu verführt, auf es zu mehr zu achten als auf die Güter, die es kauft.“ Geld ist zum Über-Wert geworden, der über alle anderen Werte verfügt: Stoffe wie Nahrungsmittel, Kleidung und Behausung, Dienstleistungen wie Bildung und Unterhaltung, psychisches Wohlbefinden wie Status und Sicherheit.
Die Nachrichten sind voll über den Skandal der Manipulation des LIBOR, das ist jener Zinssatz, mit dem Banken einander Geld über Nacht verleihen. Einige der weltgrößten und bekanntesten Finanzinstitutionen, darunter Barclay’s, Deutsche Bank, Goldman Sachs und J.P. Morgan Chase, sind darin verstrickt. In einem Bericht darüber notierte Washington’s Blog: „Dem CIA World Factbook zufolge umfasst die Weltökonomie, gemessen am Weltbruttoprodukt, weniger als 80 Billionen US-Dollar. Im Unterschied dazu sind Investments im Wert von mehr als 800 Billionen US-Dollar an den LIBOR gekoppelt. In anderen Worten, der LIBOR beeinflusst einen Markt, der mehr als 10 Mal größer ist als die gesamte Weltökonomie“. Der Markt für Finanzderivate umfasst in etwa 1.200 Billionen US-Dollar.
Das heißt, der Handel mit bloßem Papier oder Computerpixels ist weitaus bedeutender als sich der realen Produktion zu widmen wie etwa dem Hausbau oder der Landwirtschaft. Wir sind heute Zeugen des verzweifelten Versuchs von Regierungen und Finanzinstitutionen überall auf der Welt, dieses monetäre System aufrecht zu erhalten, das ein System von Schuld und Zinsen ist, ohne Rücksicht darauf, wieviele Menschen seine Konsequenzen erleiden. Während die Europäische Union also versucht, den Euro über Wasser zu halten, und gewisse Banken in den USA sich selbst als „too big to fail“ einschätzen, nehmen Selbstmorde aufgrund von finanziellem Stress weltweit zu.
Das Center for Human Rights and Global Justice der NYU School of Law hat 2011 berichtet, dass in den letzten 16 Jahren mehr als eine Viertelmillion indischer Bauern Selbstmord verübten und dass 2009, dem letzten Jahr, wofür offizielle Zahlen zur Verfügung stehen, 17.638 Bauern Selbstmorden zum Opfer fielen. Dabei unterschätzt diese erschreckende Zahl noch das wahre Ausmaß, denn sie unterschlägt jene, die keine legalen Landrechte haben, was vor allem Frauen betrifft. Eine große Zahl der Opfer sind Cash Crop-Farmer, insbesondere Baumwollproduzenten. Genau das sind die angeblichen Gewinner der „Grünen Revolution“, denen man höhere Erträge und mehr Einkommen durch den Einsatz gentechnisch veränderter Organismen versprochen hat, die aber tatsächlich unter der Last uneinbringbarer Schulden zusammenbrechen, aufgrund von Ernteausfällen und der weitaus größeren Kosten industrieller Produktionsinputs.
Selbstmorde nehmen wegen der Kürzungsmaßnahmen auch in Griechenland und Italien zu. Trotz des großen Einflusses der griechisch-orthodoxen und der römisch-katholischen Kirchen in diesen beiden Ländern, die Selbstmorde als Sünde betrachten. „Kürzungen treiben Selbstmordrate im hochverschuldeten Griechenland in die Höhe“, so titelte etwa ein Artikel auf CNN.com vom 6. April 2012. Angaben des Gesundheitsministeriums zufolge schnellte die Selbstmordrate im Vergleich zu den ersten fünf Monaten des Vorjahres um ganze 40% nach oben.
