Solidarität wär´ eine prima Alternative. Oder: Brot, Schoki und Freiheit für alle
von Friederike Habermann
Beitrag aus den papers der Rosa Luxemburg-Stiftung
1. Solidarität als Bedrohung der Freiheit?
„Die Folterer wussten, wie wichtig ihren Gefangenen Solidarität war, und sie machten es sich zur Aufgabe, diesen Impuls zum sozialen Zusammenhalt aus ihnen herauszuschocken“. Folter als ´Heilung´ betitelt Naomi Klein 2009 einen Unterabschnitt ihres zweiten Bestsellers Die Schock-Strategie, in welchem sie den systematischen Zusammenhang zwischen Elektro-schocks als Foltermethode und Wirtschaftsschocks als Durchsetzungsstrategie neoliberaler Politik im Rahmen der Diktaturen in Chile, Brasilien, Argentinien und Uruguay beschreibt (2007: 160f). Die Folterer seien weniger an Informationen interessiert gewesen, so berichteten ehemalige Gefangene; sondern
„Zweck der Übung war, Gefangene dazu zu bringen, demjenigen Teil ihres Selbst irreparablen Schaden zuzufügen, der fest daran glaubte, dass man vor allem für andere da sein müsse […]. Unter solchen Umständen bestand das Aufbegehren der Gefangenen aus kleinen freundlichen Gesten untereinander, beispielsweise wenn sie einander Wunden versorgten oder sich rares Essen teilten; kamen solche Akte der Zuwendung heraus, wurden sie hart bestraft. Die Gefangenen wurden angestachelt, sich so selbstsüchtig wie möglich zu verhalten; ständig bot man ihnen Teufelspackte an; so konnten sie sich zwischen mehr unerträglichen Folterqualen für sich selbst oder mehr Folter für einen Mitgefangenen entscheiden. In einigen Fällen wurden Gefangene so sehr gebrochen, dass sie bereit waren, die picana [einen Elektrostock] an ihre Mitgefangenen zu halten oder vor Fernsehkameras ihren früheren Über-zeugungen abzuschwören. Solche Gefangene stellten für die Folterer den höchsten Triumpf dar: Sie hatten nicht nur der Solidarität abgeschworen, sondern sich […] auch der halsbrecherischen Ethik unterworfen, die dem Laissez-faire-Kapitalismus zugrunde liegt“ (Klein 2007: 161).
Grundlage dieser Wirtschaftstheorie ist der homo oeconomicus. Im Fremdwörterbuch des Dudens (2005) wird er beschrieben als, erstens, „der ausschließlich von wirtschaftlichen Zweckmäßigkeitserwägungen geleitete Mensch“. Damit verbunden erscheint umso interessanter die zweite Definition: „gelegentlich Bezeichnung des heutigen Menschen schlechthin“. In Lateinamerika stellten die oben geschriebenen Folterungen nur einen extremen Ausdruck eines allgemeineren Prozesses der ´Rekonstruktion´ der Menschen dar. Daniel Fridman (2010) beschreibt diesen für den gleichen Zeitraum in seinen alltäglichen Ausformungen in ´A new mentality for a new economy: performing the homo economicus in Argentina (1976-83)´.
Dass sich die Akzeptanz des ökonomischen Modells erhöht habe, gelte als Tatsache, so auch Gebhard Kirchgässner in dem Vorwort seines Buches Homo Oeconomicus (2000: VII). Dies ist für ihn nicht negativ belegt:
„Man kann zunächst darauf hinweisen, dass der homo oeconomicus so un¬sympathisch vielleicht gar nicht ist. Soweit er zu seinem ´Nächsten´ nicht in einer besonderen Beziehung steht, bedeutet es ihm zunächst nichts, ob es ihm gut oder schlecht geht. Er blickt weder mit Neid noch mit Schadenfreude auf ihn, er erfreut sich aber auch nicht an seinem Wohlergehen. Er verhält sich wie der Priester und der Levit im Gleichnis vom barmherzigen Samariter aus dem Lukas-Evangelium, die den Mann, der unter die Räuber gefallen war, sahen und vorbeigingen“ (Kirchgässner 2000: 47).
Kirchgässner bezeichnet dies als „gegenseitig desinteressierte Vernünftigkeit“ (ebd.). Dumm nur für den anderen, wenn keine besondere Beziehung besteht und er verblutend am Wegesrand liegengelassen wird – es könnte argumentiert werden, dies sei noch unsolidarischer als aus Angst vor eigener Folter zu foltern.
Dabei ist der homo oeconomicus theoretisch durchaus fähig, Altruismus als individuelle Präferenz einzubeziehen, denn die Wirtschaftstheorie erklärt auch noch Altruismus und Selbstaufopferung mit dem größeren individuellen Nutzenzuwachs, der den Gewinn, sich ´gut´ zu fühlen, in der individuellen Präferenz höher bewertet als den Verlust an materiellen Werten. Das ist nicht ganz falsch – es macht aber die Unterschiede zwischen offenem egoistischen Verhalten und einem derartig impliziten hinfällig. Wo Solidarität (oder gar Liebe) gesehen werden könnte, bleibt nur noch die individuelle Nutzenfunktion – während die meisten von uns es doch lieber mit Menschen zu tun haben, deren Nutzenkurve sich etwas indirekter steigern lässt als durch offenen Egoismus.
In seiner indigenen Kultur entspräche die mit dem Kapitalismus verbundene Lebensweise einem ´permanenten Kriegszustand´ – diese Charakterisierung durch einen Referenten aus Peru im Rahmen des Europäischen Sozialforums in London kommt mir oft in den Sinn. Dabei bezog er sich auf die unsolidarische Umgangsweise, aber auch auf die pausenlose Aufbietung aller Kräfte – statt uns selbst und anderen Entspannung zu gönnen.
Doch sollte uns das Bild indigener Gemeinschaften nicht in die Irre führen. Es entspricht zu sehr der verbreiteten Vorstellung, andere Formen des Wirtschaftens seien zwangsläufig mit engen Gemeinschaften und hohem sozialen Druck verbunden.
Nicht zufällig wird das Wort Gemeinschaft gerne von Regierungen benutzt: um sich von staatlichen Aufgaben fern, und konservative Werte hoch zu halten. Doch es ist gerade diese Wärme des Begriffs, die KritikerInnen frösteln lässt. Sie suchen nach einem Gemeinschaftssinn, welcher nicht darauf aufbaut, angeblich ganzheitliche Subjekte zu einem konstruierten Ganzen zusammenzubringen. Ganz in diesem Sinne schreibt Giorgio Agamben in La cómunitá che viene / Die Gemeinschaft im Kommen von einer inessentiellen Gemeinschaftlichkeit, einer Solidarität, die an keine essentielle Gemeinsamkeit gebunden sei. Die Vereinigung in einer Gemeinschaft, so auch der französische Philosoph Jean-Luc Nancy, welche auf einem Sein beruhe, das bekannt und vorausgesetzt sei, verhindere ein Werden neuer und noch ungedachter Möglichkeiten des Seins.
Gebhard Kirchgässner beschreibt in seinem bereits zitierten Buch über den Homo Oeconomicus das Menschenbild der klassisch-liberalen Wirtschaftstheorie als entscheidenden Vorteil gegenüber historisch-materialistischen:
„Die moderne ökonomische Theorie unterscheidet sich aber vom Marxismus … in einem zentralen Punkt: Sie geht von einem realistischen Menschenbild aus und nimmt die Menschen mit ihren Wertvorstellungen (Präferenzen) als gegeben hin. Sie versucht nicht, sie zu ´verbessern´, bzw. behauptet nicht, dass sie unter anderen Bedingungen ´besser´ werden. Andere ökonomische Verhältnisse führen nicht dazu, dass aus egoistischen (bösen) altruistische (gute) Menschen werden, sondern unter geänderten Rahmenbedingungen handelt der gleiche alte Mensch“ (2000: 27).
Entgegen den Äußerungen Kirchgässners sieht paradoxerweise die Realität heute anders aus: Statt der äußeren Welt versuchen die meisten Menschen, sich selbst so zu verändern, dass sie in die gesellschaftlichen Strukturen hineinpassen – was übrigens selbst eine hohe Form sozialen Druck darstellt. Doch in einem hat er recht: Marx erkannte tatsächlich die Individuen der ´bürgerlichen Gesellschaft´ als die Subjekte eben dieser Gesellschaftsform, und ebenso, dass der Besitzindividualismus keine universelle Konstante menschlicher Existenz, sondern nur eine Subjektivierungsform ist.
Es ist keine Überraschung, dass Wirtschaftsstudierende in der Regel die ersten sind, die in Experimenten Kooperationsspiele aufkündigen und die unkooperative Strategie beginnen: Es ist das, was sie tagtäglich lernen. Dass die Wirtschaftstheorie dieses Jahrtausends endlich auch die Erkenntnis zulässt, dass Menschen sich nicht immer ausschließlich danach verhalten, welche ihrer Handlungsmöglichkeiten ihren Kontostand numerisch erhöht, zeigt nur, dass sich Menschen auch nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten nicht ungebrochen einer Ideologie anpassen. Doch eine Prägung bleibt nicht aus. Konkurrenz, die Reduktion des Lebens auf Verwertbarkeit und Egoismus ist das, was wir alle tagtäglich lernen.
Das heißt nicht, dass es jenseits der gesellschaftlichen Verhältnisse nichts geben kann, was uns ausmacht – dennoch sind wir in unseren Persönlichkeiten nicht unabhängig von der Gesellschaft, die uns prägt, zu denken. Und obwohl es darum keinen natürlichen Zustand des Menschseins geben kann, heißt das nicht, dass es nicht Bedürfnisse in Lebewesen gibt, die sich zwar in jeder Gesellschaft anders formen und ausdrücken, die auch durch Folter oder bereits durch die Vermittlung anderer Werte zerrieben werden können, aber dass diese Bedürfnisse eine ´Realität´ besitzen: das gilt für essen, schlafen, lieben, dem Wunsch, nicht nur alleine zu sein, und, wie gerade jüngere Forschungen belegen, auch für Gerechtigkeitssinn. Und damit Solidarität.
Solidarität könnte für die Zukunft zu einem Begriff werden, der die Form eines neuen gesellschaftlichen Zusammenlebens umschreibt, die weder auf individuellen Egoismen beruht noch auf Kuschelrunden oder Gemeinsamkeiten, die aber von struktureller Gemeinschaftlichkeit (Stefan Meretz) geprägt ist. Karl Marx und Friedrich Engels meinten wohl das Gleiche, als sie im Kommunistischen Manifest ihr gesellschaftliches Ideal umschrieben: „eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ (MEW 4: 482).
Freie Entfaltung klingt heutzutage vielleicht nach Selbstverwirklichung und damit nach Coaching-Wochenenden, und Freiheit gilt als gerade das, weshalb Sozialismus – wobei Staatskapitalismus gedacht wird – nicht möglich sei. Wie wenig jedoch Freiheit und Kapitalismus miteinander zu tun haben, verdeutlicht ein kleines Gedankenexperiment des Philosophen Jerry Cohen: Man stelle sich eine Welt vor, in der nach dem Zufallsprinzip Gutscheine verteilt werden. Auf diesen stehen Rechte geschrieben: das Recht, die kranke Mutter zu besuchen; das Recht, irgendwo zu wohnen; das Recht auf Behandlung im Krankheitsfalle; das Recht zu essen. Dabei sind die Gutscheine noch einmal unterschieden: in das Recht auf Plattenbausiedlung oder Villa am See, in das Recht auf Graubrot oder 5-Gänge-Menü. In dieser Welt darf nur getan werden, was auf den Gutscheinen steht. Nun ist durchaus niemand gezwungen, ein 5-Gänge-Menü zu sich zu nehmen, und falls doch, so genießt sie bei der Auswahl der einzelnen Gänge weitgehende Freiheit. Doch wenn Menschen etwas tun, wofür sie kein Ticket erhalten haben, dann ist das verboten und die Polizei kommt und bringt sie vor Gericht. „Die Gutscheine geben an, inwieweit Sie frei (oder nicht frei) sind, etwas zu tun; sie sind Ihr Arsenal an Freiheiten. Je mehr Gutscheine Sie haben, desto freier sind Sie”, verdeutlicht Raj Patel in seinem Buch The Value of Nothing (2010:152) den wahren Zusammenhang zwischen Freiheit und – genau: Geld. Denn was ist es anderes als solche Tickets? Jene ohne Geld sind so unfrei wie jene ohne Tickets. Geld bedeutet, sich Freiheit kaufen zu können. „Ohne Geld steht Ihnen in einer Marktgesellschaft keine einzige Tür offen; es steht Ihnen nur frei, wenig zu besitzen und jung zu sterben. Kurz: Im Kapitalismus ist Geld gleichbedeutend mit dem Recht auf Rechte”, schreibt Patel weiter, und er fügt in Anlehnung an den berühmten Song von Janis Joplin hinzu, “for more and more Americans, freedom is just another word for nothing they can afford” (ebd.).
Freie Entfaltung im Kapitalismus bedeutet damit, sich selbst dermaßen zu verwirklichen, dass man möglichst viele von diesen Tickets ergattern kann – was aber immer auf Kosten der anderen geht. Und was vielleicht nicht die Art der Entfaltung ist, nach der ein Mensch wirklich strebt. Nur in einer Gesellschaft, in welcher Menschen sich nicht als Konkurrent_innen begegnen, in der sie keine Angst vor Versagen haben müssen, können sie sich so entfalten, wie sie es wirklich möchten. Nur wenn wir nicht länger lernen, nur gewinnen zu können, wenn andere verlieren (denn nur im Vergleich mit anderen sind meine Noten gut, bekomme ich den Job, bin ich reich), sondern wenn wir lernen, dass je mehr wir selbst und andere beitragen (ohne Zwang allerdings!), desto besser für uns, desto besser für andere, desto leichter können wir uns als Menschen verwirklichen. Mit anderen Worten: Solange die Angst zu versagen oder der Druck, uns ökonomisch zu verwerten uns beherrschen, sind wir nicht frei. Nicht zufällig bedurfte es immer wieder gesellschaftlicher Schockzustände, um mit Hilfe von Angst und Druck früher kapitalistische und in den letzten Dekaden neoliberale Wirtschaftspolitiken durchzusetzen – Angst und Druck aber sind das Gegenteil von Freiheit.
Freiheit und Solidarität gehören zusammen. Wer nach einer anderen Freiheit sucht, sucht auch nach einer solidarischen Gesellschaft.
Dieser Text versucht Elemente einer möglichen solidarischen Gesellschaft aufzuspüren sowie damit verbundene Effekte für zum einen die persönliche und zum anderen die weltweite Ebene. Was aber ist Solidarität? Zunächst: ein altbackener Begriff. ´Solidarität´ erinnert an vergangene Zeiten, an Gewerkschaften und Tarifkampf, an Männer, die in geschlossenen Reihen vorwärtsschreiten. Damit ist schon einigermaßen umrissen, um was es hier nicht gehen soll. Zur Klärung folgt darum als erstes eine Auseinandersetzung mit derzeit üblichen Solidaritätsbegriffen. Im Anschluss werden auf gesellschaftlicher, individueller und weltweiter Ebene die derzeitigen Verhältnisse auf genau jenen Aspekt hin beleuchtet, vor dem die Angst herrscht, er könne in einer solidarischen Gesellschaft verloren gehen: Freiheit. Abschließend werden auf genau diesen Ebenen Elemente eines solidarischen Umgangs vorgestellt, die gleichzeitig eine andere Freiheit bedeuten.
2. Solidarität ist…
Wikipedia – eine Institution, die als Ausdruck des allgemeinen Alltagsverstands gesehen werden kann – definiert:
Solidarität (abgeleitet vom lateinischen solidus für gediegen, echt oder fest; Adjektiv: solidarisch) bezeichnet eine, zumeist in einem ethisch-politischen Zusammenhang benannte Haltung der Verbundenheit mit – und Unterstützung von – Ideen, Aktivitäten und Zielen anderer. Sie drückt ferner den Zusammenhalt zwischen gleichgesinnten oder gleichgestellten Individuen und Gruppen und den Einsatz für gemein-same Werte aus (vgl. auch Solidargemeinschaft).
Hier scheinen sich zwei Richtungen anzudeuten. Einerseits die Verbundenheit mit und Unterstützung des Wollens und Handelns anderer. Andererseits der Zusammenhalt zwischen gleichgesinnten und gleichgestellten Individuen und/oder Gruppen. Auf Wikipedia wird dies weiter ausspezifiziert:
„Der Begriff Solidarität wird in vielfältiger Weise verwendet.
• Er bezeichnet vor allem als Grundprinzip des menschlichen Zusammenlebens ein Gefühl von Individuen und Gruppen, zusammen zu gehören. Dies äußert sich in gegenseitiger Hilfe und dem Eintreten für einander. Solidarität kann sich von einer familiären Kleingruppe bis zu Staaten und Staatsgemeinschaften erstrecken.
• In der Arbeiterbewegung wurde ´Solidarität´ als Tugend der Arbeiterklasse (s.a. Brüderlichkeit) hervorgehoben. Sie hat hier eine ähnliche Bedeutung wie das Wort ´Kameradschaft´ beim Militär oder anderswo.“
Fangen wir von hinten an: Solidarität galt als Tugend der Arbeiterklasse – und es kann wohl hinzugefügt werden, dass der Begriff Solidarität bis heute in erster Linie diese Assoziation hervorruft. Hier wird wieder auf die Brüderlichkeit als Synonym verwiesen, und dadurch ergänzt, dies habe eine ähnliche Bedeutung wie das Wort ´Kameradschaft´ beim Militär.
Auweia. Kameradschaft beim Militär ist damit solidarisches Morden – hätte Kurt Tucholsky gesagt. Solidarität mit den Eigenen, um die Anderen zu vernichten.
Nun mag militärische Kameradschaft das extremste Beispiel einer Interessengemeinschaft darstellen, doch zeigt es letztlich nur, dass auch andere Interessengemeinschaften keine Solidarität in einem emanzipatorischen Sinne für die gesamte Gesellschaft darstellen – denn es handelt sich um „reziproken Altruismus“, wie er vom Evolutionsbiologen Robert Trivers 1971 als Erklärung für uneigennütziges Verhalten bezeichnet wurde (Trivers 1971: 35ff). Während viele Forscher dies heute selbst bei Tieren für überholt halten, denn nicht jedes altruistische Verhalten bei ihnen lässt sich durch die ´Gesamtfitness´ einer Art erklären, ist unser Verständnis von Solidarität unter Menschen doch erstaunlich von dem Gedanken ´wie Du mir, so ich Dir´ geprägt.
2.1. Solidarität handelt nicht nach Äquivalenzen
Interessengemeinschaften entsprechen also lediglich dem Äquivalenzprinzip: Ich habe Nutzen, wenn ich solidarisch bin, also bin ich es. Noch unsolidarisch wäre sicher, die Rolle des Trittbrettfahrers einzunehmen: also darauf zu vertrauen, dass andere so viel beisteuern, dass es auf meinen eigenen Beitrag hinsichtlich meines eigenen Nutzens gar nicht ankommt.
Auch in der von Wikipedia gegebenen Definition als ´Grundprinzip des menschlichen Zusammenlebens´ scheint es nur zunächst um etwas anderes als Interessengemeinschaften zu gehen, denn schnell wird ergänzt, ein solches Grundprinzip erstrecke sich von familiären Kleingruppen bis maximal zu Staaten und Staatengemeinschaften – aber auch Staaten und Staatengemeinschaften bilden sich in Abgrenzung zu anderen Staaten und Staatengemeinschaften, und damit letztlich als Interessengemeinschaften. Solidarität scheint damit nicht als ´Grundprinzip des menschlichen Zusammenlebens´ an sich zu taugen.
Damit wird auch deutlich, dass Interessengemeinschaften eine Solidarität bedeuten, welche sich ausschließend, wenn nicht gar feindlich gegen andere formiert – es ist dieser Aspekt, der im Begriff Kameradschaft nur noch ein bisschen deutlicher wird. ´Solidarität ist unsere stärkste Waffe´ wird es auch von Linken gerne formuliert.
Zurück zu Wikipedia und den dort weiter angegebenen Ausdifferenzierungen:
„Gelegentlich wird unterschieden zwischen
• Solidarität der Gesinnung (Einheitsbewusstsein),
• Solidarität des Handelns (gegenseitige Hilfsbereitschaft) und
• Interessen-Solidarität (die durch Interessengleichheit in einer bestimmten Situation wirksam ist und nach dem Erreichen des gemeinsamen Zieles endet).“
Hier haben wir drei verschiedene Definitionen, und sie bestätigen erneut: Es gibt nur die Solidarität mit den uns Gleichgesinnten, die Solidarität der Äquivalenz, die Solidarität der Interessengemeinschaft. Lesen wir noch einmal weiter:
„In der Soziologie unterschied Émile Durkheim zwischen
• mechanischer Solidarität, die auf vorgegebenen gemeinsamen Merkmalen einer Gruppe beruht (z. B. Wir Arbeiter, Wir Frauen, Wir Deutschen), und
• organischer Solidarität, deren Basis das Angewiesensein aufeinander (z. B. Spezialisten in arbeitsteiligen Gesellschaften) ist.“
In beiden Fällen also eine Form von Interessengemeinschaft. Wobei in Durkheims Denken die mechanische Solidarität vor allem ein Merkmal vormoderner Gesellschaften war, welche wesentlich durch das Einheitsbewusstsein geprägt gewesen seien. Er begriff es als Fortschritt, durch die Eingebundenheit und Abhängigkeit der Einzelnen in der modernen arbeitsteiligen Gesellschaft zu einer organischen Solidarität gelangt zu sein, in welcher das Teilen von Werten zumindest in den Hintergrund trete (Durkheim 1893). Durkheim gilt dabei als der erste, der das Paradox dieser ausgeprägten Abhängigkeit und der Ideologie des Individualismus in der Industriegesellschaft benannte.
Am Anfang der Wikipedia-Definition sah es noch so aus, als zeichneten sich zwei Richtungen der Bedeutung von Solidarität ab: als unterschieden wurde in den Zusammenhalt zwischen gleichgesinnten und gleichgestellten Individuen und/oder Gruppen sowie der Verbundenheit mit und Unterstützung des Wollens und Handelns anderer. Wo aber bleiben sie nun in den weiteren Ausführungen, die anderen, wenn sie nicht gleichgesinnt sind oder derselben Interessengemeinschaft entsprechen? Ohne Einheitsbewusstsein und/ oder Interessengleichheit?
Die anderen sind nicht wir. In der poststrukturalististischen Theorie Jacques Derridas sind die ´Anderen´ die aus der Identität ausgeschlossenen. Darauf sowie auf Antonio Gramscis Hegemonietheorie aufbauend sind im postkolonialen Verständnis (insbesondere von Gayatri Chakravorty Spivak) die von allen hegemonialen Identitäten am meisten aus¬geschlossenen Anderen ´Subalterne´ – jene, welche in keiner Weise an den gegebenen Verhältnissen partizipieren (vgl. Spivak 1988; Habermann 2008). Aus diesem Grund können sie auch verhungern, ohne dass ihr Tod zu Hundertausend täglich das System gefährdet. Mit anderen Worten: Es liegt daran, dass sie nicht Teil unserer Interessengemeinschaft sind.
Wenn es Solidarität nicht ist, was auch die ´Anderen´ einbezieht, dann gibt es hierfür kein Wort. Aber kann das wahr sein? Können wir Solidarität jenseits einer Interessengemeinschaft noch nicht einmal ausdrücken?
Im Folgenden soll diesem sowie weiteren (Miss-)Verständnissen in Bezug auf Solidarität weiter auf den Grund gegangen werden, um dann auszuleuchten, was Solidarität sein könnte, sofern wir auf der Suche nach einer anderen Welt sind, in welcher Platz für alle ist.
2.2. Solidarität will nicht ´doch-nur-dein-Bestes ´
Links ist, das Glück für alle zu wollen. So oder ähnlich hörte ich es von Thomas Ebermann, und vielleicht zitierte er jemanden anderes damit, mag sein, denn ich hörte es in einer Kneipenveranstaltung tief im Hamburger Norden Ende der 1980er Jahre, und das ist lange her. Doch seither hat es mich nicht mehr losgelassen.
Es stimmt: Linkssein muss das Glück für alle wollen, sonst ist es nicht das Streben nach einer befreiten Gesellschaft, sondern nach der Emanzipation einer bestimmten Gruppe – das wäre wieder die Interessengemeinschaft.
Etwas zynisch könnte argumentiert werden: Genau das (zumindest aus westdeutscher Erfahrung gesprochen) wurde meist unter links verstanden. Arbeitersolidarität war häufig Solidarität mit anderen normalarbeitszeitarbeitenden männlichen Kollegen. Nicht mit den Erwerbslosen. Nicht mit teilzeitbeschäftigten und unterentlohnten Frauen. Nicht mit prekär Beschäftigen. Nicht mit Hausfrauen. Nicht mit Gastarbeitern. Nicht mit Papierlosen. Nicht mit Arbeitern in anderen Ländern. Nicht mit ´Schwuchteln´, ´Krüppeln´ etc.
Solidarität der Deutschen mit Abgrenzung nach außen, das ist Normalität: sei es im Kampf um die Weltmeisterschaft oder um Wettbewerbsvorteile. Solidarität der Deutschen mit Bereitschaft zur Vernichtung aller undeutschen Elemente – das ist Faschismus. Die Solidarität mag im zweiten Falle aber sogar noch stärker sein: Der unbedingte Wille, dass das Gute nur für die einen sein soll – und seine brutalen Konsequenzen.
Doch bleiben wir beim Linkssein und dessen Definition aus der Kneipe in den 1980ern. Papa und Mama Ebermann mögen ihrem Sohn vielleicht mal gesagt haben: ´Wir wollen doch nur dein Bestes´. Die damals übliche Antwort darauf war: ´Kriegt ihr aber nicht´. Dieser Spruch verweist darauf, wie leicht aus einer hegemonialen Position heraus ´guter Wille´ dazu führen kann zu glauben, im Sinne des anderen zu handeln, und nicht zu erkennen, dass es im eigenen Interesse geschieht. Es zeigt, dass das Glück für alle anzustreben noch nicht die vollständige Definition von linker Politik sein kann. Denn nur ´Glück für alle´ wäre der Ansatz der Vertreter_innen von happiness economics, welche aufgrund von Fragebögen und Gehirnforschung die Formel für allgemeines Glück zu erkennen glauben. Auf dieser Grundlage wird beispielsweise behauptet, Erwerbsarbeit sei wesentlich für das Glück von Menschen, und darum müssten sie dazu gezwungen werden. Es ist dieselbe Logik, welche Neu-Rechte gegen Migration argumentieren lässt, da diese in ihrer angestammten Heimat doch eigentlich glücklicher seien; dieselbe, die behinderten Ungeborenen das ´Recht auf Nicht-Existenz´ zuspricht und dieselbe, die Grüne ´mit Bauchschmerzen´ im Bundestag für Krieg stimmen lässt, mit den Rechten der Frauen in Afghanistan als Begründung – welche allerdings, wo diese sich zu artikulieren versuchten, wie beispielsweise in der Frauen-organisation RAWA, gegen den Krieg aufriefen. Für eine emanzipatorische Politik ist demnach ein zweites Element notwendig: dass diese Glücksbestimmung nur von allen selbst entschieden werden kann.
2.3. Solidarität ist keine Liebe
Solidarität bedingt also, den anderen frei zu lassen – wie in der Liebe. ´Solidarität ist Liebe´ – wäre das nicht schön? Doch nein: Solidarität ist nicht dasselbe wie Liebe, denn dann wäre alles ganz einfach. Aus Liebe heraus tun wir gerne, was wir tun. Tatsächlich aber kann es sogar Liebe sein, die uns unsolidarisch macht: Aus Liebe heraus versuchen wir das Beste für diejenigen, die unsere Liebsten sind, herauszuschlagen – mit der Folge, dass jene, die wir nicht lieben, weniger oder gar nichts bekommen.
Versuche, eine solche Liebe auszuweiten auf größere Gemeinschaften ändert bestenfalls nichts am Prinzip, und ist im schlechtesten Falle nichts anderes als das Ergebnis von Gruppendruck. In jedem Fall aber steht es wiederum in der schlechten Tradition zu glauben, Solidarität bezöge sich auf die eigene Gruppe. Dagegen lässt sich sogar argumentieren, dass immer erst der Ausschluss aus dieser Solidarität, aus gewissen Vorrechten, zur Abgrenzung von einer Identität zur anderen führt. ´Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder´, singt Franz Josef Degenhardt. ´Geh doch in die Oberstadt, mach´s wie Deine Brüder´.
2.4. Solidarität umfasst nicht nur Brüder
´Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit´ war der Slogan der Französischen Revolution. Brüder-lichkeit wird darum manchmal, und so auch in der Partei Die Linke, kommentarlos durch Solidarität ersetzt. Gerade für Frauen ist es der Ausschluss der ´Schwestern´ aus der Brüderlichkeit, der sie den Ausdruck Solidarität vorziehen lässt. Aber es soll hier nicht nur um Frauen gehen, sondern sie stehen stellvertretend für die in der Geschichte immer wieder zu beobachtende Bewegung von (emanzipatorischer) Solidarität ´Gleicher´ untereinander – und dem impliziten Ausschluss Anderer hierdurch. An der französischen Revolution lässt sich dies gut darlegen – und dies soll hier in einiger Ausführlichkeit geschehen.
Von der klassischen Antike bis in das 18. Jahrhundert hinein existierte die Vorstellung, Weiblichkeit sei eine graduelle Abweichung von einem männlichen Grund- und Idealtypus. Man stellte sich die Vagina als innen liegenden Penis, die Schamlippen als Vorhaut, die Gebärmutter als Hodensack und die Eierstöcke als den Hoden entsprechend vor. Ähnlich fanden sich auch keine Charaktereigenschaften, die als nur weiblich galten; auch diese definierten sich durch den Bezug auf eine wesenhafte Tugend, die ihre vollendete Form beim Mann finde. Ein Verständnis von Zweigeschlechtlichkeit im Sinne physischer und psychischer Differenz existierte damit nicht. Thomas Laqueur (1990) bezeichnet dies in seinem Buch Making Sex als ´Ein-Geschlecht-Modell´. In diesem wurden Frauen als defizitär und damit aber auch als subsidiär aufgefasst: dann, wenn der Mann abwesend, krank oder tot war, konnte die Frau jederzeit die Männerrolle übernehmen, sei es in der Welt der Herrschaft oder in der Welt der bäuerlichen, handwerklichen und kaufmännischen Arbeit (vgl. Müller 1991: 49).
Michel Foucault sieht einsetzend mit Locke in den Theorien des Subjekts des englischen Empirismus eine der wichtigsten Wandlungen im abendländischen Denken der Neuzeit. Von nun an sei das Subjekt als Subjekt individueller Entscheidungen erschienen. Eine solche Idee des Subjekts als das Subjekt eines als Wille geäußerten Interesses war neu und wurde zum Ausgangspunkt der sich entwickelnden Gesellschaftsform: Das rationale, letztlich auf den Eigennutz bedachte Subjekt wurde im Sinne einer ergänzenden Wechselbeziehung zum Pendant des modernen Staates. Die Fähigkeit zu einem solchen Willen wurde aber nur Männern zugesprochen. Die Frau wurde zum ´Anderen´: In der Öffentlichkeit des 18. und des postrevolutionären 19. Jahrhunderts verschob sich das Schlachtfeld sozialer Rollen zur Natur hin. Angeblich biologische Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Körpern sowie ihrer charakterlichen Eigenschaften wurden in einer Vielzahl von Kontexten erzeugt, um den Ausschluss von Frauen rechtfertigen zu können. Wie auch immer das Argument im Detail verlief, das Ergebnis war, dass Frauen aus in ihrer Natur liegenden Gründen von der StaatsbürgerInnenschaft ausgeschlossen bleiben müssten (vgl. Laqueur 1990: 224).
Doch es waren nicht nur Frauen, die aus diesem Ruf ausgeschlossen waren, sondern, wie sich bald herausstellte, auch people of colour. Ähnlich wie beim Ein-Geschlecht-Modell existierte in Europa bis zur Aufklärung die Idee einer ebenfalls kontinuierlich hierarchisch gedachten great chain of being, wonach alle Lebewesen und alle Gesellschaften auf einer Skala als mehr oder weniger entwickelt und damit als tiefer oder höher stehend eingeordnet werden könnten. Entsprechend wurde davon ausgegangen, dass die im Zuge der Kolonialisierung ´entdeckten´ Ethnien Vorformen der menschlichen Entwicklung in Europa darstellten. Die great map of mankind stellte eine Welt dar, die gleichzeitig verschiedene Zeitepochen beherbergte. Das damit verbundene Verständnis eines anachronistic space war entscheidend, da die hierdurch unilateral geordnete Zeit – nicht nur chronologisch, sondern auch räumlich – die Europäer zur Krönung der Geschichte machte (vgl. McClintock 1995: 159). In diesem anachronistic space wurden die von Indigenen bewohnten Landstriche und Kontinente als unbewohnt, ´leer´, definiert, als existierten Indigene in einer permanent früheren Zeit, als bewohnten sie nicht die Gegenwart. Damit verbunden war der Mythos des jungfräulichen Landes, welches auf die männliche Eroberung wartete – und auf die Befruchtung mit Geschichte und Vernunft (vgl. McClintock 1995: 30).
Trotz dieses paternalistischen und hierarchischen Konzepts ergab sich jedoch dasselbe Dilemma wie in Bezug auf Geschlecht, das aus dem Ideal von gleichen und freien Individuen auf der einen Seite und der Rechtfertigung von Unterdrückung auf der anderen hervorging – zumal der Ruf nach „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ in den französischen Kolonien nicht ungehört blieb: Es bedurfte allerdings eines Sklavenaufstandes, der, im Jahr 1791 auf Santo Domingo (heute Haiti) beginnend, trotz eines aus Frankreich entsandten Heeres von 18.000 Soldaten nach jahrelangen blutigen Kämpfen letztlich zur rechtlichen Gleichberechtigung in den Kolonien führte. Fast eine Million Sklaven wurden nun Staatsbürger von Frankreich. Doch unter Napoléon Bonaparte wurde bereits 1802 die Sklaverei in den französischen Kolonien wieder eingeführt – und zwar nach der Regel, wer nicht völlig ´weiß´ sei, sei ´schwarz´, und damit kein Staatsbürger, sondern Sklave.
Während in Amerika zunächst auch Schwarze Sklav_innen besitzen durften und in Europa erst nach 1730 Systematisierungen anhand von Hautfarbe vorgenommen wurden, kommt es wie beim Zwei-Geschlechter-Modell innerhalb kurzer Zeit zu einer Binarisierung der Konstruktion in ´schwarz´ und ´weiß´. Die Legitimierung des Ausschlusses ´Schwarzer´ von der Staatsbürgerschaft bis hin zu ihrer Versklavung bestand also auch hier in dem Argument, dass ´Schwarze´ den ´Weißen´ nicht gleich seien, und damit wie bei den Geschlechtern in dem Verweis auf ein biologisch bedingtes Unvermögen hinsichtlich staatsbürgerlicher Tugenden (vgl. Jordan 1968: 304ff). Die Europäer_innen wurden im Gegenzug immer ´weißer´. Im Prozess der Rassifizierung wurden jene Eigenschaften, die sich der Kolonisator als ´weißem´ Subjekt zuschrieb – Vernunft, Eigentum, Freiheit, Erwachsensein, Mäßigung – zu Kriterien der Unterscheidung zwischen ihm und den ´Anderen´.
Die sich verdichtenden Diskurse über Frauen und people of colour als im biologisierten Sinne verstandene ´Andere´ sind dabei nicht Resultate bewusster Überlegungen, sondern sie wurden im Diskurs und damit im Alltagsverstand hegemonial, weil sie bestimmten sich entwickelnden Interessen entsprachen: So wie R. Connell (1985) eine ´patriarchale Dividende´ für alle Männer aus dem Nutzen durch das Patriarchat sieht, und damit auch für jene, die innerhalb der hierarchisch strukturierten Männlichkeit subaltern sind, entsprachen die Interessen nicht nur denen von weißen, bürgerlichen Männern, sondern tendenziell denen aller Weißen, aller Bürgerlichen und aller Männer, wenn auch mit unterschiedlicher Durchsetzungsmacht und unterschiedlichen Partizipationsmöglichkeiten an den damit verbundenen Privilegien. Mit anderen Worten: Sie entsprachen der Gesamtfitness der weißen bürgerlichen ´Brüder´.
Was hier beispielhaft an Frauen bzw. People of Colour ausgeführt wurde, gilt, so meine These, universell: Solange Solidarität auf eine bestimmte Gruppe von Menschen beschränkt bleibt, formt sich hieraus die Identität der Eingeschlossenen (Jacques Derrida spricht vom ´reinen Ersten´) sowie die Identität(en) der Ausgeschlossenen (dem ´unreinen Zweiten´). Das Verfolgen von Gruppeninteressen, solange es sich nicht um eine (immer noch) unterdrückte Gruppe handelt, führt zu einer Hegemonie, wenn nicht gar Herrschaft, dieser Gruppe, und dafür müssen die Grenzen klar gezogen werden. Hieraus resultierte beispielsweise die Angst vor Verweiblichung oder ´Durchmischung´ im bürgerlichen Staat des 19. Jahrhunderts; und noch viel mehr natürlich im Faschismus des 20. Jahrhunderts.
Doch selbst im Fall einer unterdrückten Gruppe, die nach Emanzipation strebt, müssen diese Identitätsschließungen überwunden werden, um zu einer wirklich emanzipatorischen Gesellschaft zu gelangen, so argumentiert Derrida. Er spricht von einer ´doppelten Geste der Dekonstruktion´: Die erste Geste bestehe darin, die Hierarchie zwischen dem ´reinen Ersten´ und dem ´unreinen Zweiten´ umzustürzen (vgl. Derrida 1972: 87ff). Zu einer solchen Umkehrung der Hierarchie im politischen Kampf komme es immer und es sei ein notwendiger Schritt; Derrida warnt aber davor, dies auch nur als Phase anzuerkennen bzw. sich darin einzurichten, ohne gleichzeitig die binäre Logik überwinden zu wollen. Als Beispiel nennt Derrida die positive Darstellung von ´Natürlichkeit´ indigener Ethnien. Dies sei lediglich Ethnozentrismus in umgekehrter Form: Es sei dann die Ethnie der ´Anderen´, die zum ´reinen Ersten´ ernannt würden. Genauso wenig ginge es aber darum, die Unterschiede zwischen zwei Seiten einzuebnen oder (wie in der Dialektik) in einem Dritten aufzuheben, sondern in einer komplexen Operation so zu dekonstruieren, dass sie nicht mehr in Opposition zueinander stünden. Dieser erste Schritt müsse ständig wiederholt werden, „denn die Hierarchie des dualen Gegensatzes stellt sich immer wieder her“ (Derrida 1972: 88). Ziel sei aber eine Überschreitung der binären Logik, und genau darin besteht die zweite Geste. Dies geschieht durch das jeweils erneute Aufspüren von bislang nicht Sichtbarem, „was sich in der vorangegangenen Ordnung nicht mehr verstehen lässt, ja sich niemals hat verstehen lassen […], um somit die ganze übliche Anordnung zu zerrütten“ (Derrida 1972: 89). Auch dieser Prozess – dasjenige aufzuspüren, was eine Logik ausschließen muss, um funktionieren zu können – muss wiederholt werden, bis sich die traditionelle Opposition auflöst.
Als Beispiel kann die Geschichte der Frauenbewegung dienen: Wurde zunächst die Ent-nennung der Frauen in dem Wort ´homme´ thematisiert, kam es daraufhin im Differenzfeminismus, in welcher alle Frauen zu Schwestern erklärt wurden, zu einer Umkehrung der Wertigkeit, in dem Frauen als die besseren Menschen (da friedfertiger, emotionaler etc.) galten. Dies ging einher mit einer Essentialisierung des Weiblichen, indem die als weiblich geltenden Eigenschaften als gemeinsame Basis der ´sisterhood´ genommen wurden. Abweichlerinnen von diesem Bild wurden heftig kritisiert. Doch dauerte es nicht lange, bis durch Kritik von den Rändern der Frauenbewegung her klar wurde, dass dieses Verständnis von ´Frau´ auf den Erfahrungen weißer heterosexueller Mittelstandsfrauen beruhte und damit Schwarze, Lesben und Arbeiterinnen ausschloss. Die Schwarze Bewegung wiederum musste damit umgehen, dass ´schwarz´ als politisierter Begriff zwar von Menschen mit asiatischem oder indigenem Hintergrund übernommen wurde, diese damit aber gleichzeitig entnannt wurden, woraufhin sich im angelsächsischen Sprachgebrauch der Ausdruck people of colour durchsetzte. Hieraus sowie aus der Konfrontation der Lesben- und Schwulen-bewegung mit, unter anderen, Bi- und Transsexuellen entwickelte sich die Queer-Bewegung. Diese schließt die Vielfalt von Identitäten ein, welche sich in der immer weiteren Ausdifferenzierung ergeben, so dass sich der Begriff ´queer´ nahezu als Bedeutungsträger auflöst und damit dem Derrida´schen Ideal nahe kommt, und eine neue Form von Emanzipationsbewegung ohne Ausschlüsse – in der also möglichst alle jene Identität leben können, die ihnen entspricht – anstrebt.
Festzuhalten also bleibt: Ausschlüsse aus Solidarität führen zu (neuen) Hegemonien. Bereits Léon Bourgeois, der 1895 als Ministerpräsident das erste linksdemokratische Kabinett Frank-reichs bildete und 1920 zum ersten Präsidenten des Völkerbundes gewählt werden sollte, wies 1909 auf einem Soziologenkongress in Bern unter dem Titel ´Die sozialen Grenzen der Solidarität´ auf die Gefahr einer Gruppensolidarität als Gruppenegoismus hin. Dies bezeichnet er als ´Asolidarität´. Die Geschichte auf internationaler Ebene gab ihm fünf Jahre später, als nicht nur Kaiser Wilhelm II. keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche kannte, auf grausame Weise recht (vgl. Böhlke 2009: 27).
Dabei muss es sich gar nicht um bewusste Ausschlüsse à la ´Wir Deutschen´ handeln; häufig sind es implizite: ähnlich wie Frauen / people of colour beim Ruf nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit oder wie Lesben in den Anfängen der Neuen Frauenbewegung nicht bewusst ausgeschlossen, sondern einfach nicht mitgedacht wurden. Emanzipation muss darum immer die Emanzipation der Anderen sein – und Solidarität muss sich stets auf der Suche befinden nach den noch Unsichtbaren, noch Ungedachten; jenen, welche in keiner Weise an der Hegemonie partizipieren und deren Zustimmung für die Aufrechterhaltung der Machtverhältnisse von keinerlei Bedeutung ist: den Subalternen (vgl. Spivak 1988).
Selbstverständlich verändern sich Identitäten permanent und immer weiter, und zwar auch als Ergebnisse von Kämpfen um Emanzipation. Nicht zuletzt aufgrund dieser Kämpfe um Emanzipation durften wir uns heute an Kanzlerinnen, schwarze Präsidenten und an schwarze und weibliche oder schwule Außenminister_innen gewöhnen. Das Geschlecht oder die Hautfarbe ist heute kein Hindernisgrund für Karriere, solange jemand reich ist an eben jenen Eigenschaften, welche dem homo oeconomicus zugeschrieben werden. Doch da dieser in Interaktion mit der Konstruktion des weißen, männlichen Bourgeois entstanden ist, bleibt es für Mitglieder dieser Identität leichter, erfolgreich zu sein. Damit spielt der homo oeconomicus heute eine mindestens ebenso entscheidende Rolle für die Art und Weise, in welcher westliche Gesellschaften (und von ihr geprägte globale Ansätze) funktionieren: Er dient als Modell für ´Normalität´. Eigenschaften, welche von den seinen abweichen, werden als minderwertige Abweichung gefasst. Kornelia Hauser schreibt entsprechend: „Ähnlich wie vor dem Zwei-Geschlechter-Modell gehen wir wieder auf ein – allerdings ziemlich modifiziertes – Ein-Geschlecht-Modell zu“ (Hauser 1996: 21).
Darin nicht eingeschlossene Eigenschaften werden heute nicht mehr so eindeutig ver-geschlechtlicht oder rassifiziert zugeordnet, wenn auch verstärkt klassenspezifisch. In jedem Fall aber erscheint die ökonomische Diskriminierungen von Frauen / people of colour / Angehörigen der Unterklasse nach wie vor als normales und unvermeidliches Ergebnis von Effizienzmaximierung und damit der maximalen Wohlfahrt, das heißt als Konsequenz bestimmter Eigenschaften, welche statistisch gehäuft bei Angehörigen dieser Identitäten anzu-treffen seien, und welche nicht jenen des homo oeconomicus entsprechen. Wenn das Fremdwörterbuch des Duden den Begriff homo oeconomicus als ´gelegentliche Bezeichnung des heutigen Menschen schlechthin´ definiert, dann drückt sich hierin auch genau dieses neue ´Ein-Geschlecht-Modell´ aus, welches ebenso die neue ´great chain of being´ benannt werden könnte, und bedeutet, das implizit der weiße Bürger zum hegemonialen Modell für alle Identitäten geworden ist. Das heißt nicht, dass alle oder nur weiße Männer Gewinner wären und dass Frauen / people of colour oder beispielsweise Homosexuelle keine Karriere machen könnten – im Gegenteil ist die hegemoniale Bedeutung des homo oeconomicus als Rollenmodell so stark, dass er für alle Gültig¬keit erlangt hat (unabhängig zu sein, flexibel, erfolgreich etc.) und damit durchaus ´andere´ Identitätsaspekte überlagern kann. Der homo oeconomicus als Grundlage der heutigen Wirtschaftstheorie bildet damit nicht nur das Stereotyp des weißen, heterosexuellen, gesunden, jungen (etc.) Mannes als Wirtschafts-subjekt ab, sondern es besteht ein diskursiver Zusammenhang zwischen diesem Entwurf und der Konstruktion des (Wirtschafts-)Subjektes im modernen, bürgerlichen Staat. Als Ausschließungen damit verbunden sind heute weniger die Konstruktionen der ´Anderen´ denn Aspekte des Menschseins.