In den USA, dem Vorzeigefall für die Zerstörung individueller Leben durch das monetäre System, hat die Verschuldung von Studenten bereits 1 Billion US-Dollar überschritten. Studierende, die von exzessiven Ausbildungsschulden belastet sind und kaum Jobs in Aussicht haben, nehmen sich häufig das Leben. In einem Beitrag über Selbstmord unter Studierenden mit dem Titel „The One’s We’ve Lost: The Student Loan Debt Suicides“, zitiert Cryn Johannsen die American Association of Suicidology (APS): „Es gibt eine klare und direkte Korrelation zwischen der Arbeitslosen- und der Selbstmordrate. Ein Jahr nachdem die Arbeitslosenrate 25% aller Beschäftigungssuchenden erreicht hatte, erreichte die Selbstmordrate 1933 ihren Gipfelpunkt. Ähnliche Ergebnisse sind international dokumentiert. Arbeitslose haben eine zwei- bis vierfach höhere Selbstmordrate als Beschäftigte. Es ist gut bekannt, dass ökonomischer Stress und persönliche Finanzkrisen Selbstmorde auslösen.“
Der Zwang zu Geldeinkommen tötet nicht nur, er schränkt auch unsere Freiheiten in vielfältiger Weise ein. Wir verlieren die Freiheit, wir selbst zu sein. Tatsächlich ist unsere Arbeit nicht der wahrhaftige Ausdruck unserer Persönlichkeiten, Talente und Interessen, sondern eher ein Zeichen dafür, wie gut wir uns dem oft manipulierten Markt andienen, der seine Moden oder die Nachfrage nach bestimmten Qualifikationen häufig ändert, während wir gerade inmitten einer Ausbildung stecken oder einen Job suchen. Wieviele der Leserinnen und Leser dieses Essays arbeiten denn in einem Job, der dem entspricht, wer sie wirklich sind?
Eine monetarisierte Welt beraubt uns der Würde als menschliche Wesen. Der Wunsch oder die Notwendigkeit Geld zu besitzen treibt uns zu Verhaltensweisen, die nicht authentisch sind, dafür jedoch den Sanktus jener erhalten, die uns mit Geld für solche Verhaltensweisen belohnen können. Wie groß ist der Unterschied zu dem Leiden eines Zirkustieres, das für einen Happen Futter auf ein paar Tricks trainiert wird, und das man grausam bestraft, wenn es sich der Kooperation mit dem Trainer verweigert?
Menschen verharren in unsicheren, diskriminierenden oder in anderer Hinsicht ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen aus dem schlichten Grund, weil sie es sich nicht leisten können zu kündigen. Der jüngste Skandal der Ausbeutung chinesischer Arbeiter durch einen Apple-Zulieferer ist da nur ein kleines Beispiel. Wir im Westen kaufen soviele überteuerte, glänzende Gadgets auf Kosten von Menschenleben im Osten.
Geld schränkt auch unsere Freiheit zu lernen ein. In den USA, aber auch in vielen anderen Ländern sind Bildung und Ausbildung so teuer geworden, dass es Erwachsenen, die etwas Neues lernen wollen, oft unmöglich geworden ist.
Und Geld hat uns auch um unsere politische Freiheit gebracht. Wirkliche Demokratie beruht auf dem Prinzip „eine Person, eine Stimme“. Doch in der Realität gilt vielmehr eine andere goldene Regel: Wer Gold hat, macht die Regeln. Das trifft insbesondere auf die USA zu, wo der Oberste Gerichtshof Unternehmen zu Personen mit verfassungsmäßigen Rechten erklärt hat, darunter das Recht auf freie Meinungsäußerung, was die Beeinflussung von Wahlen durch Parteispenden inkludiert.
Warum müssen wir für das Leben auf dem Planeten zahlen, auf dem wir geboren wurden? Warum müssen wir unser Leben erst „verdienen“? Leben wir noch nicht? Wer hat das Recht, anderen menschlichen Wesen den Zugang zu den Mitteln des Lebens zu verweigern, nur weil er oder sie nicht über die Mittel verfügt, sie zu kaufen? Ich glaube aus tiefstem Herzen an die großen Worte von Thomas Jefferson in der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung: „Wir befinden diese Wahrheiten für unmittelbar einsichtig: dass alle Menschen gleich geboren sind (…).“ Wer unterwürfig und anderen dienstbar ist, ist jedoch nicht gleich. David Korten, Mitbegründer des Magazins „Yes!“ meint dementsprechend: „Geld ist ein System der Macht. Je mehr unsere Leben von Geld abhängen, desto größer ist unsere Unterwürfigkeit unter jene, die die Schaffung und Verteilung von Geld kontrollieren.“
Geld verschleiert eine fundamentale Wahrheit: Wir sind gleich, trotz unserer vielen oberflächlichen Unterschiede. Wir kommen nackt in diese Welt, hilflos, aus dem Bauch einer Frau, und wir alle gehen durch den gleichen Prozess der Reifung, wir krabbeln bevor wir gehen, wir gehen bevor wir laufen und so fort. Alle Menschen sterben, ob reich oder arm, und kein Reicher kann etwas von seinem Reichtum mitnehmen. Noch der vermögendste Mensch ist sterblich!