Ohne solche als essentiell und ahistorisch vorauszusetzen, geht Judith Butler davon aus, dass das ´Reale´ (im Sinne Lacans) an Bedürfnissen sich als Melancholie in der Psyche eines Subjekts niederschlägt (vgl. Butler 2001). Hanna Meißner hierzu:
„Diese Einschränkung kann das Subjekt jedoch nicht einfach als äußere Begrenzung wahrnehmen, und damit auch nicht bewusst als Verlust an Lebensoptionen betrauern. Vielmehr verleibt es sich diesen Verlust melancholisch ein. Die Metapher der Melancholie steht damit für einen Verlust, der nicht betrauert werden kann, weil er als Verlust gar nicht bewusst ist, da die verlorene oder ausgeschlossene Lebensoption im Rahmen der symbolischen Ordnung als mögliche Option gar nicht denkbar ist“ (Meißner 2008: 30).
Das aber steht im Widerspruch zu einer freien Entfaltung, und damit zu Freiheit selbst. Es ist eine Gesellschaft, in der Brüderlichkeit im Äquivalententausch besteht; in den Worten von Marx: ein „wahres Eden der angebornen Menschenrechte. Was allein hier herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum, und Bentham“ (MEW 23: 188).
Ging es in diesem Abschnitt darum, wie Solidarität gefasst wird und welche Begrenzungen damit verbunden sind, so soll das folgende Kapitel der Freiheit nachgehen, die tatsächlich gelebt wird.
3. Was Freiheit im Kapitalismus tatsächlich heißt
3.1. gesellschaftlich
Foucault versteht den homo oeconomicus als Korrelat neoliberaler Gouvernementalität – mit anderen Worten: den heutigen Menschen als notwendige und in Wechselbeziehung stehende Ergänzung unserer Gesellschaftsform. Den Begriff ´Gouvernementalität´ prägt er bei der Analyse der langfristigen Herausbildung moderner Staatlichkeit im Zusammenhang mit heutiger Subjektivität. Wenngleich die Interpretation, wonach darin Regieren (gouverner) und Denkweise (mentalité) semantisch bewusst miteinander verbunden werden, inzwischen umstritten ist, so verhilft sie nichtsdestotrotz zum besseren Verständnis des Begriffs. Der moderne (westliche) Staat ist für Foucault das Ergebnis einer komplexen Verbindung ´politischer´ und ´pastoraler´ Machttechniken – wobei er unter Pastoralmacht ein ´Regime der Seelen´ versteht, die über ´Technologien des Selbst´ wirken (vgl. Foucault 1978: 222).
So geht er davon aus, dass die pastoralen Führungstechniken Subjektivierungsformen hervorbrachten, auf denen der moderne Staat aufbaut. Hatte der frühmoderne Staat sich der Sicherheit einer Ordnung verschrieben, die er selbst erst hergestellt hatte, so wurde ab Mitte des 18. Jahrhunderts die Natürlichkeit der Welt Leitgedanke: Nicht mehr das Erreichen einer Norm war das Ziel, sondern der Normalität – wobei die neue Gouvernementalität allerdings auch diese angebliche Natürlichkeit erst selbst herstellte (vgl. Foucault 1979: 29). Dafür orientiert sich die neoliberale Regierungskunst am Modell des Marktes. Es ging nicht länger darum, diese Praktiken im Hinblick auf ein moralisches Prinzip als gut oder schlecht zu beurteilen, sondern als wahr oder falsch; es entstand eine „neue Herrschaft der Wahrheit“ (Foucault 1979: 37). Dieses Prinzip der Regierung erfordert die ´Freiheit´ der Regierten, und der rationale Gebrauch dieser Freiheit ist die Bedingung einer ´ökonomischen´ Regierung (vgl. Lemke 1997: 173). Ausgangspunkt des Neoliberalismus ist die Begierde als Grundlage des Interesses, über die in ´ja-sagender´ Weise regiert werden soll. Freiheit ist damit nicht mehr nur ein Recht der Individuen, sondern wird zu einem unverzichtbaren Bestandteil von Regierung.
Als Kehrseite dieser Freiheit müssen nach Foucault Gefahren und Sicherheitsmechanismen eingerichtet werden, um einen Einfluss auf die Interessen auszuüben (vgl. Foucault 1978: 506). Hieraus sieht Foucault drei Konsequenzen des liberalen Staates entstehen: Erstens konditioniere der Liberalismus die Individuen darauf, ihre Situation, ihr Leben, ihre Gegenwart, ihre Zukunft als Träger von Gefahren zu empfinden. Heute müssen in diesem Zusammenhang Verbrechen und Terror genannt werden, welche umso Furcht erregender wirken, je mehr sie aus der Mitte der Gesellschaft und unsichtbar erscheinen, wie im Ausdruck ´Schläfer´ kristallisiert: der ruhige und sympathische Student, der irgendwann als Al-Qaida-Terrorist zuschlägt. Aber auch schon die Angst davor, dick zu werden oder anderweitig vom Ideal ´des Normalen´ abzuweichen und dadurch beispielsweise bei einem Vorstellungsgespräch zu versagen, kann als Moment für das Funktionieren der Gesellschaft gelten. „Überall sieht man diese Aufstachelung der Angst vor der Gefahr, die gewissermaßen die Bedingung, das psychologische und innere kulturelle Korrelat des Liberalismus ist. Es gibt keinen Liberalismus ohne die Kultur der Gefahr“ (Foucault 1978: 102).
Als zweite Konsequenz des Liberalismus sieht Foucault Disziplinarmaßnahmen. Als Sinnbild der modernen Gesellschaft bezeichnet Foucault das Panoptikum von Jeremy Bentham. Bentham, als Begründer des Utilitarismus nach Adam Smith ´zweiter Vater´ des homo oeconomicus, suchte die Antwort auf das Problem der Vermittlung zwischen dem homo legalis (dem verständigen Rechtssubjekt) und dem homo oeconomicus: wie nach den Regeln des Rechts ein Raum der Souveränität regiert werden könne, der von ökonomischen Subjekten bevölkert wird, welche gemäß der Theorie von Adam Smith in ihren rationalen Ent¬scheidungen nicht beeinflusst werden dürfen, da nur so die ´unsichtbare Hand´ walten kann. Er entwarf eine Gefängnisarchitektur, in welcher die Insassen nie wissen, wann sie beobachtet werden und deshalb die Disziplin verinnerlichen müssen, denn vorher werden sie nicht entlassen. „Die Zeit durchdringt den Körper und mit der Zeit durchsetzen ihn alle minutiösen Kontrollen der Macht“ (Foucault 1975: 195). Bentham selbst präsentierte das Panoptikum am Ende seines Lebens in seinem Entwurf der allgemeinen Kodifizierung der englischen Gesetzgebung so, dass es zur grundlegenden Formel einer liberalen Regierung wurde (vgl. Foucault 1979: 103). Foucault sieht in dem Panoptikum die bürgerliche Gesellschaft repräsentiert: Die Verinnerlichung der Disziplin ist Voraussetzung für das Bestehen der Einzelnen; gleichzeitig aber entspricht die Einhaltung dieser Verhaltensregeln auch dem eigenen Interesse innerhalb dieser Gesellschaft (vgl. Lemke 1997: 176ff).
Ulrich Bröckling sieht heute einen „demokratisierten Panoptismus“ (2000: 152f): An die Stelle des allsehenden Beobachters auf der einen und der in ihren eigenen Beobachtungs-möglichkeiten aufs äußerste eingeschränkten Beobachtungsobjekte auf der anderen Seite trete ein nicht-hierarchisches Modell reziproker Sichtbarkeit, bei dem jeder zugleich Beo-bachter aller anderen und der von allen anderen Beobachtete sei. Ob wir über unserem body mass-Index liegen oder im Teamwork die Effizienz nach unten ziehen – auf den Verweis durch Mitmenschen, was von uns als ´normal´ erwartet wird, brauchen wir nicht lange warten. Als ´normal´ aber gelten immer noch (wenn auch angereichert mit soft skills und mit dem Zugeständnis eingeschränkter Rationalität) die Eigenschaften des homo oeconomicus.
Die dritte Konsequenz des Liberalismus liegt für Foucault in Mechanismen innerhalb dieser neuen Regierungskunst, welche die Funktion haben, „Freiheiten herzustellen, einzuflößen und höher zu bewerten, ein Mehr an Freiheit durch ein Mehr an Kontrolle und Intervention einzuführen“ (Foucault 1979: 103). Gilles Deleuze (1990) sieht dementsprechend einen tendenziellen Übergang von der Disziplinar- zu einer Kontrollgesellschaft: Während bis zum Fordismus Mitte des 20. Jahrhunderts die Disziplin stark an die jeweiligen Institutionen gebunden waren, so gehen sie mit dem Postfordismus und Neoliberalismus über in eine noch unsichtbarere Macht in einer Gesellschaft, in welcher die Kontrolle zu einem verinnerlichten und damit vom Selbst nicht mehr abtrennbaren Teil werde. Diese Verinnerlichung und Verkörperlichung von Kontrolle sei begleitet von einem wachsenden ´Demokratisierungsprozess´, der genau auf der Verinnerlichung dieser Kontrolle beruhe.
Dies enthüllt die Begrenztheit der demokratischen Freiheit des souveränen Subjekts im westlichen Denken: Die Freiheit beruht auf der Disziplinierung von Seele und Körper. Diese subtile Form der Regulation – die ´Mikrophysik der Macht´ – sei nicht eine verminderte, sondern im Gegenteil eine ausgeweitete Ausübung von Macht, welche jeden Aspekt des täglichen Lebens umfasse. Während traditionelle Macht durch Sichtbarkeit und Angst wirkten, so arbeite Disziplinierungsmacht gerade durch seine Unsichtbarkeit (vgl. Foucault 1975: 241).
In der liberalen Theorie von Adam Smith im 18. Jahrhundert erfüllte der homo oeconomicus die Funktion eines unberührbaren Elements bei der Ausübung der Macht: der Mensch, der seinen Interessen gehorchte, war aus Sicht der Regierung derjenige, dessen freie Entscheidung als Grundlage der Gesellschaft diente. Dies stellte die Politik des Laisser-faire dar. Der homo oeconomicus im Neoliberalismus dagegen erscheint als jemand, der systematisch auf Variationen reagiert, und damit als handhabbar und hervorragend regierbar. „Der homo oeconomicus ist die Schnittstelle zwischen der Regierung und dem Individuum“, bringt Foucault diesen Zusammenhang auf den Punkt (1979: 349). Er argumentiert, dass das Modell des Marktes zunehmend dazu diente, eine scheinbare Natürlichkeit der sozialen Entwicklungen zu suggerieren; eine Natürlichkeit, die selbst ein gesellschaftliches Produkt darstelle. Die liberale Regierungskunst orientiert sich an dem Modell des Marktes als ein sich selbst regulierender Organismus. Aber der Neoliberalismus, sei es in seiner Ausformung als Freiburger Schule oder als Chicagoer Schule, unterscheidet sich von Liberalismus durch die Art der Natürlichkeit, die er dem Markt zuschreibt. Während der Liberalismus reinen Laissez-faire in einem abgegrenzten Markt empfiehlt, zeichnet sich der Neoliberalismus durch eine bewusste Implementierung von Rahmenbedingungen aus, die nicht nur den Markt, sondern alle Bereiche der Gesellschaft umfassen (vgl. Gertenbach 2008: 81).
Die Freiheit des moralisch verantwortlichen Subjekts würde auf diese Weise mit der Freiheit des autonomen Marktteilnehmers zur Deckung gebracht werden (vgl. Lemke 2000: 252ff). Entsprechend ist es kein Zufall, dass die neue Eugenik der fit&fun-Philosophie entspringt. James D. Watson, der für seine Entzifferung der Struktur der Erbinformationen den Nobelpreis erhielt, äußert sich Anfang des 21. Jahrhunderts, es sollten „jene gar nicht erst geboren werden”, welche keine Chance besäßen, „als gleichberechtigt anerkannt zu werden, sobald man einen Raum betritt” (zit. na. Hund 2006: 117). Über die positive Bestimmung der ´Person´, also des Interessenträgers bzw. des selbstbewusst und zielorientiert Handelnden wird die Gruppe der ´Nicht-Personen´, der ´vegetativen Existenzen´ abgegrenzt, aber nicht näher definiert (vgl. Bogner 2000). Nur Individuen, die selbst entscheiden können und autonom sind, besäßen demnach Lebensqualität; Selbstbestimmung wäre die Basis der Menschenrechte; entfällt sie, so fehlt auch das Lebensrecht. Genetische Information als ´Code des Lebens´ wird so zum ´Schlüssel zur Freiheit´.
3.2. bei uns selbst
Zu Solidarität, gar zu Liebe, mit uns selbst aufzurufen, scheint in unserer Gesellschaft zunächst, wie Eulen nach Athen zu tragen. Selbstverwirklichung gilt als oberstes Gebot. Doch ´Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst´ heißt, darauf haben viele Theolog_innen hingewiesen, sowohl ´Liebe Deinen Nächsten nicht weniger als Dich selbst´ als auch ´Liebe Dich selbst nicht weniger als Deinen Nächsten´. Wahrscheinlich sind tatsächlich wenige in der Versuchung, letzteres zu tun, doch hierfür ist nicht nur Selbstliebe der Grund. Die Antwort findet sich auf mancher kitschigen Postkarte, deren gemeinsame Grundaussage lautet: die Fähigkeit, andere zu lieben, bedarf der Liebe zu sich selbst. Doch Liebe zeichnet sich dadurch aus, einen Menschen anzunehmen, so wie er ist. Eine Liebe, die Bedingungen stellt, ähnelt dagegen wiederum dem Äquivalententausch – und trägt stets die Drohung in sich, fallengelassen zu werden. Viele Menschen heute aber lieben sich (und vielleicht auch ihre Partner_innen) nur, wenn sie den gesellschaftlichen Anforderungen genügen.
Der hohe Stellenwert von Selbstverwirklichung in unserer Gesellschaft kann durchaus als emanzipatorische Errungenschaft verstanden werden – doch erstens entstammt dieser durchaus nicht in erster Linie dem kapitalistischen System als solchem, sondern Bewegungen zu seiner Überwindung, und zweitens kann unter Selbstverwirklichung sehr Unterschiedliches verstanden werden.
Hierzu ein historischer Rückblick:
In den 1950er Jahren begannen einige wenige renegatische Psychoanalytiker_innen, Patient_innen zu ermutigen, ihre geheimsten Gefühle herauszulassen. Bis dahin war oberstes Gebot der Psychoanalyse, durch die Anpassung an die Gesellschaft die zerstörerischen Triebe, die unterhalb der zivilisatorischen Schicht lauerten, bezwingen zu können. Sigmund Freud und später seine Tochter Anna Freud hatten diese Theorie in den Gräueltaten der beiden Weltkriege bestätigt gesehen. Auch die Tatsache, dass bei 49 Prozent der vom Kampf abgezogenen US-Soldaten psychische Probleme der Grund waren, wurde nicht auf die Erlebnisse im Schlachtfeld zurückgeführt, sondern darauf, dass sie in eine Situation geraten waren, die ihnen die Aufrechterhaltung der zivilisatorischen Decke über ihrem Inneren nicht erlaubte. Als Reaktion startete in den USA 1946 das ´national mental health program´ mit der landesweiten Einrichtung von lokalen guidance center, an welche sich die Bevölkerung bei psychologischen Störungen wenden konnte. Die Therapie bestand stets in der größtmöglichen Anpassung an die gesellschaftlichen Normen und Verhaltensweisen.
Wilhelm Reich dagegen argumentierte umgekehrt: das Innere des Menschen sei gut, und erst die Gesellschaft mache es schlecht. Wenn die Libido nicht mehr unterdrückt werde, könnten sich Menschen frei zum Guten hin entfalten. Seine Theorie (die sich allerdings zunehmend der These widmete, diese Energie sei als ´Orgon´ überall vorhanden und durch Orgon-Akkumulatoren für Heilungsprozessen einfangbar) wurde ab Ende der 1940er Jahre bekämpft. Seine Versuche wurden verboten, und Reich, da er sie dennoch weiterführte, 1956 zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, seine Anlagen zerstört und die Literatur in seinem Institut verbrannt. Er selbst starb ein Jahr später im Gefängnis an Herzversagen.
Zur selben Zeit begann Martin Luther King, in seinen Reden zur Nicht-Anpassung an das Schlechte in der Gesellschaft aufzurufen:
„Modern psychology has a word that is probably used more than any other word. It is the word ´maladjusted´. Now we all should seek to live a well-adjusted life in order to avoid neurotic and schizophrenic personalities. But there are some things within our social order to which I am proud to be maladjusted and to which I call upon you to be maladjusted. I never intend to adjust myself to segregation and discrimination. I never intend to adjust myself to mob rule. I never intend to adjust myself to the tragic effects of the methods of physical violence and to tragic militarism. I call upon you to be maladjusted to such things.”
Mit den Protestbewegungen der 1960er Jahre wurde der Ansatz, psychische Probleme seien lediglich eine Folge unzureichender Anpassung an die Gesellschaft, endgültig in Zweifel gezogen. Nun ging es stattdessen um die Umwälzung der Gesellschaften und ihrer Re-gierungen. Diese reagierten auf die Aktionen der Neuen Linken mit Repression.
Mit dieser Repression, aber auch mit Unzulänglichkeiten eigener Politikansätze konfrontiert, begannen vor allem in den USA und Westeuropa viele aus der Neuen Linken sich der Idee zuzuwenden, dass es erst der Selbstveränderung bedürfe, um die Welt zu verändern; dass, wenn die inneren Kontrollen abgeworfen werden könnten, neue Menschen entstünden und hieraus wie von selbst eine neue Welt.
Stew Albert, Mitte der 1960er Jahre Gründungsmitglied der US-amerikanischen, anarchisch ausgerichteten Yippie-Partei, erinnert sich an Mitte der 1970er:
„Menschen, die vorher politisch aktiv waren, wurden überzeugt, wenn sie sich selbst zu gesunden Individuen verändern könnten, und wenn eine Bewegung entstünde mit dem Ziel, dass sich Menschen verändern, dann würde nach einiger Zeit diese ganze positive Veränderung aus Quantität in Qualität umschlagen, und eine Art spontaner Transformation der Gesellschaft stattfinden. Politischer Aktivismus war aber nicht notwendig.“
Es entstand die ´human potential movement´. Wochenendseminare zum Thema ´how to be yourself´ wurden allerdings selbst zur Massenabfertigung. Nicht zuletzt Werner Erhard produzierte das autonome Selbst gerne in großen Hallen; es durften auch mal an die 1000 Teilnehmende sein. Im Rückblick formuliert er:
„Die These der Human Potential-Bewegung war, dass da etwas wirklich Gutes tief drinnen sei, und dass, wenn du diese Schichten entfernen würdest, womit du zurückbliebest, … das wahre Selbst – das würde etwas Wunderbares sein. In Wirklichkeit waren das Ergebnis Menschen, die bis zu der letzten Schicht vordrangen, diese frei legten und fanden – dass sie nichts fanden.”
Dies sei befreiend gewesen.
„Das Nichts ist ein sehr powervoller Platz, denn nur aus dem Nichts heraus kannst du etwas erschaffen. Von diesem Nichts aus waren sie fähig, ein Leben zu erschaffen, sich selbst zu erschaffen. Sich selbst neu zu erfinden. Was du sein wolltest, konntest du sein.“
Die politische Motivation verschwand, das Individuum blieb. Jerry Rubin, ebenfalls Mitbegründer der Yippie-Partei, beschrieb in einem Interview 1978 seine eigene Veränderung im Vergleich zu 1968:
„Ich war bereit zu sterben; ich hatte eine Art Märtyrerkomplex. Ich denke, wir alle hatten den. Ich habe dieses Ideal der Aufopferung aufgegeben. Ich bin nicht mehr dermaßen überwältigt von Ungerechtigkeiten, wie ich das war. Und nun haben wir uns von innen heraus wiedergeboren“ (ebd.).
Selbstverwirklichung ersetzte Politik und galt nicht länger als egoistisch, sondern als oberste Pflicht. Diese Botschaft deckte sich hundertprozentig mit der liberalen Ideologie.
1976 veröffentlichte Josef Kirschner sein Buch ´Die Kunst, ein Egoist zu sein´, welches sich zum Bestseller entwickelte. Die Grundthese dieses Werkes lautete:
„Wir alle sind Egoisten, aber nur wenige verstehen es, das Beste für sich daraus zu machen. Die meisten Menschen passen sich lieber der Mitwelt an. Sie tun alles, um geliebt, gelobt und anerkannt zu werden. Damit machen sie sich zu Marionetten allgemeiner Verhaltensklischees und verzichten darauf, ihr eigenes Leben zu leben” (1976: Klappentext).
Doch, es gab sie: die Menschen, die ihr Innerstes entdeckten und dennoch links blieben. Wie könnte ich das verschweigen – bin ich doch durch genau solche Menschen um 1980 politisch sozialisiert worden: von christlichen Marxist_innen, von Freundinnen in der feministischen Bewegung, von Freund_innen in der Friedensbewegung. Und ich bin tief überzeugt, dass diese Verbindung ganz wesentlich für viele positive Entwicklungen innerhalb der Neuen Sozialen, und später der globalisierungskritischen Bewegung war – getragen von Menschen, die sich nicht mehr gegenseitig mit stalinistischen Maßnahmen quälten, die verstanden hatten, dass das Persönliche politisch ist und Veränderung immer im Hier und Jetzt beginnen muss.
Doch die neue Welt, welche aus der Human Potential-Bewegung erwuchs, sah anders aus als erhofft. Dabei hatte sich auch der Mainstream verändert: Waren 1970 nur drei bis fünf Prozent der Bevölkerung vom neuen Zeitgeist ergriffen gewesen, zählte 1980 schon die große Mehrheit der Bevölkerung dazu, bis zu achtzig Prozent: Weg vom angepassten Subjekt, hin zum autonomen Individuum. Dies ging an den Werbeagenturen nicht vorbei. 1978 wurde vom kalifornischen Stanford Research Institute (SRI) beschlossen, diese Bedürfnisse zu messen und zu befriedigen. Fragebögen mit sehr persönlichen Fragen wurden versandt. Statt wie üblich immer wieder nachhaken zu müssen, kamen sofort 86 Prozent beantwortet zurück, oft verbunden mit der Erkundung, ob es davon nicht noch mehr gebe? Die hierfür am SRI zuständige Amina Marie Spengler, erklärt sich dies im Rückblick: “Because we were asking people to think about things that they had never thought about before and they liked thinking them. Like what they felt inside, what motivated them, what was their life about, what was important to them. It was sort of like, wow”. Die Antworten wurden im Computer analysiert und quer über alle sozialen Klassen hinweg nach Typen der Selbstverwirklichung kategorisiert. Das SRI-Team führte hierfür einen neuen Begriff ein – lifestyles. Ein vereinfachter Fragebogen des SRI erlaubte es, jede Individualität nach nur 30 Kernfragen in eine dieser Gruppen einzuteilen. Es erlaubte dem Handel zu identifizieren, welche dieser Gruppen das eigene Produkt erwarben und wie dieses beworben musste, um zum machtvollen Ausdruck des jeweiligen Lebensstils werden zu können – und so kommt es, dass ich beim Schreiben dieses Abschnitts beim Suchen nach den im Web am häufigsten verwandten Übersetzungen von ´self-expression´ Beispiele finde wie diese: „Greyhound-Kühlerfigur mit Sweater: Das Auto bietet die Möglichkeit, sich auszudrücken, sich positiv von seinen Mitmenschen zu unterscheiden“.
Politiker_innen nahmen dies auf – nicht zuletzt Margret Thatcher und Ronald Reagan. Margaret Thatcher formulierte auf der Conservative Party Conference 1975:
“Some socialists seem to believe that people should be numbers in a state computer. We believe they should be individuals. We’re all unequal. No one thank heavens is quite like anyone else however much the socialists may pretend otherwise and we believe that everyone has the right to be unequal. But to us every human being is equally important. A man’s right to work as he will, to spend what he earns, to own property, to have the state as servant and not as master, they are the essence of a free economy. On that freedom all our other freedoms depend“.
Zwölf Jahre später als Primierministerin formuliert sie: „There is no such thing as society”.
Doch nicht nur Konsument_innen veränderten sich, auch die Produzent_innen: Wo vorher der Facharbeiter gefragt war, fähig, ein Leben lang und massenweise mehr oder weniger dasselbe herzustellen, bedurfte es nun flexiblen Produktionsformen. Auch dieser Ausbruch aus dem engen Korsett des fordistischen Normalarbeitstages (der allerdings in der Regel nur für inländische Männer gegolten hatte) wurden von vielen als befreiend erlebt, und muss durchaus ebenfalls in Verbindung mit den Folgen der 1968er Bewegung gesehen werden.
In den britischen staatlichen Behörden brach Thatcher mit der strikten Weisungs-gebundenheit; Beschäftigte hatten nun im Rahmen von Vorgaben eigenständig zu handeln. Schon in den späten 1970ern erkannte Foucault, im Neoliberalismus sei der homo oeconomicus zum Unternehmer seiner selbst geworden, der für sich selbst sein eigenes Kapital, sein eigener Produzent und seine eigene Einkommensquelle darstelle (vgl. Foucault 1979: 314). So fragte ein Selbstmanagement-Ratgeber 1991: „Sind alle Ihre Persönlichkeitsteile voll im Einsatz? Arbeitet jeder Teil an der Stelle, wo er seinen Fähigkeiten entsprechend optimale Ergebnisse erzielen kann?“.
Entsprechend gilt: Durfte früher das Lächeln der Verkäuferin noch etwas mechanisch und routinemäßig erscheinen, muss heute Gefühlsarbeit persönlich und echt wirken. Wer das nicht von alleine hinbekommt, dem wird bei der japanischen Eisenbahn ebenso wie im Krankenhaus in Osaka inzwischen mit einem ´smile scan´ nachgeholfen. Ob das übliche Morgenmuffeln oder Stress mit dem Partner daran schuld sein mag, dass die 100 Prozent Lächelpotenzial nicht ausgeschöpft werden, interessiert den Computer nicht. Wer es nicht schafft, bei der digitalen Auswertung der einzelnen Lachfalten im Gesicht (wichtig: nicht nur der Mund, auch die Augen müssen mitlächeln) das Optimum zumindest annähernd zu erreichen, muss sitzen bleiben und den Anweisungen des Computers folgen: „Stellen Sie sich vor, glücklich zu sein“, heißt beispielsweise ein Tipp des Geräts.
Was aber passiert, wenn sich das jemand vorstellt? Untersuchungen haben ergeben, dass die Frage, was ´wirklich´ empfunden wird, selbst für die Beschäftigten in Berufen, in denen ständiges Lächeln verlangt wird, nicht mehr beantwortbar ist. Vielleicht meint die japanische Schaffnerin sogar, was sie sagt, wenn sie bekundet: „Der Smile-Scan ist im täglichen Umgang mit den Kunden sehr hilfreich. Er hat mir wirklich sehr geholfen, viel natürlicher zu lächeln“. Muss dazu gesagt werden, dass sie im Interview so wirkt, als würde sie sich tatsächlich darüber freuen?
Das ist vielleicht der entscheidende Punkt – und entspricht der Analyse Foucaults, dass in unserer Gesellschaft die äußerliche Kontrolle zunehmend durch die Verinnerlichung von Ansprüchen ersetzt wird. Nicht, weil unser Chef uns dazu zwingt, versuchen wir, freundlich zu sein, sondern weil wir selbst unser berufliches Fortkommen vor Augen haben – und sich Individuen immer mehr als Person an betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien und unter-nehmerischen Kalkülen ausrichten. Die Selbstverwaltung des individuellen Humankapitals greift dabei jedoch weit über das Berufsleben hinaus und kennt weder Feierabend noch Privatsphäre, so der Soziologe Ulrich Bröckling: Das Ich kann sich nicht entlassen. Unternehmer seiner selbst bleibt das Individuum auch, wenn es seine Anstellung verlieren sollte. „Als bloßes Rollenspiel würde das Selbstmarketing seine Wirkung verfehlen; der Einzelne muss sein, was er darstellen will. Es macht deshalb wenig Sinn, hier in kritischer Absicht Charaktermasken entlarven zu wollen“ (Bröckling 2000: 155/160).
Dumm nur, dass wir auch bei hundertprozentigem Lächelerfolg nicht hundertprozentig in diesem Gefühl aufgehen: Beruflich angeordnetes Lächeln kann Stress auslösen und zu Blut-hochdruck oder Herz-Kreislauf-Problemen führen, wie eine Studie von Psycholog_innen an der Universität Frankfurt/ Main ergab – sowie zu Depressionen. Um aber nicht im Beruf ersetzt zu werden, muss das Idealbild nach außen aufrecht erhalten werden; wer zeigt, dass er leidet, hat schon verloren. Doch wer Depressionen hat, wird dazu nicht mehr fähig sein. Trotz Smile Scan.
Das Bundesgesundheitsministerium geht von derzeit vier Millionen Deutschen aus, die akut behandlungsbedürftig von einer Depression betroffen sind – unter Zunahme der Dunkelziffer wird zum Teil das Doppelte geschätzt. Dazu kommt die Grauzone: Nicht depressiv zu sein, muss nicht bedeuten, glücklich zu sein. Silvia Uhle, Leitende Psychologin an der Christoph-Dornier-Klinik für Psychotherapie in Münster, verzeichnet allgemein „eine massive Zunahme, was psychische Störungen angeht. Und Leistung ist dabei ein extremes Thema“. Sie nennt Angststörungen, Zwangserkrankungen, Essstörungen und Depressionen. In den letzten zehn Jahren, seit der Jahrtausendwende, kam es in Deutschland zu einer Verdreifachung der verabreichten Antidepressiva. Immerhin einen positiven Effekt sieht Tom Bschor, Chefarzt der Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie am Jüdischen Krankenhaus Berlin, damit verbunden: Die Vorurteile gegenüber Depressiven würden seltener. Das ist auch für die Zukunft wichtig, denn die Weltgesundheitsorganisation vermutet, dass Depression in wiederum zehn Jahren (2020) zur weltweit zweithäufigsten Ursache für durch Krankheit „verlorene“ Jahre sein wird. Schon heute nehmen sich weltweit aufgrund von Depressionen 850.000 Menschen jährlich das Leben.
Das sind nicht immer nur die, die weit weg sind. Es sind vielleicht auch die, die wir selbst kennen. Sicher haben da immer auch andere Faktoren hineingespielt, aber bei manchen wissen wir vielleicht: Sie hat sich immer als Versagerin gefühlt, trotz all der Energie, die sie in Taten umsetzte. Er wollte nicht mit ansehen, wie alles, was er materiell erreicht hatte, an die Bank fallen und er verschuldet als Versager dastehen würde. Sie hat es sich nie verziehen, in den Monaten der Bewusstlosigkeit ihres Mannes diejenige gewesen zu sein, die das Unternehmen für bankrott erklären musste.
Hinter jedem dieser Sätze steht ein Mensch, der mir einmal nahe war.
Der französische Soziologe Alain Ehrenberg machte schon 1998 in seinem Buch ´Das erschöpfte Selbst´ auf den explosiven Anstieg von Depressionen aufmerksam sowie auf einen allgemeinen Zustand der Erschöpfung; auch Schmerzen stellten oft eine maskierte Depression dar. Im selben Jahr hatte eine nationale Planungskommission die wachsende Anfälligkeit der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter als radikal neues Phänomen bezeichnet (1998: 243). Eine weitere Studie mit Hilfe von 813 Allgemeinmediziner_innen hatte ergeben, dass von den bewerteten 15076 Patient_innen mehr als ein Drittel über Erschöpfung und Schlaflosigkeit, das Gefühl, blockiert zu sein sowie Gedächtnis- und Konzentrationsprobleme klagte (1998: 228). Seit Mitte der 1980er Jahre verzeichneten Arbeitsmedizin und Unternehmensforschung die neue Bedeutung von Angst, psychosomatischen Störungen und Depressionen (1998: 245).
Ehrenberg zieht eine Verbindung mit, wie Foucault es ausdrücken würde, der neuen neoliberalen Regierungsweise und Depression. An die Stelle der Kennzeichen, welche Standeszugehörigkeit und Privilegien sichtbar machten, sei ein System von Normalitätsgraden getreten, so Foucault. Diese zeigten die Zugehörigkeit zu einem homogenen Gesellschaftskörper an, wirkten dabei jedoch klassifizierend, hierarchisierend und rangordnend (vgl. Foucault 1975: 237). Ehrenberg schreibt: „Die Karriere der Depression beginnt in dem Augenblick, in dem das disziplinarische Modell der Verhaltenssteuerung, das autoritär und verbietend den sozialen Klassen und den beiden Geschlechtern ihre Rolle zuwies, zugunsten einer Norm aufgegeben wird, die jeden zu persönlicher Initiative auffordert: ihn dazu verpflichtet, er selbst zu werden“ (1998: 14f). Zur Zeit Sigmund Freuds, als die Menschen durch Zwang dazu gebracht wurden, einer Norm zu entsprechen, sei dagegen die Neurose typisch gewesen. „Wenn die Neurose das Drama der Schuld ist, so ist die Depression die Tragödie der Unzulänglichkeit […] Die Depression ist das Drama einer neuen Normalität, die zugleich eine neue Normativität ist“ (1998: 23/140). Die erste Welle der Emanzipation habe jeden aufgerufen, sich an die Eroberung seiner eigenen Identität zu machen, die zweite Welle rufe dazu auf, durch persönliche Initiative soziale Erfolge zu erzielen (1998: 245). Das Unternehmen sei das Vorzimmer der nervösen Depression geworden (1998: 245). Sei es bei der Neurose die Schuld gewesen, die im Zentrum stand, als Schuldgefühl, den Disziplinen nicht entsprechen zu können, so sei es bei der Depression die Scham – nicht gut genug, nicht perfekt zu sein, wofür sich das Subjekt als selbst verantwortlich erlebe, „als ob es wie ein Gott glaubte, sich selbst geschaffen zu haben“ (1998: 171).
Nicht zu den Depressionen zählen die Süchte: Alkohol, Medikamente, harte Drogen – doch handelt es sich oftmals auch um eine Flucht vor der Depression in die Sucht, so Ehrenberg (1998: 22). Süchte dienten dazu, einen Ausgleich zu schaffen, und könnten daher als eine Form von Selbstmedikation bei Depression betrachtet werden (1998: 173). Zudem verhinderten die damit verbundenen Zwangshandlungen die Auseinandersetzung mit (inneren) Konflikten. Dies gelte für Alkohol oder Rauschgift, aber auch für Essen oder die Internetsucht. Dabei erscheine bei jenen, bei denen diese Selbstmedikation erfolgreich sei, das allgemeine Verhalten dieser Abhängigen als völlig normal (1998: 175). Doch die Abhängigkeit bleibe. „Psychiater weisen immer wieder darauf hin, dass Abhängigkeit einem Begriff des römischen Rechts entstammt, das einen Schuldner, der seine Schuld nicht bezahlen kann, dazu verpflichtet, mit seinem Körper zu bezahlen – also eine Form des Dienens oder der Versklavung“ (1998: 176). Wieder einmal entpuppt sich die scheinbare Freiheit als Versklavung.
Die Angst davor, man selbst zu sein, werde zur Erschöpfung davon, man selbst zu sein, und die Depression bremse die Allmacht, die der virtuelle Horizont der Emanzipation sei, so Ehrenberg (1998: 180f). Er sieht sogar einen Zusammenhang mit zwei Ereignissen Anfang der 1980er Jahre in Frankreich, die für Deutschland genauso gelten können: Zum einen dem Scheitern einer linken Regierung mit ihrem gesellschaftlichen Projekt, und zum anderen der Tatsache, dass der Unternehmenschef zum allgemeinverbindlichen Modell des Handelns erhoben wurde. Diese zwei Ereignisse hingen zusammen und stünden für das Ende der beiden großen reformistischen und revolutionären Utopien, die das Wesen des Fortschritts-gedankens ausmachten – die Gesellschaft als Solidar¬gemeinschaft und die Alternative zum Kapitalismus (1998: 244).
Doch ist dies wirklich Emanzipation, wie Ehrenberg schreibt? Können wir unsere Selbst-verwirklichung als Menschen nicht anders leben, als Depressionen und Süchten verfallend? „Liegt der Grund für den Anstieg von Depressionen und anderen psychischen Krankheiten, der steigende Konsum von Antidepressiva in der Freiheit? Macht zuviel Freiheit krank?“, wie im virtuellen Philosophieforum PhilTalk gefragt wird? Und sind wirklich schon alle Varianten einer solidarischen Gesellschaft gescheitert? Ist dies das Ende der Geschichte? Oder geht es noch in Richtung der Schönen Neuen Welt weiter, in welcher alle statt der Droge Soma nun die Droge Prozac nehmen? Ehrenberg verweist auf den Psychiater Peter Kramer, welcher in seinem Buch Glück auf Rezept sich dafür ausgesprochen hatte, die Verschreibung von Psychopharmaka außerhalb der Diagnostik zu denken. Kramers Sicht des Subjekts sei utilitaristisch und stimme mit Benthams Methode und der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft überein: eine Gesellschaft werde darauf errichtet, bewusst die Neigungen der Menschen zu benutzen. Kramer ist der Ansicht, dass die Ausweitung des Gebrauchs eines solchen Medikaments keinen Bruch in der Gesellschaft darstelle, weil der entsprechende Gedanke in der Medizin schon gut eingeführt sei: Schließlich gebe es auch Mittel gegen Glatze oder Akne im Jugendalter, die Schönheitschirurgie, Östrogene, um die Beschwerden der Menopause zu mindern und so weiter. Ehrenberg zitiert Kramer dabei nicht als abschreckendes Beispiel, sondern bedauert, dass dessen These nie ernsthaft diskutiert wurde (1998: 276/279).
Und auch eine scheinbar so harmlose Sucht wie nach Essen kann zu ´verlorenen Jahren´ führen. Manche ehemalige Esssüchtige, in der Szene ´Genesende´ genannt, da die völlige Überwindung sich über Jahre und Jahrzehnte hinziehen oder aber auch nie vollendet werden kann, zählen die Jahre ihrer Esssucht gar nicht mit: Diese Jahre fühlen sich nicht nach gelebten Jahren an. Es wird derzeit von fünf Millionen esssüchtigen Frauen und, zunehmend, Männern in Deutschland ausgegangen.
Im Folgenden möchte ich hierzu aus einem Essay von Thea Wrobbel aus dem Jahr 2009 in Länge (wenn auch in sich sehr stark gekürzt) zitieren. In diesem beschäftigt sie sich im Zusammenhang mit Foucaults Theorie mit dem Phänomen der thinspiration, eine überwiegend internetgestützten Bewegung von jungen Frauen, welche offensiv sich zu ´ihren Freundinnen´ Ana (Magersucht oder Anorexia Nervosa) und Mia (Essbrechsucht oder Bulimia Nervosa) bekennen.
„Diäten gelten als akzeptierte Normalität in der heutigen Gesellschaft. Das Anpassen an hegemoniale Ideale auf der Suche nach gesellschaftlicher Anerkennung nimmt einen beträchtlichen Raum ein, beeinflusst und strukturiert das Verhalten. Diäten waren ursprünglich einem anderen Zwecke dienlich, wie dem Verzicht auf Nahrungsmitteln, die eine Unverträglichkeit hervorrufen, der Einhaltung einer vorgeschriebenen Ernährungsweise um eine Krankheit zu kurieren und die Medikamentenwirksamkeit zu garantieren. Mit dem Bruch des Schönheitsideals von Fülle zur Magerkeit bekam auch der Terminus Diät eine neue Bedeutung zugeschrieben. Nicht länger wird der Gesundheitszustand des Körpers gefördert, sondern es dominiert das Streben nach bedingungsloser Schlankheit, vorgelebt in den Medien. Zudem herrscht ein ´extreme fat prejudice in Western society, and the intolerance for a diversity of sizes and shapes´ .
Thinspiration ist gleichzusetzen mit der Verherrlichung der Magersucht. Das Durchhaltevermögen, die Kraft und die Willensstärke unter der Betrachtung des Hungerns werden gelobt, gerühmt, gepriesen. Die Magersucht gilt als „fulfillment of an individual’s divine right to perfection through the maximization of personal potential” . Das Mittel zum Ziel ist Kontrolle. Selbstkontrolle als Weg zur Perfektion. Die vier Grundsäulen der Thinspirationbewegung sind ´control, austerity, persistence and endurance´ . ´This was the plan. I would get 1 spoonful of yogurt, every hour, on the hour, and that would be my meal for the day. No more, no less. It was 8:00 am. If I went to bed at 10:00 I would get…14 spoonfuls of yogurt. Yeah. That sounded right´ . Die Unterteilung in Zeitabschnitte und die Kontrolle über den Hunger üben Macht über den Körper aus. Er wird diszipliniert. Nicht länger wird das physische Wohlergehen beachtet. Vielmehr beginnt der Kampf um Perfektion.
Die Disziplinierung und damit verbundene Unterwerfung des Individuums gliedert sich in vier verschiedene, sich größtenteils gegenseitig bedingende Techniken, um aus einem Subjekt einen ´gelehrigen Körper´ zu formen und die Seele zu züchtigen. Die Techniken üben ihren Einfluss auf mikroskopisch kleine Bestandteile des Verhaltens aus. ´Subtile(n) Maßnahmen von scheinbarer Unschuld´ disziplinieren und normieren das Subjekt. Schönheitsideale werden gepriesen, Makellosigkeit erwartet. Äußerliche Attribute transformieren sich zu dem Indikator für die Akzeptanz innerhalb der Gesellschaft. Man orientiert sich an dem vorgegeben Soll. Ähnlich wie am Beispiel des Panopticon und den damit verbundenen Disziplinarmaßnahmen fangen die Normen an, sich in die Gedankenwelt des Individuums einzuschleichen. Es wird der Drang empfunden sich anzupassen, da ansonsten Missfallen in der Gesellschaft erwartet wird.
[Laut Foucault] bestehen die vier Techniken der Disziplinierung aus der Kunst der Verteilung, der Kontrolle der Tätigkeit, der Organisation von Entwicklungen und der Zusammensetzung der Kräfte. Analog zu den vier Techniken zum Aufbau der Disziplinarmacht funktioniert die Entwicklung der Magersucht. Klausur, Kontrolle der Tätigkeit, regelmäßige Prüfungen, Steigerung der Leistung durch die Partizipation im Onlineforum aufgrund der dort gefundenen Unterstützung. Zunehmende Abschottung und Abgrenzung von Freunden und Familie führen zur Isolation. Anaprincess ist ihr eigener Wächter, stellt ihre eigenen Regeln auf und verliert sich in diesen. Sie ist gefangen im ihrer eigenen Kontrolle, ihrem selbst errichtetem Gefängnis“ (Wrobbel 2009).
Gefühltes Gefängnis statt Freiheitsgefühl, Isolation statt Solidarität, Selbsthass statt Selbst-liebe. Auf den meisten Blogs stehen Sätze wie dieser: „Verdammt, gerade habe ich wieder zugenommen. Wenn ich doch erst wieder so schlank wäre wie letzten Winter“. Bei einigen Zitaten auf diesen Seiten wird sogar Selbstquälerei offensichtlich: „Du willst essen? Okay, dann aber erst soundsoviele Sit-ups vorher.“ Wenn mensch sich die einzelnen Befehle an die eigene Person als Ansagen an ein Gegenüber vorstellt, wird der sadistische Aspekt überdeutlich. Dazu Fotos von Frauen mit Entstellungen durch Magersucht bis hin zu dem Bild einer Leiche von einer jungen Frau mit dem Kopf am Toilettenbecken, und dem lakonischen Hinweis, ihr sei nach über fünf Litern Essenaufnahme bei 43 kg Körpergewicht der Magen geplatzt – und gleichzeitig nennt sich die Bloggerin selbst ´Hungerkünstlerin´.
Was macht es, Ana zur Freundin zu erklären? Die Hungerkünstlerin gibt zwei Gründe für den Austausch und die Verbreitung der thinspiration-Philosopie im Ana-World-Forum an: „1. um andere zu motivieren und 2. um die Erfolge registrieren zu können.“
Foucault macht darauf aufmerksam, dass Individualität ausschließlich im Sinne einer Rangfolge verstanden wird: Es geht nicht darum, anders zu sein, sondern darum schlanker zu sein, schöner zu sein, sportlicher zu sein, und ebenso darum, auf der Notenskala weiter oben zu stehen, erfolgreicher zu sein, mehr Geld zu verdienen. „Es ist ein besonderer Kick, zu wissen, dass man etwas bewältigen kann, was nicht jeder schafft.” Dieses Zitat einer 36jährigen Läuferin zur Zugspitze am 18. Juli 2009, den sie in ihrer Altersklasse mit dem 12. Platz belegte, der von mehreren jedoch nicht überlebt wurde, veranlasste die Redakteur_innen von Radio Alice im Bayrischen Rundfunk, sich nochmals mit dem Buch von Ehrenberg zu beschäftigen. Ihre Schlussfolgerung: „Im Neoliberalismus leben wir in der Illusion einer klassenlosen Gesellschaft, in der sich angeblich jeder ständig neu erfinden kann. Wer am schnellsten studiert, wer die besten Noten hat, wer am längsten arbeitet, der wird es schon schaffen. Und wer im Beruf die Gipfel nicht in Rekordzeit erklimmt, der erklimmt sie halt in der Freizeit beim Sport oder an sich selbst mit Hilfe eines Schönheitschirurgen.“
Dieser Selektionsprozess verbildlicht sich im ´survival of the fittest´, und manifestiert sich im Ideal des homo oeconomicus. Und es ist dieser normierte Normalitätsgrad, der als ´das Natürliche´ gilt und das von ihm Abweichende ausschließt. Demnach erscheint alles als störend, was individuell vom Ideal abweicht – so wie die Wirtschaftsmodelle nicht zum ´natürlichen Gleichgewicht´ finden bzw. nicht funktionieren, wenn sie nicht in jeder Hinsicht perfekter Ideal-Annahmen unterliegen. Die Menschen werden austauschbar durch die Perfek¬tion. Bereits Adorno und Horkheimer formulierten, Individualität werde „nur so weit geduldet, wie seine rückhaltlose Identität mit dem Allgemeinen außer Frage steht“ (Horkheimer/ Adorno 1944: 163).
Richard Sennett zeigt in seinem Buch Der flexible Mensch (1998), wie der moderne Kapitalismus die Verantwortung für den Anderen in das ´teamwork-Wir´ einer flachen Gemeinschaft und damit in Gleichgültigkeit verwandelt. Der Andere könne immer beliebig ersetzt werden (vgl. Sennett 1998: 159ff). Damit verliere er seine Einzigartigkeit im Sinne von Emmanuel Lévinas, der Ethik als die Beziehung zum Anderen definiert. Gleichzeitig löse sich der Selbstwert des Subjekts, das sich nach Lévinas vornehmlich vom Anderen her entwickelt, in der Reduktion auf die Quantität des Tauschverhältnisses auf (vgl. Sennett 1998: 200ff; Moebius 2003: 33).