Geld schafft Knappheit, wovon ein großer Teil ganz einfach wegfallen würde, wenn Geld nicht eine sehr ungleiche Verteilung erzwänge. Wo es wirklichen Mangel gibt, wie bei bestimmten natürlichen Ressourcen, müssen wir dagegen lernen, sie nach Bedürfnissen zu verteilen, nicht nach dem Besitz von Geld. Auch wenn manche meinen, Geld wäre notwendig um knappe Ressourcen zu allozieren, so ist doch offenkundig, dass die Rationierung über den Preis in vielen Fällen unwirksam ist. Eine Person mit ausreichenden finanziellen Mitteln und dem Hang zur Verschwendung einer Ressource wird sich um Ökosteuern oder Strafen nicht viel kümmern. Und eine Person, die eine Ressource wirklich benötigt, wird sie nicht bekommen, weil es ihr an Zahlungsfähigkeit ermangelt. In einer demonetarisierten Gesellschaft können limitierte Ressourcen erstens nach Bedürfnis verteilt werden und zweitens, bei gleichen Bedürfnissen, durch die wechselseitige Übereinkunft, sie zu teilen.
Nun glauben manche, dass es ohne Geld keinen Anreiz mehr zur Arbeit gäbe. Und in der Tat: Geld ist ein grandioser Anreiz für das Kriegshandwerk. Für friedliche Zwecke allerdings sieht das anders aus. Antoine de Saint-Exupery drückte das auf unnachahmliche Weise in folgendem Bild aus: „Wenn du ein Schiff bauen willst, treib die Leute nicht zusammen um Holz zu beschaffen, teile sie nicht ein um die notwendigen Arbeiten zu erledigen. Lehre ihnen vielmehr die Sehnsucht nach den endlosen Weiten des Meeres.“ Wir alle haben das Recht, aus Leidenschaft zu arbeiten anstatt aus Angst davor, kein Geld zu haben, wenn wir nicht tun was andere Leute von uns verlangen.
Die Wertschätzung der Vielfalt menschlicher Wesen, nicht nur in Begriffen ethnischer Identität, Geschlecht oder Religion, sondern auch als Vielfalt von Interessen und Fähigkeiten, wird eine solche Kombination aus Gütern und Dienstleistungen hervorbringen, die gleichermaßen ihren individuellen wie ihren gesellschaftlichen Bedürfnissen und Wünschen entspricht. Auf der Grundlage des Geldes dagegen, und insbesondere unter den Bedingungen der Globalisierung, erleben wir eine wachsende ökonomische Monokultur. Sie braucht gar nicht Produkte von uns allen, und doch verlangt sie von uns allen, Produzent zu sein, um zu überleben, oder jedenfalls die notwendigen familiären Beziehungen zu haben. Deshalb bekommen jene, die der Markt nicht will, und die nicht über solche Beziehungen verfügen, wenig oder gar nichts. Auf diese Weise Menschen einfach wegzuwerfen ist grausam, ungerecht und unmoralisch. Überwinden wird daher das Geld, bevor es uns überwindet!
Kéllia Ramares-Watson ist unabhängige Journalistin in Oakland, Kalifornien, USA. Sie arbeitet zur Zeit an einem Buch zur Demonetarisierung. Ihre Website ist The End of Money (https://endmoney.info). Sie ist Mitglied der Plattform https://demonetize.it
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