Um nicht selber ersetzt zu werden, muss das Idealbild nach außen aufrecht erhalten werden. Alain Ehrenberg bringt es auf den Punkt: „Der Narzissmus ist nicht die Eigenliebe, aus der Lebenslust entspringt, sondern das Gefangensein in einem derart idealen Bild seiner selbst, dass es einen ohnmächtig macht und lähmt“ (1998: 167). Zu Solidarität mit sich selbst in unserer Gesellschaft aufzurufen, ist also alles andere als Eulen nach Athen zu tragen.
Oder in den Worten Foucaults:
„Das zentrale politische Problem ist wohl das der Gegenwart und dessen, was wir in eben diesem Moment sind. Wobei das Ziel heute weniger darin besteht, zu entdecken, als vielmehr abzuweisen, was wir sind. Wir müssen uns das, was wir sein könnten, ausdenken und auf¬bauen, um diese Art von politischem ´double-bind´ abzuschütteln, der in der gleichzeitigen Individualisierung und Totalisierung durch moderne Machtstrukturen besteht. Abschließend könnte man sagen, dass das politische, ethische, soziale und philosophische Problem, das sich uns heute stellt, nicht darin liegt, das Individuum vom Staat und dessen Institutionen zu befreien, sondern uns sowohl vom Staat als auch vom Typ der Individualisierung, der mit ihm verbunden ist, zu befreien. Wir müssen neue Formen der Subjektivität zustandebringen, indem wir die Art von Individualität, die man uns jahrelang auferlegt hat, zurückweisen“ (Foucault 1982: 250).
3.3. weltweit
„Die ´unsichtbare Hand´ gibt nicht, sie nimmt!“, kommentiert Veronika Bennholdt-Thomsen in ihrem Buch Geld oder Leben. Was uns wirklich reich macht die Hungerrevolten während der Nahrungsmittelkrise von 2008 (2010: 23). Gemeint ist damit die Vernichtung der Subsistenz, die Verwandlung von allen Dingen und Diensten in Ware, während jedes Wirtschaften ohne Geld entökonomisiert und delegitimiert wird. Das Fazit, das Bennholdt-Thomsen zieht, lautet:
„Die Angst vor der Knappheit entsteht im Kopf. Sie macht sich durch Smiths Definition von Wohlstand breit. Der wirkliche Reichtum nahrhafter Lebensmittel, behütender Behausungen und des gesellschaftlichen Zusammenhalts wird durch die eurozentrische, geldgierige, großbürgerliche Brille nicht mehr gesehen. Nur Geld und Waren sind real […] Das Lebenserhaltende wird wegdefiniert, die Subsistenz kann nun ohne moralischen oder rechtlichen Aufwand vorenthalten werden. Es entsteht das moderne Paradox: Knappheit führt zu Wachstum und Wachstum führt zu Knappheit“ (Bennholdt-Thomsen 2010: 28f).
Tatsächlich stellt Bennholdt-Thomsens eingangs zitierter Satz eine treffende Zusammen-fassung der Tatsache dar, dass Hunger, wie er seit der Durchsetzung von Kapitalismus auf der Welt herrscht, vorher unbekannt war. Durchaus kam es zu Hungerkrisen aufgrund von Trockenzeiten oder aufgrund anderer vereinzelter Ereignisse; aber eine Konstanz von Hungerkrise, der seit anderthalb Jahrhunderten jeden Tag Zigtausende zum Opfer fallen – das schaffte vor dem Kapitalismus kein Wirtschaftssystem.
Mike Davis zeigt in seinem Buch Die Geburt der Dritten Welt (im Original: Late Victorian Holocausts. El Niño Famines and The Making of the Third World, 2001), wie durch das liberale Paradigma einer selbstregulierten Ökonomie im letzten Drittel des 19. Jahrhundert zum ersten Mal in einem derartigen Ausmaß Menschen verhungerten; wahrscheinlich waren es mehr als fünfzig Millionen – und das trotz eines ausreichenden Lebensmittelangebots.
Gleichzeitig, so Mike Davis, wurde durch die Entfaltung des Marktes die ´Dritte Welt´ erst gemacht. Die Millionen Toten sind für ihn Folge der Erzeugung von Märkten:
„Millionen starben nicht außerhalb des ´modernen Weltsystems´, sondern im Zuge des Prozesses, der sie zwang, sich den ökonomischen und politischen Strukturen an-zupassen. Sie starben im goldenen Zeitalter des liberalen Kapitalismus; viele wurden […] durch die dogmatische Anwendung der heiligen Prinzipien von Smith, Bentham und Mill regelrecht ermordet“ (2001: 18).
Es bedarf schon eines ausgefeilten Systems, so viel Not zu produzieren, schließlich muss all das Essen, was produziert wird, von all den Hungernden erfolgreich ferngehalten werden. Vom Logistischen abgesehen, ist dabei eine Frage zentral: Wie schafft es der Kapitalismus, dass wir das geschehen lassen? Mit anderen Worten: dass wir uns nicht mit den Hungernden solidarisieren?
Selbstverständlich empfinden wir Mitleid mit ihnen. So, wie uns die armen Rinder oder die Milchkühe mit ihren chronisch entzündeten Eutern leidtun, an die wir vielleicht kurz denken, während wir ein Steak verzehren oder unseren Latte Macchiato schlürfen. Doch Solidarität?
Davis analysiert auch die Erzeugung unseres heutigen Bildes ´des Hungernden´. Er illustriert sein Buch mit Fotos dieser bis auf die Kochen abgemagerten Menschen, welche die Er-zeugung der ´Dritten Welt´ markieren. Jede Herrschaftsform muss die Grenzen zwischen herrschenden und beherrschten Identitäten festschreiben, und die Kolonialreiche benutzten zu diesem Zweck sogar biologische Maßnahmen wie das Verbot ´gemischtrassiger´ Ehen. Jedoch schon die tägliche Erfahrung und das Verhalten als ´Herr´ oder ´Sklave´ (re)konstruiert Identitäten. ´Der Hungernde´ ist eine solche konstruierte Identität, die Wirklichkeit gemacht wurde. Auch diese Identität ist das Produkt des Ausschlusses, während der Kapitalismus als die ´beste aller Welten´ gepriesen wird – sozusagen innerhalb einer Solidar-gemeinschaft von Gewinner_innen.
Ein Schritt in dem Prozess der Konstruktion des Hungernden war ´Temples Lohn´, ein Experiment in den Food for Work-Camps mit dem Ziel herauszufinden, mit wie wenig Essen Menschen überleben können – beziehungsweise nicht überleben konnten (vgl. ebd.: 43ff). Man muss klarstellen, dass Sir Richard Temple, der die koloniale Regierungsgewalt in Bengalen innehatte, kein besonders böser Mensch war. Während einer früheren Hungerwelle 1873-74 ließ er eine halbe Million Tonnen Reis importieren und verhinderte damit ein Massensterben; die offiziellen Statistiken verzeichneten damals lediglich 23 Hungertote. Dies blieb die einzige wirklich erfolgsreiche Hilfsaktion der Briten im 19. Jahrhundert. Temple kam unter starken Druck und seine Karriere war so gut wie ruiniert. Da veränderte er sich. Beim nächsten Mal machte er alles anders.
Nahrungsmittel wurden in jener erneuten Hungersnot nur in absichtlich weit entfernt gelegenen sogenannten relief-camps gegen harte körperliche Arbeit zur Verfügung gestellt. Der Grund: Entsprechend der liberalen Unterscheidung zwischen ´absoluter´ und ´relativer´ Armut darf nur denjenigen in absoluter Armut geholfen werden, um damit den Müßiggang jener zu vermeiden, welche sich anders ernähren könnten; relative Armut wird als für eine Gesellschaft Wertvolles angesehen, da es zum Arbeiten anreizt (vgl. Hayek 1979: 290ff). Die Strapazen, die mit der Erlangung des (nicht einmal) Lebensnotwendigen in diesen Arbeits-lagern verbunden waren, sollten also so hoch sein, dass alle, die noch irgendeine andere Chance zum Überleben sahen, darauf verzichteten. Dass damit gerade jenen nicht geholfen wurde, die es nicht mehr schafften, diese Strapazen auf sich zu nehmen, war kein Denk-fehler, sondern System. Die theoretische Unterscheidung von absoluter und relativer Armut verschwimmt in der Praxis, und absolute Armut kann nicht einfach eliminiert werden.
Um ´Faule´ abzuschrecken, war auch in den Lagern das Essen zu wenig und die Arbeit zu viel: Hierdurch transformierten sich die Identitäten in das, was mit dem herrschenden Bild von herumlungernden Müßiggängern korrespondierte. Als Ergebnis des Temple-Lohnes stieg die monatliche Sterblichkeit derartig an, dass sie einer jährlichen Rate von 94 Prozent entsprach, mit erwachsenen Männern, die weniger als dreißig Kilo wogen (vgl. Davis 2001: 49). Temple selbst konnte nicht mehr glauben, dass diese Wesen selbständige Freibauern gewesen sein sollten; und so reklamierte er, sie seien parasitäre Bettelmönche, welche – wie Davis dieses Zitat sarkastisch kommentiert – letztlich Selbstmord begangen: „Es werden auch nur wenige das Schicksal derer beklagen, das sie selbst zu verantworten haben, und deren Leben in Faulheit oder oftmals als Verbrecher beendet wurde“ (zit. na. Davis 2001: 50). Liberalismus erzeugte damit nicht nur zig Millionen Tote; er erzeugte darüber hinaus Opfer, welche es nicht wert waren, dass man sie betrauerte.
Davis betont mit Blick auf den indischen Vizekönig Lord Lytton, welcher maßgeblich hinter dieser Politik stand: „Es muss fairer Weise davon ausgegangen werden, dass Lytton glaubte, zwischen Finanzen und Menschen, die ohnehin dem Untergang geweiht waren oder über-haupt kein menschenwürdiges Leben mehr führten, abwägen zu müssen“ (2001: 41). Dies kann als Beschreibung auch heute noch gelten. Es ist bekannt, dass unterernährte Kinder weder ihre Intelligenz noch ihre anderen Fähigkeiten voll entwickeln können. Vergessen wird, wer dafür Verantwortung trägt, dass diese Menschen zu dem Untergang Geweihten gemacht wurden.
Auf diese Art und Weise wurden und werden Generationen von Menschen konstruiert, welche von Anfang an zu Armut verdammt scheinen. Sie sind ´unproduktiv´, ´ineffizient´ und unterliegen in der weltweiten Konkurrenz um Ressourcen – scheinbar natürlich und auf der angeblichen Ausgangslage gleicher Chancen für alle. Diese Identitätskonstruktion ´Hungernde´ trägt, während sie paternalistisches Mitleid erzeugt, unbewusst dazu bei, dass diese Subjekte nicht mehr als Menschen im Sinne von Gleichen erkannt werden – damit als Subjekte für Solidarität.
Dies stellt einen wesentlichen Aspekt für die Persistenz des weltweiten Hungers dar. Oder wer könnte sich eine globale Politik vorstellen, welche täglich den Tod von hunderttausend Menschen aus dem Globalen Norden (und Westen) verursacht, und die dennoch über Jahrzehnte hinweg weiterverfolgt wird? Mit allenfalls halbherzigen Versuchen, diesen ´Kollateralschaden´ zu beheben?
Ist es anders zu erklären, dass zehn Jahre, nachdem die UN-Milleniumsziele ausgerufen wurden und damit auch das Ziel, im Vergleich zu 1990 bis 2015 „den Anteil der Menschen zu halbieren, die Hunger leiden“ , die Zahl der Hungernden stattdessen um fast ein Drittel auf eine Milliarde anstieg?
Die politische Hauptleistung des Liberalismus besteht nach Foucault darin, jeden Gedanken an eine soziale Kausalität zurückzuweisen. Denn die liberale Wirtschaftswissenschaft basiert auf der Annahme, dass sich die Wirtschaft selbst reguliert, sofern sie nicht durch staatliche Interventionen daran gehindert wird, und dass sie darum von normativer Politik zu trennen sei. Die ´unsichtbare Hand´, welche alles zum Besten führe, wie es von Adam Smith als erstem ausgeführt wurde, war alles andere als selbstverständlich für seine Zeitgenossen – aber sie wurde es. Damit verdankt die Form der Regierung moderner Gesellschaften Adam Smith mehr als den in einem strengeren Sinne politischen Autoren der Aufklärung wie Locke, Montesquieu oder Rousseau (vgl. Meuret 1994: 14). Denn wenn Regierung nach Foucault immer auf einer umfassenden politischen Rationalität beruht, die ein „diskursives Feld, innerhalb dessen die Ausübung der Macht ´rationalisiert´ wird“ (Lemke 1997: 147) erzeugt, dann lieferte Adam Smith die moderne und bis heute gültige politische Rationalität.
Adam Smith erfindet nicht zuletzt die moderne Angst vor der Knappheit (Bennholdt-Thomsen 2010: 27). Smith lasse die Angst vor der Knappheit als höhere Tugend erscheinen, indem er andere Völker und Menschen früherer Epochen, die mit dem, was sie haben, gut lebten, als ´barbarisch´ und ´unzivilisiert´ darstelle. Die Drohung stehe im Raum: Wenn sich die Menschen der ´gesitteten´ und ´blühenden´ Völker nicht anstrengten, die vorgegebene Knappheit durch gehöriges Wirtschaftswachstum zu besiegen, würden sie ebenso ´jämmer-lich´ arm wie jene sein, die „aus bloßem Mangel häufig gezwungen sind oder sich wenigstens für gezwungen halten, ihre Kinder, ihre Alten und die mit langwierigen Krankheiten Behaf¬teten entweder umzubringen oder den wilden Tieren preiszugeben“ (zit. na. Bennholdt-Thomsen 2010: 28). Was Smith noch nicht wissen konnte, aber wir: Im Kapitalismus werden heute millionenweise Menschen dem Hungertod preisgegeben – und zwar nicht nur Kinder, Alte und Kranke. Wesentlich dabei ist nur, die Welt so konstruiert zu haben, dass wir von ihnen denken können, sie seien „ohnehin dem Untergang geweiht“.
Smith legitimiert mit seinem rassistisch gefärbten Horrorszenario die Voraussetzung für das heutige Massensterben: die Kolonisierung, welche die zivilisatorischen Errungenschaften den Unzivilisierten zu ihrem eigenen Wohl bringen sollten (vgl. Bennholdt-Thomsen 2010: 28). Gleichzeitig ist damit die Hauptlinie der internationalen Entwicklungspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg vorgezeichnet, auch wenn die Zweiteilung ´zivilisiert/unzivilisiert´ nun durch den Dualismus ´entwickelt/unterentwickelt´ ersetzt wird (vgl. Ziai 2006). Die Ideologie der Entwicklungspolitik setzt den kolonialistischen Machtanspruch fort, in der Überzeugung, den einzig richtigen Glauben und das höhere Bewusstsein zu haben, was sich in erster Linie als vorgeblich einzig richtige Wirtschaftsweise niederschlägt; diese wird oktroyiert und sich so kolonialistisch weiter bereichert (vgl. Bennholdt-Thomsen 2010: 33). Als Wendepunkt vom Kolonialismus zur Entwicklungspolitik gilt die vielzitierte Antrittsrede von Präsident Harry Truman, in welcher es mit Blick auf die ehemaligen Kolonien hieß: „Their economic life is primitive and stagnant“ – was nach 500 Jahren der Ausbeutung sicher auch nicht ganz falsch war und ist. Seitdem gilt das Einkommen in US-Dollar als international verbindliches Kriterium für Entwicklung und Unterentwicklung; die Anreize sollen die Menschen ´weg von der Subsistenz´ bringen, wie es 1975 bei der Weltbank heißt. Denn nicht, wie die Menschen wirklich leben und wirtschaften, interessiert, sondern wie viel Geld umläuft (vgl. Bennholdt-Thomsen 2010: 30).
Das Kunststück bestand wiederum darin, Subjekte zu konstruieren, die aus freien Stücken eine Weltordnung unterstützten, die den Interessen der Metropolen entsprach. Freiheit dient als Selbstkonzept und Instrument der Verteidigung der westlichen Gesellschaften. Nicht zufällig war der Krieg gegen Afghanistan ´enduring freedom – andauernde Freiheit´ betitelt worden.
Und nicht zufällig rief Präsidentengattin Laura Bush am 17. November 2001 in einer Radioansprache zu einem Krieg gegen den „Krieg der Taliban gegen die Frauen“ auf. Judith Butler setzt sich mit den Fotos von afghanischen Frauen ohne Schleier auf der Titelseite der New York Times als Zeichen des US-amerikanischen Triumphs auseinander. Sie stellt einen Zusammenhang her mit den Fotos der sexuellen Folterungen in Abu Ghraib und fragt nach der gemeinsamen Vorannahme: Seien Feminismus und der Kampf für sexuelle Freiheiten in diesen Kontexten zu einem ´Zeichen´ des zivilisatorischen Fortschritts geworden, mit welchem die USA den angeblich rückständigen oder vormodernen islamischen ´Anderen´ missioniere? (2008: 18f) In ihrer Antwort problematisiert Butler das Zeitverständnis. Sie sieht „more than one time at work in this time […] along spatial lines”, und fährt fort, „hegemonic conceptions of progress define themselves over and against a premodern temporality that they produce for the purposes of their own selflegitimation” (2008: 1). Butler bezieht sich ferner auf einen Artikel von Thomas Friedman in der New York Times, in welcher dieser proklamiert, der Islam habe die Moderne noch nicht erreicht, er sei in einer Art kindlichem Stadium kultureller Entwicklung verblieben: „In this sense, then, Islam is conceived as not of this time or our time, but as another time, one that only anachronistically emerged in this time” (2008: 6). Hier sind sie wieder: Sowohl die Vorstellung einer great chain of being, lediglich verwandelt in eine great chain of cultures und implizit mit westlicher Zivilisation an der Spitze, als auch die great map of mankind, wonach nicht-westliche, in diesem Fall islamische, Kulturen in einer anachronistischen Zeit leben. Dabei oszillieren diese Denkfiguren mit der Konstruktion des essentiell Anderen. Durch die Folterungen seien die Insassen in den irakischen Gefängnissen – unabhängig von der Vielfalt ihrer kulturellen Hintergründe – konstruiert worden als ´das islamische Subjekt´, welches aufgrund seiner Rückschrittlichkeit angeblich mit sexueller Folter besonders leicht zu zerstören sei (2008: 15). Die US-amerikanische Armee dagegen halte sich, wie Butler es formuliert, ihrer eigenen homophoben und frauenfeindlichen Kultur zum Trotz für „more sexually `advanced´ because they read pornography“ (2008: 16). So finden sich auch heute noch beide Stränge, sowohl der Ausschluss aus der zivilisierten Menschheit als das Andere als auch das Verständnis nicht-westlicher Gesellschaften als rückständig und entwicklungsbedürftig.
Auch Europa konstituiert sich für Butler als privilegierter Raum der fortschrittlichen modernen Freiheiten – welche geschützt werden müssen, nicht zuletzt gegen rückschrittliche, vormoderne Einflüsse durch ImmigrantInnen. Sie sieht hier einen staatlichen Diskurs „that makes Europe and its state apparatus into the avatar of both freedom and modernity” (2008: 2). Dies manifestiere sich in den Einbürgerungstests, in denen beispielsweise in den Niederlanden Migrant_innen ein Foto von zwei sich küssenden Männern vorgelegt wird – es sei denn, diese Antragstellenden seien Angehörige einer Klasse, bei denen ein modernes Bewusstsein vorausgesetzt werde, da sie entweder einem Industrieland entstammen, oder einfach weil sie über 45.000 Euro im Jahr verdienen (2008: 3f).
Butler ist zuzustimmen, wenn sie einfordert, dass emanzipatorische Bewegungen sich beim Kampf um ihre Rechte stets dieser Verquickungen bewusst sein und sich abgrenzen müssen von einem teleologisch belegten Freiheitsbegriff sowie von einer Form von Freiheit, die als Legitimierung von Gewalt gilt (2008: 5). Denn selbst wenn staatliche Gewalt, sei es militärische oder strukturelle, auf den ersten Blick ´unsere´ Freiheiten (als Frauen, als Nicht-Heterosexuelle oder ähnliches) zu verteidigen scheint, so sind im Staat Herrschaftsverhältnisse verfestigt, welche in Kontinuität stehen mit Kolonialismus, der great map of mankind und der great chain of being sowie der Konstruktion ´des Anderen´ – wodurch Europa sich erst konstituiert hat. Am Ende ihrer Betrachtungen formuliert Butler: „If freedom is one of the ideals we hope for, perhaps it will be important to start remembering how easily freedom can become deployed in the name of a state self-legitimation whose coercive force gives the lie to its claim to safeguard humanity. Maybe then we can rethink freedom […] as a condition of solidarity” (2008: 21).
4. Wie es sein könnte
4.1. gesellschaftlich
Der Kapitalismus stellt eine Konsumtionsweise höchster Ineffizienz dar. Wer in München wohnt, kann sich hiervon durch eine Investition von knapp fünf Euro in eine Tasse Tee oder Kaffee überzeugen, da das Fenster des Starbucks-Cafés im Hauptbahnhof den Blick frei gibt auf die sich kringelnde Schlange aus bis zu zwanzig, dreißig Taxis. Aber während des dem Preis angemessen ausgedehnt zelebrierten Heißgetränkgenusses werden vielleicht nur drei oder vier Fahrer_innen dabei beobachtet werden können, wie diese von der Warterei erlöst werden – um sich nach wenigen Kilometern und Euros wieder hinten anstellen zu müssen. Ist das die Selbstverwirklichung im Kapitalismus?
Wem der Weg zum Münchner Hauptbahnhof zu weit ist, kann einfach durch die Straßen bei sich um die Ecke bummeln und auf die sich stets wiederholenden Friseursalons, Apotheken, Drogerien oder Supermärkte achten – mit sich stets ausweitenden Öffnungszeiten selbstverständlich. Wenn im Kapitalismus Zeit als Geld gilt: Warum wird dann die Lebenszeit so vieler der hier Angestellten oder Kleinselbständigen aus dem Fenster geworfen?
Oder es lässt sich ein Blick hinter den Supermärkten in die Container werfen: Ein Drittel bis zur Hälfte aller Lebensmittel werden in den Industrieländern schlichtweg wieder entsorgt statt gegessen. Während über eine Milliarde Menschen auf dieser Welt hungern. Aber davon ab: Auch in diesen Lebensmitteln steckt neben riesigen Ressourcen an Energie und Wasser die Lebenszeit von Millionen Menschen – während wieder andere verzweifeln, weil ihnen nicht erlaubt wird, ihre Lebenszeit in Taxis, Drogerien oder beim Besprühen von Tomaten zu vergeuden und zu gefährden, sondern sie mit dem Stempel ´überflüssig´ versehen als Unterschicht der sozialen Abschreckung dienen.
Soviel vorweg zur Erinnerung, dass es viele Aspekte gibt, in denen der Kapitalismus tag-täglich versagt, und eine Alternative nicht perfekt zu sein braucht, um besser zu sein. Warum sollten wir uns mit einem System zufrieden geben, welches auf Kosten unserer Lebenszeit, unseres Lebensglücks, der Gesundheit und Wohlbefinden von Milliarden und dem Überleben unzähliger Pflanzen- und Tierarten, wenn nicht des überwiegenden Lebens dieses Planeten, uns eingeschlossen, geht? Soviel den neoliberalen Think-Tanks vorzuwerfen ist, dieses nicht: Sie ließen sich nicht entmutigen, als von ihnen über Jahrzehnte hinweg kaum jemand etwas hören wollte. Und sie haben in den Abschlussexamina in ihrem Hauptsitz, der Wirtschaftsfakultät von Chicago, ihren Studierenden in der Abschlussprüfung stets Fragen gestellt, die noch völlig ungelöst waren. Denn gerade, wenn etwas noch ungelöst ist, heißt es, weiter daran zu denken und zu arbeiten.
Mögliche Koordinaten eines anderen Wirtschaftens können nicht ausgereift sein, denn es ist ein Irrglaube, eine andere Welt könne am Schreibtisch erfunden werden. Dass der Weg erst erschaffen werden muss, indem wir fragend voranschreiten, wie es die indigene Bewegung der Zapatistas in Mexiko betont, liegt nicht zuletzt an uns selbst: Wir sind nicht nur durch Jahrhunderte des Kapitalismus, Sexismus, Rassismus und anderen unschönen ´ismussen´ geformt worden, auch die diesen vorhergehenden Herrschaftsverhältnisse stellten alles andere als befreite Gesellschaften da.
Wie der hierzu weiter oben in die Geschichte geworfene Blick zum einen gezeigt hat, braucht es auf diesem Weg eine identitätsübergreifende Solidarität, um nicht schlicht in neuen Ausschließungen und Hegemonien zu enden. Denn wenn es statt „Das bisschen Haushalt macht sich von allein, sagt mein Mann“ nun „sagt meine deutsche Arbeitgeberin“ heißt, ist nur der einen geholfen – während die Kinder der migrierten Haushaltshilfe nur zu oft im Rahmen einer global care chain in den Herkunftsländern von Verwandten oder Bekannten miterzogen werden.
Zum anderen hilft uns Foucault mit seiner historischen Methode der Archäologie zu verstehen, dass wir nicht unsere eigenen Vorstellungswelten und Denkhorizonte in die Geschichte projizieren dürfen, sondern uns an das Ausgraben der jeweiligen zeitlich und räumlich verorteten Diskurse machen müssen, um dem, was diese Menschen dachten und fühlten, näher zu kommen. Das gilt genauso für die Zukunft. So, wie wir als Menschen uns verändert haben, so verändern wir uns auch weiter. Der homo oeconomicus ist jetzt, wir aber sind im Werden begriffen. Egal, was wir tun, wir verändern uns dabei. Doch ist es alles andere als egal, was wir tun. Wir sollten darauf achten, in welche Richtung wir uns prägen.
Auf diesem Gedanken beruhen Versuche, anders zu leben im Hier und Jetzt. Nicht im Glauben, es gäbe das ´Richtige im Falschen´, sondern als Keimformen einer anderen Gesellschaft. Auch das kapitalistische Wirtschaften ward nicht mit der französischen Revolution geboren, sondern entstand durch Keimformen in der feudalistischen Gesellschaft. „Die sozialökonomischen Keimformen des Kapitalismus entwickelten sich, während noch lange Zeit ´darüber´ und ´daneben´ die feudale Macht bestand. Als in den bürgerlichen Revolutionen ´die feudale Hülle gesprengt´ wurde, war die bürgerliche, warenförmige Gesellschaftlichkeit schon praktisch da; nicht bloß indirekt als politische und negatorische Kraft, sondern direkt und positiv als reale sozialökonomische Reproduktionsform“ (Kurz 1997).
Die ´Keimform´ wird auch als erste Etappe in der aus der Kritischen Psychologie stammenden Theorie des Fünfschritts verstanden. Währenddessen ist die Keimform nur eine von vielen möglichen innerhalb der dominanten Form und ihr Potenzial ist nur schwer erkennbar. Der zweite Schritt besteht darin, dass die dominante Form in eine Krise gerät. Ohne diesen Krisenschritt würde die Keimform der dominanten Form untergeordnet bleiben. Im dritten Schritt wird die (ursprüngliche) Keimform zu einer wichtigen Entwicklungsdimension innerhalb der noch dominierenden alten Form. Wichtig hieran ist, dass sie sich also innerhalb der noch dominierenden alten Form bewähren muss. Erst im vierten Schritt wird die (ehemalige) Keimform zur dominanten Größe und im fünften Schritt ordnet sich die jetzt dominant gewordene Keimform den Gesamtprozess unter.
Ob die im Folgenden vorgestellten Prinzipien sich im Prozess eines solchen Fünfschritts bewähren könnten, kann natürlich auch nur die Zukunft zeigen. Vielleicht gilt aber für sie das Gleiche wie für Subcomandante Marcos von den Zapatistas, wenn er erzählt, wie er für seinen Freund, dem alten Antonio, zunächst vergebens den Weg durch den Dschungel suchte, bevor dieser scheinbar zielstrebig die richtige Richtung einschlägt. Als sie angekommen sind, macht Marcos eine schamvolle Bemerkung über sein Unvermögen. Der alte Antonio reagiert gelassen.
„´Da ist das Problem: Du hast angefangen, einen Weg zu suchen, der nicht existiert. Wir mussten ihn erst erschaffen.´ Der alte Antonio lächelt zufrieden. ´Aber warum sagst du, dass wir den Weg erschaffen haben? Du hast ihn gemacht, ich bin nur hinter dir hergelaufen´, sage ich etwas unbehaglich. ´Nein´, lächelt der alte Antonio weiter. ´Das habe ich nicht allein gemacht. Das warst auch du, denn ein Stück bist du vorne gegangen.´ ´Ach! Aber dieser Weg hat nichts genützt´, unterbreche ich ihn. ´Doch. Er hat etwas genützt, denn dadurch wussten wir, dass er nichts nützt, und also sind wir ihn nicht wieder gegangen – oder sagen wir: haben wir ihn nicht erneut erschaffen, weil er uns wohin gebracht hatte, wohin wir nicht wollten und also konnten wir uns einen anderen erschaffen, damit der uns dorthin bringt´, sagt der alte Antonio. Ich sehe ihn eine Weile an und wage schließlich die Frage: ´Also wusstest du auch nicht, ob der Weg, den du gerade erschufst, uns hierher führen würde?´ ´Nein. Man kommt nur an, indem man vorwärtsgeht; arbeitet; kämpft – das ist das Gleiche.´“
Dagegen zu glauben, die ideale Gesellschaft gefunden zu haben, bedeutet, diese von oben durchsetzen zu wollen, oder, wieder in den Worten der Zapatistas „das alte müde Rad der Geschichte zu drehen“.
Stattdessen werden gelebte Erfahrungen wichtig. Zu diesen zählen die Grundsätze der Freien Kooperation, der Peer-Ökonomie und der Commons. Oder, zusammengefasst, die ´commons-based peer production´. Dieser Ausdruck stammt von dem US-amerikanischen Juristen und Harvard-Professor Yochai Benkler im Rahmen einer Erweiterung der Neuen Institutionenökonomik, da die auf den homo oeconomicus gestützte ökonomischen Theorie Phänomene wie die freie Software-Entwicklung nicht zu erklären imstande sind. Hier interessiert jedoch mehr, was jeweils hinter den einzelnen Begriffen steht, bevor ich die damit verbundenen Grundsätze auf der Grundlage materieller, und nicht auf freie Software begrenzter Formen als ´Ecommony´ reformulieren möchte.
Dem englische Wort ´commons´ entspricht das deutsche ´Allmende´, ursprünglich auch All(ge)meinde. Dies waren im Mittelalter Ländereien im Besitz der Dorfgemeinschaft, an denen alle Gemeindeglieder das Recht zur Nutzung hatten. In Deutschland wurden diese sich in praktisch jedem Dorf befindlichen Flächen zu Beginn der Neuzeit von den Herrschern angeeignet, was ein wesentlicher Grund für den Bauernkrieg war, und was durch die damit verbundene Trennung der Menschen von ihren Lebens- und Arbeitsgrundlagen letztlich zur ›Freisetzung‹ des Industrieproletariats führte. In den Schweizer Alpen existieren Allmenden noch heute, und in den Bergen Italiens wehren sich ganz aktuell Dörfer gegen den Zwang zur Privatisierung ihrer Allmenden. Der Prozess des enclosure, wie es im Englischen heißt, stellt durchaus keinen abgeschlossenen Prozess dar. Während uns Allmenden in Form von Weideflächen inzwischen fremd sind, reagieren wir vielleicht noch mit Empörung, wenn wir in die 7000 Jahre alte Postkartenidylle des Ortes Hallstatt in den Bergen Oberösterreichs kommen. Die Dorfgemeinschaft zahlt jährlich eine hohe Summe Pacht für das Überqueren und Baden im Hallstätter See, an dessen schmalen Ufern sich das Dorf in den Fels drückt. Sich aber stattdessen den bewaldeten, steilen Bergen zuzuwenden, hilft nicht vor der nächsten Schuld: hier werden 3,50 Euro Forstdurchquerungsgebühr pro Person fällig.
Was Commons sind, ist also eine Frage dessen, was wir normal finden. Noch finden wir es in Deutschland weitgehend normal, in Gewässern baden zu können – auch den Brandenburger Seen beispielsweise aber droht die Privatsierung; beim Wandlitzsee ist es schon geschehen. Die Folge auch hier: Anlegern kann mit einem Zaun der Zugang zum Wasser versperrt werden, Stegbesitzer müssen plötzlich hohe Pachtgebühren aufbringen, eine Gemeinde muss für eine Badestelle mit Rutsche sogar 50.000 Euro im Jahr an den Eigentümer bezahlen.
Entgegen einer häufigen Verwechslung sind Commons nicht ´natürliche´ öffentliche Güter aufgrund spezieller Eigen¬schaften von Nicht-Ausschließbarkeit und Nicht-Rivalität, wie dies tatsächlich bei einem See, der Durchquerung eines Waldes oder in der Softwareproduktion der Fall ist, sondern allgemein sozial regulierte Allgemeingüter.
In den Wirtschaftswissenschaften galt bis vor kurzem der 1968 von Garrett Hardin mit ´Tragedy of the Commons´ bezeichnete Essay unangefochten, wonach die allgemeine Nutzung rivaler Güter wie der dörflichen Allmende notwendigerweise zu deren Übernutzung führe. Erst im Jahr 2009 erhielt die Politikwissenschaftlerin Elinor Ostrom den Nobelpreis für Wirtschaft dafür, dass sie in ihren Arbeiten über ´common pool resources´ die Tatsache berücksichtigt, dass die daran beteiligten Menschen miteinander kommunizieren können – und damit auch solidarisch kooperieren. Entsprechend handelt es sich für Stephen Gudeman nicht um die Tragik einer Allmende, sondern um die Tragödie von Menschen, die darin versagen, die gemeinsame Nutzung sozial zu regeln, das heißt sich kooperativ und solidarisch statt auf kurzfristigen Eigennutz bedacht zu verhalten. Gudeman sieht sogar einen sehr engen Zusammenhang zwischen commons und community: “Without a commons, there is no community, without a community, there is no commons” (2001: 27). Commons zeichnen sich also nicht durch Eigenschaften im Gut selbst aus, sondern durch die Art und Weise der gemeinschaftlichen Nutzung. Dies wird auch ´commoning´ bezeichnet.
Tatsächlich ist der Eigentumsbegriff unserer Zeit, der den Ausschluss der Nutzung durch andere in der Regel einschließt, nicht nur erst im Zuge des Kapitalismus zur Normalität geworden, sondern auch weltweit in anderen Kulturen überwogen Besitz- oder Nutzungs-verhältnisse, die dem Begriff des Commons wesentlich näher kommen. Eine historische Betrachtung der Eigentumsbegriffe von Gesellschaften vor dem Kapitalismus zeigt, dass diese starke Elemente von Commons aufwiesen, da weitgehende gemeinschaftliche Nutzungsrechte impliziert waren. Commons sind damit auch unsere Vergangenheit. Dies gilt es mitzudenken, wenn es um die Vorstellung der folgenden Prinzipien als Basis für ein anderes Leben und Wirtschaften in der Zukunft geht – es sind keine von ´linken Spinnern´ an Schreibtischen oder auf Landschollen entwickelten Ideen, sondern wahrscheinlich das Prinzip, worauf alles in allem das Leben und damit die Reproduktion, das Wirtschaften der Menschheit am meisten beruht (hat).
In gewissen Sinne sind Commons sogar das wesentliche Prinzip der Gegenwart: Ein Ham-burger, wie er in einem Schnellrestaurant für einen Euro verkauft wird, würde 200 US-Dollar kosten, wenn alle externalisierten Folgen darin einberechnet wären. Diese entstehen neben beispielsweise öffentlichen Lohnzuzahlungen an die Beschäftigten überwiegend durch die Vernutzung von Commons: durch den Klimawandel, durch Fast-Food-bedingte Krankheiten, durch Luft- und Wasserverschmutzung oder durch Bodenschäden im Verlauf des Produktionsprozesses. Ray Anderson, CEO der weltweiten größten Produktionsfirma für Teppichboden beschreibt in dem Film ´The Corporation´, wie entsetzt er war, als er verstand, „just how much stuff the earth has to produce to our extraction process to produce a dollar of revenue for our company”.
Auch die Patentierung von Biodiversität fällt unter die Aneignung von Commons – und damit verbundene ´Bestrafungen´ für das Verwenden traditioneller Reis- oder Kartoffelsorten sowie Heilpflanzen beziehungsweise die fälligen Gebühren beim Singen vieler Weihnachtslieder oder Geburtstagsständchen in deutschen Kindergärten oder gar auf youtube. Die Liste ließe sich nur allzu leicht verlängern. Die private Inbesitznahme von Commons ist auch heute Alltag – jedoch weniger durch Individuen denn durch Konzerne.
Dies erklärt auch folgendes Paradox beim Erreichen vom obersten Millenniumsziel zur Reduzierung der Armut: Während auf der einen Seite es statt zur Reduzierung des Anteils der Hungernden um die Hälfte zu einem Anstieg um fast ein Drittel kam, so wird gerne auf den Erfolg verwiesen, dass heute wesentlich mehr Menschen als noch 1990 über mehr als einen Dollar pro Tag zum Leben verfügen. Von Unklarheiten bei der Inflationsbereinigung dieser Berechnung abgesehen, wird vor allem übersehen, dass es in dieser Zeit im globalen Süden zu weiteren wesentlichen ´enclosures´ kam: Wie bereits in der Kolonialsierung viele Gegenden als ´leer´ galten, wurden in den letzten zwei Jahrzehnten auch viele ´brach-liegende´, ´ungenutzte´ Landflächen kommerzialisiert und ´produktiv´ genutzt – und damit die Möglichkeit, sich von dort Feuerholz, Kräuter oder Beeren zu holen zum Kochen; oder durch Gewässerverschmutzung und/oder industrielle Fisch- und Krabbenindustrie wurde das Fischen für den eigenen Gebrauch unmöglich. Dies schließt wiederum an den von Veronika Bennholdt-Thomsen betonten Aspekt an, dass die unsichtbare Hand nimmt, und nicht gibt. In einer Formulierung der New Econcomics Foundation: Der free trade ist der wahre free rider, der Freihandel vernutzt unsere Commons (nef 2003).
Genauso wichtig aber ist noch ein weiterer Aspekt: In dem Fall des Hamburgers – und unserer Wirtschaftsweise überhaupt – kommt es zu einer Tragedy of the Commons, wie es Garrett Hardin beschrieben hat, aber nur, weil eine Privatwirtschaft existiert, die erlaubt, die über den eigenen Bedarf angeeigneten Ressourcen in Geld zu verwandeln und als solches anzuhäufen. Ohne diese Möglichkeit hätte niemand daran Interesse, große Herden von Schafen oder Kühen auf die Weiden zu treiben – wozu die ganze Arbeit, wenn die Milch doch nur schlecht wird? Es sei denn natürlich, die Milch wird im großen Stil weiterverarbeitet; aber wenn dies ohne Marktwirtschaft geschieht, dann in einer Form verabredeten Wirtschaftens – und nicht in Konkurrenz zu anderen Viehbesitzenden.
Wurde bislang überwiegend von den ´natural commons´ gesprochen, so bezieht sich der Terminus der commonsbasierten Peerproduktion dagegen auf die große zweite Kategorie: den ´digitial commons´. In den im Folgenden vorgestellten Prinzipien aber geht es nicht nur sowohl um das eine als auch um das andere, sondern darüber hinaus lautet die zugrundeliegende These, dass letztlich alles als Commons gefasst werden kann – was, so sei gleich hinzugefügt, dem Wunsch nach persönlicher Habe durchaus nicht widerspricht.
Doch zunächst zu dem im Terminus enthaltenen nächsten Begriff: ›peer‹ bedeutet im Englischen ›gleichrangig‹, ›gleichgestellt‹, ›ebenbürtig‹. Der Ausdruck peer-to-peer steht für Beziehungen unter Gleichrangigen. Allerdings hat der Begriff auch noch eine edle Kom-ponente: als veraltende Bedeutung findet sich auch ›Mitglied des Hochadels‹. ´Peerproduktion´ beschreibt die Art und Weise, in der freie Software-Produktion betrieben wird, ohne dass es eine hierarchisch gegliederte Organisierung gäbe oder Äquivalententausch eine Rolle spielen würde. Stattdessen handeln Peer-Produzent_innen aus Vergnügen, aus Leidenschaft oder aufgrund des Wunsches, etwas Nützliches zu tun und der Community etwas zurückzugeben, wie Untersuchungen zeigen (vgl. Himanen 2001).
Damit ist bereits einer der Grundsätze von Peerproduktion benannt: statt Status aufgrund von Besitz und offizieller Hierarchien wird nach Reputation, also Anerkennung aufgrund des eigenen Handels gestrebt. Die kritischen Software-Entwickler_innen vom Projekt oekonux gehen davon aus, „dass die Selbstentfaltung der Beteiligten der zentrale Motor für die Produktion ist. Die Beteiligten strengen sich an, weil es in je ihrem eigenen Interesse liegt, dies zu tun – es ist ihr Leben.“
Damit verbunden sind als weiteres Prinzip zum einen Freiwilligkeit und zum anderen freie Kooperation, das heißt bei Konflikten wird nicht Zwang eingesetzt, sondern es besteht die Möglichkeit des ›forks‹, also einer Gabelung/ Aufteilung des Projekts. Als drittes Prinzip gilt das Verständnis, dass das so gemeinsam Produzierte eben ein (digitales) Commons darstellt. Richard Stallman, der bereits 1983 mit GNU ein solches Projekt startete, betont, ein System sei verkehrt, wenn es Menschen daran hindere, ihren Nachbarn zu helfen – durch die Weitergabe von Software zum Beispiel (vgl. Siefkes 2007: 145f).
„Wer kennt Tim Berners-Lee?“, fragt die Commons-Theoretikerin Silke Helfrich gerne. In der Regel niemand. „Wer kennt Bill Gates?“ In der Regel alle. Der Unterschied? Bill Gates privatsierte die (bei weitem nicht nur von) ihm entwickelte Software Microsoft; Tim Berners-Lee aber stellte seine Erfindung als Open Source allen zur Verfügung, und dessen Kürzel kennen auch alle. Sie heißen html, oder auch einfach www. Wie aber sähe die Welt heute aus, wenn 1991 Berners-Lee das World Wide Web nicht kostenlos allen zur Verfügung gestellt hätte? Berners-Lee wäre vermutlich der reichste Mann der Welt – aber um welchen Preis?
Das gegen das Prinzip der (commonsbasierten) Peerproduktion vorgebrachte Argument lautet: Während im virtuellen Bereich das kommerzielle Lexikon Brockhaus von Wikipedia ›auskooperiert‹ werden konnte, besteht bei materieller Produktion kaum Konkurrenzfähigkeit gegen die Ausnutzung von Billigstlöhnen im globalen Süden. Ist es dennoch denkbar, diese Prinzipien auf materielle Produktion zu übertragen? Christian Siefkes (2007) ist überzeugt, dass sich diese Prinzipien immaterieller Produktion auf materielle übertragen lassen, wenn ein viertes hinzugefügt wird: Beitragen statt Tauschen. Doch erst später soll es weiter um sein Modell einer gesamtgesellschaftlichen Peerproduktion gehen, die er ´Peer-ökonomie´ nennt.
Denn während diese auf den Erfahrungen aus der Freien Software-Bewegung beruht, ebenso wie im Vorangegangenen die Geschichte der aus der Freien Software entstandenen Begriffe aufgezeigt wurde, so wird im Folgenden auf die Erfahrungen von Menschen Bezug genommen, die aus einer ganzen Bandbreite von Ansätze von anders leben und arbeiten zu ganz entsprechenden Vorstellungen von dieser Wirtschaftsweise geführt haben.
Denn waren in den 1970er Jahren Landkommunen typisch für die alternative Wirtschaftsweise, in den 1980ern der kollektive Betrieb eine Art Prototyp und hatten in den 1990er Jahren Tauschringe Hochkonjunktur, so sind bei den innerhalb der letzten Dekade entstan-denen Ansätzen häufig Prinzipien zu erkennen, welche sich ebenfalls mit dem Begriff der ´commons-based peer production´ charakterisieren lassen. Um aber ihr Gewachsensein aus gelebten Ansätzen jenseits der Open-Source-Bewegung deutlich zu machen, möchte ich einen anderen Begriff wählen: Ecommony.
Zunächst kurz dazu, welche Kritik an den Prototypen der vergangenen Jahrzehnte heute vielfach vorherrschen, was natürlich nicht bedeutet, dass es solche Formen heute nicht mehr gibt oder dass Menschen darin nicht versuchen, aus den Problemen zu lernen:
Die Landkommunen der 1970er Jahre, die sich in der Folge der Studierendenbewegung gründeten, versuchten, das ´Richtige im Falschen´ zu leben. Obwohl es auch Stadtkommunen gab, betone ich hier die Landkommune aus zwei Gründen: Zum einen versuchten diese eher, sich autark erhalten zu können, in der Regel durch einen hohen Anteil an Subsistenzproduktion, also der unmittelbaren Herstellung des Lebensnotwendigen. Zum anderen können sich Stadtkommunen nicht so leicht von der Umwelt isolieren. Denn diese Autonomie erwies sich manches Mal als Problem, gerade aus feministischer Sicht, denn auch vor den Errungenschaften der Frauenbewegung seit Anfang der 1970ern isolierte sich so manche Landkommune. Das gilt natürlich nicht für alle, doch der hohe Gruppendruck in vielen Kommunen wurde von (ehemaligen) Teilnehmenden häufig als problematisch gefunden.
In den 1980er Jahren kam die Gründung von kollektiven Betrieben in Mode. Hierzu sei David von der Nichtkommerziellen Landwirtschaft (NKL) zitiert; er begreift das nicht-kommerzielle Produzieren als in bewusster Abgrenzung zu Kollektiven entstanden:
„Was mich persönlich beeinflusst hat, war diese ganze Kollektivgeschichte der Siebziger und Achtziger – was ich auf der einen Seite spannend fand, was aber auf der anderen auch ein abschreckendes Beispiel war: nämlich genau da, wo hierarchische Strukturen durch kollektive Strukturen ersetzt wurden, aber letztendlich die antikapitalistische Analyse gefehlt hat – was ich total komisch finde, weil es ja eigentlich oft aus einer starken linken Position heraus betrieben wurde, aber letztendlich sind es einfach kollektive marktfähige Unternehmen geworden. Nachdem die weggefallen sind, die nicht marktfähig sind, sind die marktfähigen übriggeblieben. Und letztendlich ist es ja schnuppe, ob du als Kollektiv auf dem Markt funktionierst oder als hierarchisches Einzelunternehmen. Beziehungsweise für die Leute selbst ist es ein Unterschied und auch sehr wichtig, und ich will ihnen nicht absprechen, dass das nicht sinnvoll war persönlich für die Leute, aber politisch hat mir eine klarere Ausrichtung gefehlt. Das war ein Grund, warum mir das wichtig ist, danach zu suchen, was für Möglichkeiten es gibt, nicht marktfähig zu funktionieren und andere Strukturen zu experimentieren. Deshalb auch diese sehr starke Ab-lehnung von Verkauf, weil darüber ja viele von den Projekten einfach ganz normal wieder in den Wirtschafts¬kreislauf einbezogen wurden.“
In den 1990er Jahren boomten die Tauschringe. Tauschringe beruhen darauf, dass Arbeit getauscht wird, und dies in eigens erfundenen Währungen – seien es Kreuzer, Taler oder Äppel. Ein Appel sind beispielsweise eine Viertelstunde Arbeit, egal welche. Das System hat den Vorteil, dass sich die Äppel nicht akkumulieren lassen im Sinne von Mehrwert-produktion, sich also niemand die Arbeit anderer aneignen kann. Natürlich kann jemand viel arbeiten und darauf achten, keine Äppel wieder auszugeben, wobei er oder sie dann keinen Nutzen von ihnen hätte; nicht aber lassen sich aus vielen Äppeln noch mehr Äppel machen, oder gar plötzlich astronomisch viele Äppel. Es hat aber den Nachteil, dass meine Eigenschaften immer noch nur das wert sind, was ich aus ihnen an Wert herausschlagen kann. Wenn ich gerne Holz hacke, aber hierin unterdurchschnittlich produktiv bin, dann werde ich nicht dafür ´eingestellt´, weil ich nicht genügend Nutzen für den Wert der Äppel erbringe. Und nicht, weil ich Kerstin in ihrem Bemühen, ein Buch über ihre Lebensgeschichte zu verfassen unterstützen möchte, helfe ich ihr, sondern weil ich Äppel brauche, um sie in den selbstgemachten Honig von Kornelia oder die leckeren Kürbisse von Gaby zu verwandeln. Eine weitere Erfahrung ist, dass Tauschringe zur Monetarisierung nachbarschaftlicher Austauschbeziehungen führen können (nicht müssen): der Setzling, der sonst ohne Überlegen weitergereicht worden wäre; die CD, die ausgeliehen wurde, oder zu gestatten, den Computer zu nutzen – all dies kann plötzlich in der lokalen Tauschwährung Geld kosten. Denn in ´echtes´ Geld lässt sich die Tauschwährung letztlich umrechnen: Hierfür wird sich an einem fiktiven Stundenlohn orientiert; heute sind dies 10 Euro.
Eine weitere Kritik liegt entsprechend darin, dass, um mit Richard Stallman zu sprechen, auch hier der Nachbarin nicht geholfen wird (denn Verkaufsangebote sind keine Hilfe): obwohl der Setzling sonst auf den Kompost käme oder CD und Computer nicht verschwinden, wenn sie zwischendurch genutzt werden. Es bleiben also Ressourcen ungenutzt. In diesem Sinne grenzt sich die Nutzungsgemeinschafts-Webseite whopools von Tauschringen vehement ab: „Tauschringe wollen die Knappheit der Ressourcen beibehalten. Im Prinzip funktionieren Tauschringe wie Märkte. Wer kein Geld/keine Zeit-Punkte etc. hat, bekommt auch nichts. Obwohl viele Ressourcen brachliegen.“
Dies ist einer der zentralen Ansatzpunkte neuer Projekte: Ressourcen so offen wie möglich allen zur Verfügung zu stellen; auch hier herrscht eine Art ´open source´-Einstellung, oder ´alles für alle´. Seit der Jahrtausendwende neu entstandene Formen lassen sich tatsächlich durch die gleichen Charakteristika beschreiben wie die commonsbasierte Peerproduktion – das ergab mein Buch ´Halbinseln gegen den Strom. Anders leben und wirtschaften´ (2009) über Ansätze alternativen Wirtschaftens im deutschsprachigen Bereich. Da diese Formen jedoch im Gegensatz zur Peerproduktion Aspekte der gesamten Wirtschaft umfassen, soll der Begriff ´Ecommony´ ausdrücken: Es handelt sich um eine solidarische und ökologische Wirtschaftsweise, die auf dem Prinzip der Commons beruht, und dessen Prinzipien auf die gesamte Ökonomie unseres Lebens angewandt werden können. Was das konkret heißt, wird stets neu sich entwickeln müssen; es sind Leitgedanken.
Ohne in einem Widerspruch zu stehen, ist Ecommony nicht mit Christian Siefkes Entwurf der Peerökonomie gleichzusetzen; während sich seine Beschreibungen auf das Durchspielen bestimmter Aushandlungsprozesse in einer utopischen Gesellschaft konzentriert, geht es bei der Ecommony darum, sich ihrer Prinzipien bewusst zu machen und sie im Hier und Jetzt mitzudenken. Die Welt durch die Prinzipien der Ecommony zu sehen, macht so manches uns Alltägliche als absurd offensichtlich. Oder als unnötiges Leiden. Andererseits eröffnet es neue Verhaltensweisen – im Alltag ebenso wie in der politischen Gestaltung gesamtgesell-schaftlicher Ressourcenverteilung und Produktionsweise.
´Besitz statt Eigentum´:
Wichtigstes Prinzip bei den Commons ist, in Besitz und Eigentum zu unterscheiden. Etwas wird besessen, solange es aktiv benutzt wird. Eigentum aber kann verkauft werden. Die Unterscheidung findet sich auch im Bürgerlichen Gesetzbuch: Der Vermieterin gehört die Wohnung, der Mieter besitzt sie. Je nach nationaler Gesetzgebung haben Mieter_innen unterschiedliche Rechte: In Großbritannien ist es relativ einfach, ihnen zu kündigen, in Deutschland gilt sogar ein akzeptiertes Bewohnen durch Besetzer_innen seitens der Vermieterin bereits als Mietverhältnis – weshalb in Deutschland in der Regel sofort durch die Polizei geräumt wird. Denn letztlich zählt das Eigentum.
Bei Commons zählt nicht abstraktes Eigentum, sondern wer was tatsächlich braucht und gebraucht. Nach diesem Prinzip kann niemandem eine Wohnung gehören, ohne selbst darin zu wohnen; und wer in einer Wohnung wohnt, der/die besitzt sie auch. Für Wohnungen gilt dies tatsächlich in Kuba.
Dem entspricht auch das überlieferte Prinzip von Tashunka Witko, besser bekannt als ´Crazy Horse´, „Man verkauft nicht die Erde, auf welcher die Menschen wandeln“. – weshalb in einer Erklärung von indigenen Gemeinschaften zu einem Abkommen der Welthandels-organisation mit Bezug zur ´Pachamama´, zur ´Mutter Erde´, rhetorisch gefragt wurde: „Kann einem Mensch seine eigene Mutter gehören?“. Diesen Gedanken aufnehmend, wäre es vielleicht sinnvoll, einen anderen Ausdruck als ´besitzen´ bzw. ´Besitz´ im Deutschen für dieses Verhältnis zu finden, da dies bislang alltagssprachlich synonym zu ´gehören´ bzw. ´Eigentum´ verwandt wird.
Ein offener Platz, der ohne Zugangsbeschränkungen für jede und jeden offen ist, um dort zu leben, entspricht dem Gedanken von Tashunka Witko. Ähnlich auch offene Häuser oder, wenn auch nicht zum Wohnen, Zentren.
Aber auch im gesellschaftlichen Alltag findet sich dies. Parks oder Marktplätze entsprechen dem Commonsgedanken – noch meistens, doch immer häufiger muss für den Eintritt in einen Park bezahlt werden. Mit Commons gesehen bricht es einer das Herz, wenn am Eingang ein altes Pärchen die Wächter bittet, einige Schritte hineingehen zu dürfen, um wenigstens Fotos zu machen. Und wer heute versucht, sich auf Marktplätze konsumfrei niederzusetzen, wird alsbald Bekanntschaft mit dem Wachschutz machen.
Reine öffentliche Güter, also nicht-rivale, wie die hierfür vielzitierten Deiche und Leucht-türme, aber auch Radio- und Fernsehsender oder natürlich Software sind Commons par excellence. Aber auch die sogenannten unreinen öffentlichen Güter, bei denen das Ausschlussprinzip nicht greift, wobei jedoch eine ´Rivalität im Konsum besteht´, wie es heißt, sind hierfür geeignet: Straßen und Wege, Wasserver- und Entsorgung, oder allgemein jede Art öffentlicher Verkehrsmittel und Infrastruktur. Während all diese Güter im gegenwärtigen System teilweise unentgeltlich, teilweise nur gegen Gebühren erhältlich istsind, wären sie als Commons grundsätzlich für alle nutzbar.
´Besitz statt Eigentum´ kann sich aber auch auf Gegenstände beziehen, beispielsweise Bücher. Wer hat sich nicht schon einmal ein Buch von einer Freundin geliehen oder umgekehrt eines an einen Freund verliehen? (Und warum ist dies, im Gegensatz zur weiter-gegebenen Software, eigentlich nicht verboten?) In den meisten Projekten, sogar schon in einigen Wohngemeinschaften, finden sich kleine Bibliotheken. Doch nicht nur dort: Öffentliche Bücherschränke, mal aus Holz, mal in Form zweckentfremdeter Telefonzellen oder Verteilerkästen, aus denen genommen und in die auch Bücher gestellt werden können, existieren inzwischen in vielen deutschen und österreichischen Städten. Auch die Praktik, Bücher ´freizulassen´, unter anderem koordiniert über das internetgestützte Bookcrossing, fällt hierunter.
Das Gleiche gilt für Werkzeuge, wenn diese natürlich auch in einem überschaubareren Rahmen genutzt werden, da sie anders als ein Buch nicht irgendwann ´ausgebraucht´ sind. In sicher den allermeisten Projekten werden Werkzeuge gemeinschaftlich genutzt. Darüber hinaus finden sich auch Offene Werkstätten, sei zur Holz- oder Metallbearbeitung, als Fahrrad- oder Nähwerkstätten.
Auch Nutzungsgemeinschaften tauschen (unter anderem) Werkzeuge unentgeltlich und ohne direkte Tauschlogik aus: Eine Nutzungsgemeinschaft ist ein Netzwerk aus Personen, die gemeinsam etwas nutzen oder sich gegenseitig Dinge zur Verfügung stellen (oder schenken). ›NutziGems‹ basieren auf dem Prinzip, dass nicht alle alles besitzen müssen, nur um es ab und zu gebrauchen zu können. Dies können Gegenstände sein oder auch Fertigkeiten und Wissen – kurz: Ressourcen.
Eine Nutzungsgemeinschaft setzt sich meist aus Menschen zusammen, die dicht beieinander wohnen, da nur so die gemeinsame Nutzung komplikationslos organisiert werden kann. In der Regel verbleiben die Gegenstände im Privatbesitz, es kann aber auch einen gemein-samen Lagerraum geben. Oft handelt es sich um geschlossene Gruppen, es gibt sie aber auch als offene Projekte oder internetgestützt.
Aber auch die rund vierzig Umsonstläden alleine in Deutschland können, obwohl auch manchmal Schenkläden genannt, in diesem Sinne gerade nicht als Orte des Schenkens verstanden werden, wo Dinge von Privateigentum in Privateigentum übergehen, sondern als Orte, wohin Dinge gebracht werden, die aus dem eigenen Besitz gefallen sind, da sie nicht mehr benutzt werden. Auf diesem Gedanken aufbauend bestehen auch Überlegungen innerhalb des hinter dem Umsonstladen Hamburg stehenden Arbeitskreises Lokale Ökonomie, Regale als ´freie Hardware´ zu bauen, die als Dauerleihgaben vergeben werden.
Aber nicht erst für die fertigen Produkte, sondern auch ganz generell für Produktionsmittel das Prinzip ´Besitz statt Eigentum´ gelten. Alles andere macht in einem System ohne Geld auch gar keinen Sinn.
Der Trend weg von der fordistischen Großproduktion hin zu den individuellen Designen, welche die Selbstverwirklichung ausdrücken, ist in diesem Sinne übrigens von Vorteil. Der übliche Vorwurf, Prinzipien aus der freien Softwareentwicklung könnten auf materielle Produktion nicht übertragen werden, findet sich plötzlich umgedreht angesichts der Entwicklung des fabbing, der personal fabricator: 3-D-Drucker wie der RepRap oder der Makerbot unter Open-Source-Lizenzen, mit denen sich bis zu einer gewissen Größe alles herstellen lässt, was aus Kunststoff ist – weitgehend auch sich selbst. Zumal, ob Elektro-gerät, Möbel oder Schmuckstück: Schon heute steht am Anfang jeder industriellen Fertigung eine 3-D-Datei. In der Vision der nächsten Industriellen Revolution wird nicht das fertige Produkt zum Käufer geschickt, sondern nur die beschreibenden Daten. Die Endfertigung liegt in der Hand des Kunden. Unternehmensberater Andreas Neef: „Die Industrie wird vielleicht viel stärker nur zum Ideengeber und verkauft Blaupausen und digitale Dateien zu ihren Produkten“. Mit anderen Worten: Der Bereich, auf dem die Erfahrungen der freien Softwareproduktion beruhen, solle die alleinige Aufgabe der Industrie bleiben, während durch das Fabbing die Produktionsprozesse in ´den Bereich des Kunden´ fielen. Was aber spricht dann noch dagegen, sowohl auf der Ebene des Designs als auch auf der Ebene der Produktion die Industrie auszukooperien?
Denn das Marketing, sei es unter dem Label der ausgedrückten Selbstverwirklichung oder unter einem ganz anderen, verliert in diesem Prozess an Bedeutung, wenn alle relativ einfach tatsächlich individuell, das heißt von ihnen selbst designte Produkte herstellen können. Das wird auch deshalb so leicht, weil im Netz bereits viele Prototypen der Open-Design-Bewegung zur Verfügung stehen und nur den eigenen Bedürfnissen angepasst werden müssen. „Karl Marx würde heutzutage wahrscheinlich an einem Makerbot herumbasteln, die personal fabricators erfüllen schließlich seine zentrale Forderung ´Produktionsmittel in die Hände des Volkes´, kommentiert der Moderator ´Elektrischer Reporter´ einer Sendung über das Fabbing.
Wenn sich der Commons-Gedanke also auch auf materielle Güter beziehen kann, dann aber doch nicht auf das rivalste Gut überhaupt, Essen. Oder? Wenn das Prinzip weitergedacht wird, doch: Wenn Essen allen zur Verfügung gestellt wird, bis alle satt sind, ohne dass jemand für sich private Vorräte anhäuft, kann immer noch vom Commonsprinzip gesprochen werden.
Die gesamte Neoklassik baut auf dem Grenznutzen auf: Je mehr ich von etwas konsumiere – und sei es meine Lieblingsschoki – desto geringer ist der durch jedes Stück Schokolade hinzugefügte Stück Nutzen. Irgendwann liegt er bei null (ich stopf nur noch ohne Genuss), bevor er sogar anfängt, sich in Schaden zu verwandeln (selbst Homer Simpson wird einmal vom Teufel gefoltert, indem er immer weiter Donuts essen muss) , er also negativ wird.
Dieser offensichtliche Widerspruch der Wirtschaftstheorie zur gleichzeitigen Annahme, dass der Mensch immer mehr wolle, ist nur durch Geld überhaupt denkbar, denn Geld bedeutet erstens, Horten zu können. Zweitens bedeutet es, mir etwas leisten zu können, was die anderen nicht haben. Geld macht demnach nur Sinn als Akt unsolidarischen Handelns.
Wenn ich aber das Vertrauen habe, immer dann Schokolade zu bekommen, wenn ich sie möchte, brauche ich dafür weder Geld noch muss ich mich schon vorsorgend im Moment damit vollstopfen. Es ist übrigens genau diese Angst vor Verzicht, vor Knappheit, konkret eine Diät, die am Anfang der Esssucht steht: Nur wenn ich – und hier spielen Körper und Geist sicher zusammen – keine Angst vor Knappheit habe, behalte ich ein gesundes Essverhalten bei. „Es ist genug für alle da! Wir benötigen eine kollektive Selbstbefreiung vor der psychotischen Angst vor der Knappheit“, so Veronika Bennholdt-Thomsen (2010: 56).
Utilitarismus, wie er von Jeremy Bentham erdacht wurde, würde hier übrigens eine ganz andere Entscheidung vorgeben, da für Bentham das ´größtmögliche Glück der Menschheit´ den Richtwert für das Handeln darstellte – nicht das individuelle Glück, und schon gar nicht der individuelle Kontostand. Der größtmögliche Nutzen aller wird aber dann erhöht, wenn die Person mit dem größten Grenznutzen das nächste Stück Schokolade bekommt. Das hat gemäß der geteilten Freude noch einen doppelten Vorteil, denn schon Epikur wusste, das dauerhafteste Glück liegt nicht im Besitz, sondern in sozialen Beziehungen.
Das hat natürlich Grenzen, trotz der Tatsachen, dass zum einen heute mehr als das Doppelte der Weltbevölkerung ernährt werden könnte, und dass zum anderen wie gesehen das Phänomen Hunger als konstante Erscheinung wesentlich mit der Existenz des Kapitalismus verbunden ist. Und damit sind wir beim nächsten Prinzip.
´Teile, was du kannst´
Gerade machst Du Dich mit Deiner Partner_in zu einem romantischen Restaurantbesuch fertig, da klopft es an der Wohnungstür: „Ich ziehe hier ein“, verkündet der unangemeldete Besucher, „mir gefällt die Lage so gut. Ach, und den geilen Pullover, den du anhast, hätte morgen gerne ich. Wasch ihn später doch bitte kurz durch und leg ihn mir hin. Und wer ist das da?“.
Keine Angst – dies ist keine Commons-Vision. Denn Pullover und Wohnung sind in Deinem Besitz, und bleiben Dir unbenommen, solange Du sie in Gebrauch hast – und daran ändert sich auch nichts, wenn die Wohnung verlassen wird oder der Pullover die meiste Zeit im Schrank liegt. Ob der/die Partner_in ebenfalls, kann aber natürlich nur diese_r selbst entscheiden.
Wenn ich aber bei einer Diskussion über anders Wirtschaften höre, es sei ja sowieso nicht möglich, dass die meisten Wünsche der Menschen erfüllt würden, denn es gäbe nun mal nur sehr begrenzt Häuser direkt am See gelegen, dann frage ich mich schon, was gemeint ist: Wollen wirklich alle Menschen irgendwo am See wohnen, oder geht es den meisten um das Feriendomizil? Wahrscheinlich doch eher letzteres. (Mal abgesehen davon, einige sowieso lieber in die Berge und wieder die nächsten ins Warme und wieder die nächsten das Nächste wollen.) In diesem Fall aber wird das Haus vermutlich maximal jeweils einige Wochen im Jahr benötigt – und es ließe sich wunderbar leicht nach dem Commons-Prinzip aufteilen.
Doch nicht alles ist unendlich teilbar. In Afrika können sich viele Aids-Medikamente entweder gar nicht leisten oder nur, wenn die ganze Familie mithilft. Sind aber mehrere Familienmitglieder betroffen, kommt es häufig vor, dass sich die Kranken das Medikament für eine Person teilen. Die Wirkung geht damit aber verloren.
Dies ist ein extremes Beispiel. Aber es markiert auch den Unterschied zu gemeinschaftlichem Besitz. ´Teile, was Du kannst´ ist nicht zuletzt eine persönliche Entscheidung. Wenn ich den Pullover seit einem Jahr nicht mehr getragen habe, da er mir nicht wirklich gefällt, obwohl er in gutem Zustand ist, wäre es dann nicht eine gute Idee, ihn in den Umsonstladen zu bringen?
Aber wie jede andere persönliche Entscheidung wird auch diese kulturell geprägt und damit wird verschieden sein, was als akzeptabel gilt, und dies wird wiederum stark von den vorhandenen Ressourcen abhängen – gibt es genug Platz für alle, so dass alle ein Haus haben können oder nur eine Wohnung oder vielleicht nur ein Zimmer?
In der freien Softwareproduktion findet sich das Prinzip Share what you can als ´Teile, was Du hast und nicht brauchst´ aufgeteilt in vier Formen:
• Parallele Nutzung (zum Beispiel eines Internetzuganges)
• Serielle Nutzung, also nacheinander (in diesem Sprachgebrauch wären die Regale des AK Lök ´Perma-Floater´)
• Gemeinschaftlich organisierte Sammlungen (Wikipedia, oder zum Beispiel von Büchern)
• Orte der offenen Produktion (entweder im Netz wie gemeinschaftliches Designen, oder in offenen Produktionsstätten, egal ob mit Fabbern wie RepRaps und Makerbots ausgerüstet oder mit Hobel und Hobelbank).
Apropos serielle Nutzung: Als ich bei einer Veranstaltung in Wien fragte, was sich noch teilen ließe, kam die Antwort: „Die Krankenkarte!“. Nun, hierauf möchte ich gar nicht weiter eingehen, aber es erinnert mich an das Gesundheitsnetzwerk Artabana – hier wird nicht die Krankenkarte, aber doch das vorhandene Geld für den Arztbesuch seriell genutzt: Rund 160 Gruppen mit rund zehn Mitgliedern über ganz Deutschland (sowie weitere in der Schweiz) verteilt bilden ein Netzwerk aus Basisgruppen, die gegenseitig füreinander einstehen, wenn Kosten für die Gesundheit entstehen – erst innerhalb der eigenen Gruppe und dann bei Bedarf zunehmend überregional. Jede Gruppe bestimmt für sich, wie viel Geld eingezahlt wird; auch unter den Gruppen besteht keine Tauschlogik.
´Teile, was Du kannst´, hat aber neben dieser (´und was Du nicht brauchst´) noch zwei weitere Bedeutungen:
Teile, was Du weißt.
Teile, was Du tust oder tun möchtest.
Neben Dingen sind also auch Fähigkeiten und Tätigkeiten gemeint.
Zunächst zu den Fähigkeiten, also dem Teilen von Wissen. Das Schöne daran ist ja, dass es sich daraufhin vermehrt, ja vervielfacht. Und wer sich durch Elitebildung nicht im Konkurrenzkampf behaupten muss, kann genießen, mit anderen zusammen, welche dieselben Fähigkeiten besitzen, die eigenen noch besser nutzen zu können.
Das sogenannte skill-sharing setzt hier an: So, wie dieser Begriff im deutschen Sprachraum benutzt wird, nämlich in einem umsonstökonomischen Sinn, wird im Englischen zum besseren Verständnis auch von ´freeskilling´ gesprochen, so zum Beispiel von der Bristol Freeconomy Community. Hier werden regelmäßig Kurse angeboten, wo sich ganz Unter-schiedliches lernen lässt. Anbieten können alle einen Workshop, die anderen etwas Interessantes zeigen können.
„Leute werfen ihr Wissen, ihre Ressourcen, ihre Infrastruktur in einen großen Pool, aus dem sich alle, die der Solidargemeinschaft angehören, nach Bedarf bedienen können. Die Ressourcen bleiben aber Eigentum der einzelnen, und es ist freiwillig, inwieweit man die teilen möchte. Es besteht keine Verpflichtung dazu“, erklärt Sabine Steldinger das Prinzip der Traveling School of Life (Tsolife); es handele sich somit um eine „Nutzungsgemeinschaft für Bildung“. Und wieder geht es um die optimale Ressourcennutzung: „Es soll möglichst das, was schon an Reichtum da ist, besser genutzt und ausgelastet werden. Und: . „Auch hier herrscht keine Tauschlogik.“
Ähnlich funktionieren Freie Universitäten, die entweder zeitlich gebündelt am Rande von Semestern stattfinden (zum Beispiel in Erfurt oder Marburg), als eine Art soziale Zentren (zum Beispiel in Berlin oder Frankfurt/Main), das gesamte Studium begleitend (zum Beispiel in Bremen) oder ganz unabhängig von der Universität (zum Beispiel in Hamburg oder Basel).
Aber es geht bei dieser Interpretation des Prinzips ´Teile, was Du kannst´ nicht nur um die Weitervermittlung von Wissen und Fähigkeiten, sondern auch um das direkte Einbringen der eigenen Fähigkeiten als Tätigkeiten. Doch bevor wir diesen Aspekt im Sinne von ´Teile, was Du tust oder tun möchtest´ vertiefen, sei erwähnt: Dies wiederum geht über in das dritte Prinzip.
´Beitragen statt Tauschen´
Statt die eigenen Fähigkeiten in Quantitäten ummünzen zu müssen, wie dies in einem herkömmlichen Tauschring immer noch der Fall ist, wird aus einem Bedürfnis heraus aktiv gehandelt. Auch dies wird in Nutzungsgemeinschaften praktiziert, die in dieser Hinsicht mit Tauschringen ohne Verrechnung gleichzusetzen sind, wo Dienstleistungen gegenseitig erbracht werden. Neben den Nutzungsgemeinschaften gibt es in Wuppertal den Tauschring Gib&Nimm, der auf Kontoführung und Äquivalenzlogik verzichtet.
Ein weiteres Beispiel stellt die Nichtkommerzielle Landwirtschaft (NKL) dar. Diese wird auf dem Karlshof bei Templin betrieben; der bereits mit seiner Kritik an kollektiven Betrieben zitierte David charakterisiert damit schon das Besondere an der NKL: Die Produkte (wie Kartoffeln, Erbsen, Getreide oder Öl aus Sonnenblumenkerne) werden nicht verkauft, sondern unentgeltlich und ohne Äquivalenzlogik abgegeben. „Sie unterliegen dem Recht zur freien und unentgeltlichen Weitergabe, zur Weiterverarbeitung und zum Verzehr“, heißt es auf den Kärtchen, auf denen Bestellungswünsche aufgegeben werden können. Selbst an einem der Arbeitseinsätze beteiligt gewesen zu sein, ist nicht Voraussetzung: Nehmen und Geben werden entkoppelt, die Abgabe der Nahrungsmittel erfolgt unabhängig von der Beteiligung am Entstehungsprozess. David umreißt die Grundidee: „Sachen nicht für den Verkauf zu produzieren, sondern an andere in einem politischen Kontext abzugeben, mit der Motivation, nicht-kommerzielle, nicht-kapitalistische Nahrungsmittelversorgungssysteme aufzubauen“. Der Karlshof ist Teil des Netzwerkes Projektwerkstatt auf Gegenseitigkeit (PaG) und finanziert sich überwiegend über Spenden. Entscheidend ist für sie, keine Lohnarbeit einzusetzen und keine Waren zu produzieren, also die erzeugten Güter nicht in Tauscheinheiten, seien es Euro oder andere Formen von Äquivalenten, zu messen, und so auch zu lernen, die Dinge, die zum Leben notwendig sind, in einem gemeinschaftlich organisierten Prozess direkt herzustellen und nach Bedarf zu verteilen. Vielen falle es schwer, eine solche Wirtschaftsweise auch nur zu denken. Davids zur Zeit des Interviews (2009) geäußerter Wunsch, es möge in Berlin sich eine nicht-kommerzielle Backgruppe finden, welche das Getreide weiterverarbeitet und als Brote unentgeltlich und ohne Tauschlogik abgibt, hat sich inzwischen erfüllt. Seine Vision ist, den gesamten angrenzenden Bereich von Nahrungsmittelproduktion und Weiterverarbeitung sowie generell ein Netzwerk aus nichtkommerzieller Produktion aufzubauen.
Im Kapitalismus werden solche Tätigkeiten als ´Arbeit´ vollbracht. Gerade Wertkritiker_innen argumentieren, unter anderem im ´Manifest gegen die Arbeit´ von 1999, dass eine Überwindung der Entfremdung, und damit von ´Arbeit´, nur „durch die Organisation des sinnvollen Einsatzes von gemeinsamen Möglichkeiten, die durch keine ´unsichtbare Hand´ automatisch gesteuert werden, sondern durch bewusstes gesellschaftliches Handeln“ erreicht werden kann.
Natürlich fallen auch Sorgetätigkeiten hierunter, denn die Unters¬cheidung zwischen produktiven und reproduktiven Tätigkeiten (ebenso wie die Abgrenzung zu Dienstleistungen) wird obsolet. Und damit einer alten feministischen Forderung gerecht. Das ist alles andere als selbstverständlich in Ansätzen alternativen Wirtschaftens. Denn solange es eine bestimmte Arbeitszeit abzuleisten gibt, ergibt sich das Dilemma, dass Sorgetätigkeit entweder auf Arbeit reduziert und in Zeiteinheiten gemessen wird (welche Folgen das hat, erfahren wir in der Kantine oder spätestens im Seniorenheim) oder aber nicht als Arbeit gewertet wird. Aus der Kritik an dem letzteren als Normalzustand im Fordismus formulierte sich in den 1970er Jahren die Forderung nach einem Lohn für Hausarbeit. Doch bald wehrten sich viele Frauen gegen die Vorstellung von „Lohn für jede schmutzige Toilette, für jede schmerzhafte Geburt, für jede freche Anmacherei und Vergewaltigung, für jede Tasse Kaffee und jedes Lächeln”, wie es im Manifest An alle Regierungen am 1. Mai 1977 gefordert wurde, als Zynismus und als totale Vermarktung menschlicher Beziehungen. Ansätze wie partizipative Ökonomie – kurz: parecon – von Michael Albert, wissen sich bestenfalls auch nicht zu entscheiden, welche der beiden Optionen die bessere wäre: der Versorgungsarbeit keinen gesonderten Status zuzuweisen oder aber sie im unanalysierten Nebel des Privaten zu belassen (Albert 2000: 132ff).
Dass all dies klappt, erlebe ich in meinem eigenen Projekt von 70 Leuten. Auch hier wird nicht gefragt, was jemand geleistet oder gezahlt hat, wenn er oder sie mit wohnen, essen oder sich die Zähne putzen will. Um es als gesellschaftlich koordinierte Wirtschafsweise weiterzudenken, ist der Denkansatz der Peerökonomie von Christian Siefkes, wonach internet-gestützt die Bedürfnisse als auch die Tätigkeiten koordiniert werden, sicher hilfreich. Dann wird nicht erst beim Aufstehen zu entscheiden sein, was am Tag anliegt; aber welch Unterschied zu einer Gesellschaft, die Menschen schon nach der Grundschule, spätestens aber mit der beruflichen Ausbildung weitgehend darauf festlegt, womit sie in Zukunft überwiegend ihre Lebenszeit zu füllen haben. Der große unerfüllte Wunsch meines Vaters, eines Rechtsanwalt und Notars, war es, Straßenbahn zu fahren. Doch welche_r Straßenbahnfahrer_in hat nicht irgendwann unter der Monotonie zu leiden?
Natürlich kann nicht in jedem Berufsfeld so leicht gewechselt werden wie beim Straßenbahnfahren, da viele lang andauernde Qualifizierungen brauchen. Doch spricht ja nichts gegen Spezialisierungen – fast jeder Mensch entwickelt die Leidenschaft, etwas besonders gut zu können und sich in etwas speziell zu bilden. Es ist aber ein Fehler zu glauben, es bräuchte hierfür eine gesellschaftliche Aufteilung in Qualifizierte und Unqualifizierte. Denn zum einen weist Michael Albert in einem der Prinzipien von parecon zurecht darauf hin, dass es eine Arbeitsteilung geben sollte, welche auf den jeweiligen Fähigkeiten (und, so sei hinzugefügt, Lust, etwas Bestimmtes zu tun) aufbauend für jede_n einen fairen Anteil stupider Routinearbeiten bereithalten sollte als auch einen Anteil erfüllender und weiterbringender Arbeiten. Hierfür bringt er ein Beispiel, um zu verdeutlichen, dass ansonsten auch eine formal gleichberechtigte Entscheidungsstruktur sich ad absurdum führe: „Suppose Betty spends all day cleaning floors and Salim spends all day doing empowering financial and social tasks that increase his decision-making related skills and knowledge. Even if Betty and Salim have the same workplace voting rights and even if they are remunerated justly, after months of working at these differently empowering jobs, Betty will have neither the energy, knowledge, confidence, nor skills to play a role comparable to Salim´s in in¬fluencing decisions“ (Albert 2000: 63f). Zum anderen dürfte sich bei den allermeisten der Wunsch von selbst nach einem solchen Gemisch von anregenden und entspannenden Arbeiten einstellen.
Auch ´beitragen statt tauschen´ geht über in die nächsten Prinzipien:
Freiwilligkeit / Freie Kooperation / Offenheit
Freiwilligkeit ist das, was das Beitragen vom Tauschen unterscheidet.
Freie Kooperation beinhaltet sogenannte ´forks´, wie bereits bei der freien Softwareproduktion dargelegt – also die Trennung der Projekte mit möglichst geringen ´Kosten´ für beide Seiten zu gewährleisten, statt des Zwanges, sich auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner streiten zu müssen.
Und es bedeutet wiederum die Offenheit, der wir bereits beim Offenen Raum begegnet sind, bei der gilt: Alles für alle. Meinte Jesus nicht dasselbe, als er sagte: „Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“? Wenn auch der Geringste noch mit ein-geschlossen wird, ist niemand mehr ausgeschlossen. Und auch Jesus würde sich vermutlich freuen, wenn es sich dabei nicht um ein ab und an gegebenes Almosen handelt, sondern um einen gleichberechtigen Einschluss, gesichert durch strukturelle Gemeinschaftlichkeit.
Geld trennt Individuen, so betont Veronika Bennholdt-Thomsen, die Unmittelbarkeit der Subsistenzversorgung bringt sie zusammen (2010: 46). Der von ihr propagierte Begriff der Subsistenz aber ist immer wieder (miss-)verstanden worden. Vielen kommt das Bild vereinzelter Landkommunen vor Augen, wo alle auf ihrer Landscholle in kleiner Gemeinschaft Gemüse züchten und sich ihr Haus zusammenzimmern. Dazu beigetragen haben mag die individuelle Landsehnsucht einiger ihrer Vertreterinnen. Doch letztlich bedeutet Subsistenz, die unmittelbare Produktion des Lebensnotwendigen ´nur´ zweierlei: Es sind direkte soziale Verhältnisse zwischen den Produzierenden und den Konsumierenden – wobei diese Unter-scheidung in sich hinfällig wird. Es wird produziert, was Menschen konsumieren möchten – und nicht zur Spekulation, nicht, um es hinterher zwecks Preiserhalt wieder zu vernichten.
Das bedeutet aber nicht, dass es keine gesellschaftliche Produktion gäbe. Es werden lediglich nicht zuerst die Güter privat erzeugt und dann auf einen Markt gebracht, sondern die gesellschaftliche Abstimmung erfolgt bereits im Bereich der Koordinierung des Aufwands. Dabei soll der Tauschwert als beherrschendes Prinzip abgelöst werden von einer bedürfnis-orientierten Produktion, denn freiwillig werden Menschen nur dort aktiv, ›wo es sie juckt‹: Die Motivation zur Arbeit ist nicht vermittelt über die Vorstellung ›irgendwas zu jobben, um Geld zu verdienen, damit ich mit dem Geld Bedürfnisse befriedigen kann‹, sondern direkt durch das individuelle Bedürfnis, etwas Sinnvolles zu tun, beizutragen zur Herstellung von Produkten, und diese zu nutzen.
In seinem sehr formalisiert geschriebenen Buch ´Beitragen statt Tauschen´ über seinen Ansatz der ´Peerökonomie´ stellt Christian Siefkes Möglichkeiten dar, wie durch die An-meldung von Bedarf Bedürfnisse erkannt werden, und durch das Ableisten ›gewichteter Arbeitsstunden‹ erfüllt werden. Durch ein Aufgabenversteigerungssystem wird die Popularität einer Aufgabe gewichtet: Wenn sich mehr Freiwillige melden als nötig, wird das Arbeitsgewicht gesenkt, wenn es nicht genug Freiwillige gibt, wird es erhöht. Dies entspricht doch wieder der Tauschlogik, doch kann darin eine Möglichkeit für Skeptiker_innen gesehen werden, die oben genannten Prinzipien zu bejahen, ohne in Angst davor, dass es keine Verpflichtung zur Arbeit mehr gäbe, sie gleich ganz zu negieren. Peerökononmie wäre in diesem Sinne der Sozialismus vor der kommunistischen Ecommony.
„Wenn ich entscheiden muss, ob ich eine vorgegebene Zeitspanne mit einer Aufgabe verbringe, die mir gefällt (sagen wir Programmieren), oder aber mit einer, die ich nicht mag (zum Beispiel Müllabfuhr), wird mir die Wahl nicht schwerfallen. Aber wenn ich mich zwischen zwanzig Wochenstunden Programmieren und fünf Wochen-stunden Müllabfuhr entscheiden muss, könnte meine Entscheidung anders ausfallen – die unbeliebte Tätigkeit ist plötzlich um einiges attraktiver geworden“ (Siefkes 2007: 29).
Für die Skeptiker_innen sei hier also nicht verraten, dass auch Siefkes die damit verbundene Tauschlogik inzwischen für unnötig hält. „Wie aber kann eine komplexe Gesellschaft entlang des Prinzips des bedingungslosen Gebens funktionieren?“, fragt Veronika Bennholdt-Thomsen, und antwortet selbst: „Sicher ist, dass Gesellschaft jahrtausendelang nach diesem Prinzip funktioniert hat“ (2010: 50). Genevieve Vaughan, Sprachwissen¬schaftlerin und Autorin einiger Bücher zu Schenkökonomie, nenne das Prinzip ´transitiv´:
„Ich gebe, du gibst weiter und die Nächsten geben ihrerseits weiter und so fort. Das Geben ist in diesem Fall nicht ego-orientiert, es bedeutet nicht: Ich gebe, damit du mir gibst (do ut des), sondern es orientiert sich am Bedürfnis der anderen: Ich gebe, weil ich sehe, fühle, erahne, weiß, dass Du es brauchst. So entstehen eine Kette und schließlich ein Kreis von Gebenden, so entstehen Gemeinschaft und Gesellschaft. Geben ist das Grundmuster der Kommunikation, materieller wie immaterieller Kom-muni-kation (munus, lat. ´Geschenk´), nicht das Nehmen noch der Zwang des Erwiderns“ (ebd.; vgl. Vaughan 2008).
Bereits in der Struktur des Tausches stecke im Keim die Angst vor der Knappheit, die schließ-lich zum Ausgangspunkt der modernen Ökonomie geworden ist. Der Tausch werde stets von der Beunruhigung begleitet: ´Bekomme ich auch genug zurück?´. Gesellschaften hingegen, deren materielle Kommunikation dem Prinzip des Gebens folge, gingen von der Fülle aus. Die Gaben stünden allen gleichermaßen zur Verfügung. Die Gesellschaftsmitglieder machten davon gemäß den vielfältigen unterschiedlichen Bedürfnissen Gebrauch. Es bedürfe keines abstrakten, gemeinen Maßes; die Gleichheit müsse nicht erst (wieder) hergestellt werden. Sie gehöre zur Voraussetzung der Gesellschaft, wohingegen das Tauschprinzip von einer übergeordneten Instanz her gedacht werde, von einer „Gerechtigkeit von oben, die jedem, austeilend oder vergeltend, seine Ration vorschreibt“ (Bloch 1961; zit. na. Bennholdt-Thomsen 2010: 51). Geben und Zurückgeben seien (imaginär oder direkt) an ein Maß gebunden, das bestimme, ob Gabe und Gegengabe tatsächlich gleich seien, denn das Tausch-denken sei nicht auf das Gegenüber gerichtet, sondern auf das Ego und seine Bedürfnisse.
Die Erkenntnis, dass und wie wir in unserer Gesellschaft weltanschaulich-kulturell in den Maximierungswahn verstrickt sind, sei niederschmetternd, so Bennholdt-Thomsen an anderer Stelle. Aber es lohne sich, diese Wahrheit näher zu betrachten, sie berge auch Tröst-liches, denn wenn wir das Problem seien, dann seien wir auch die Lösung (oder, so möchte ich es etwas anders ausdrücken, wir und unsere Welt sind so miteinander verquickt, dass wir beides miteinander verändern können). Wirtschaften sei von der Weise, wie Menschen auf dieser Welt ihr Leben verwirklichen, in einen Krieg verwandelt worden. Unsere Mittäter-schaft bestehe darin, dass wir glaubten, die Teilnahme an diesem Kampf sei unausweichlich, gleichsam naturgegeben (vgl. Bennholdt-Thomsen 2010: 36). „Der Mythos vom Äquivalent, dass ein Gut, wie ein Brot oder ein Stück Land, in seinem Wert tatsächlich durch eine bestimmte Summe Geldes erfasst wird, also Gleichheit hergestellt wird, ist der Köder für unsere Mittäterschaft […] Die Summe des Geldes wird zum Maßstab und nicht das Bedürfnis oder die Notwendigkeit. Aber ist es nicht vielmehr so, dass Brot für die Hungernden einen ganz anderen Wert hat als für die Satten (vgl. Bennholdt-Thomsen 2010: 51f)?“ Die Grenznutzentheorie der Neoklassik erkennt dies durchaus. Und ignoriert es.
Wir auch? Bennholdt-Thomsen ruft zur Entkommerzialisierung der Köpfe, der Herzen und der Beziehungen auf. „Sie wird nicht von heute auf morgen erreicht werden, sondern im Laufe eines Prozesses kollektiven Lernens – und der hat längst begonnen“ (2010: 55f).
Die daraus gewonnenen Prinzipien stellen ´Koordinaten für eine politische Praxis´ dar (vgl. Gibson-Graham 2006: 88). Durch ihre Form struktureller (und nicht zwangsweise persön-licher) Gemeinschaft verwirklichen sie eben genau das, was das Zitat aus dem Kommunis-tischen Manifest treffend umreißt: „eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“. Und vielleicht ist es das wertvollste Erbe von Marx, dass er erkannte, dass wir nicht individuell die Welt in eine bessere verwandeln können, sondern nur im gemeinschaftlichen Wirken und Werden; nur so wird aus einer als Interessengemeinschaft missverstandenen Solidarität die Grundlage geschaffen für das, wozu ein Graffiti aus Zürich uns und den homo oeconomicus, der wir sind, so prägnant aufruft: Mach´s wie Gott. Werde Mensch.
4.2. bei uns selbst
Symbolisch wäre es sicher besser, hier eine Seite frei zu lassen: Zeit zum Nachsinnen darüber, wie es sich in einer solchen Form solidarischer Gesellschaft leben würde. Nun aber bitte nicht über die anderen nachdenken – die anderen, die sicher nur faul in der Hängematte liegen werden, von morgens bis morgens, nur zwischendurch aufstehend, um einem die Schoki wegzufressen. Sondern an das eigene Selbst, an die eigenen Wünsche an ein Leben ohne den Zwang, stets verwertbar zu sein. Morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, wie Marx es formulierte, ist sicherlich nicht die Vision eines jeden Menschen, und genau darum funktioniert es: Wir Menschen sind jenseits unserer in Hierarchien gepressten Individuali¬täten tatsächlich so unterschiedlich, dass sich für alles, wonach Bedürfnis besteht, auch welche finden, die es tun. Sogar das berühmte Kloputzen bedarf keiner Zwangs-maschinerie:
„Und wenn ich mich um das Kompostklo kümmere, dann tue ich es viel lieber als früher irgendwelche Badezimmerdienste in WGs, wo ich meinen Arbeitsplan ab-leisten musste. Hier weiß ich, dass die anderen nicht denken: ›Endlich kommt sie ihrer Pflicht nach‹, sondern: ›Wow, jemand hat das Klo gemacht!‹. Und glaube ich auch mal wieder, keine Zeit dafür zu haben, dann weiß ich, es macht Lieven, und Lieven macht sonst eigentlich nichts für den Platz. Was sollte ich mich auf der einen Seite über ihn ärgern und auf der anderen ein schlechtes Gewissen haben? Es kommt halt so zusammen“ (Henrike; zit. na. Habermann 2009: 149).
Es kann auch als Gewalt empfunden werden, die Vielfalt alltäglicher Tätigkeiten nicht mehr selbst ausführen zu dürfen – zu dürfen, wohlgemerkt, es geht nicht um die Abschaffung der Arbeitsteilung, sondern um die Zeitnot, die vielen Menschen dies regelrecht verbietet. Zudem dürfen viele Menschen heute nicht einmal so viel Zeit mit (ihren) Kindern verbringen, wie sie vielleicht möchten. Oder mit abwaschen – was Untersuchungen zufolge glücklich machen soll (schließlich ist es eine Form von Meditation). Wie Marx eben so ähnlich schon sagte: morgens Straßenbahn fahren, nachmittags ein Tofugericht zubereiten.
Das lässt sich auch internetgestützt und gesellschaftlich ähnlich durchorganisiert wie in Christian Siefkes Modell der Peerökonomie denken. Entscheidend ist, dass Menschen nicht mehr glauben, ihr Wert bemesse sich am Markt.
Ein gutes Leben, dies sei das Fazit von Aristoteles gewesen, so Richard David Precht in seinem Buch ´Die Kunst, kein Egoist zu sein´ (2010), ist deshalb gut, weil es uns langfristig gut tut. Notwendig dafür ist die Bestätigung von außen als die andere Seite der Medaille für die Bestätigung von innen. „Deswegen ist es für uns nur halb so schlimm, wenn wir einen be-stimmten Wunsch nicht erfüllt bekommen oder eine Absicht misslingt. Viel schlimmer ist es, wenn wir uns als Person angegriffen fühlen. Wenn man uns als Mensch infrage stellt. Wenn man unser Selbstwertgefühl verletzt oder zerstört“ (2010: 180) – was im Kapitalismus ja schnell mal passieren kann. Aristoteles ködere damit, so Precht weiter, dass Gutes zu tun helfe, ein glückliches und erfülltes Leben zu führen. Unsere Volkswirtschaft aber sieht er vollständig ruiniert, wenn alle Menschen gut wären (vgl. 2010: 181). Wie also wäre es, eine Wirtschaftsform zu finden, wo die eigene Tätigkeit nicht in Konkurrenz, sondern in Kooperation, in Solidarität zu anderen Menschen geschieht, und uns nebenbei auch noch glücklicher macht? Und zwar alle.
4.3. weltweit
Judith Butler benutzt den Ausdruck Prekarität, um aufzuzeigen, dass es Leben gibt, welches gesellschaftlich konstruiert ist als nicht wertvoll, als nicht schützenswert, „ja nicht einmal als betrauernswert, wenn es verloren wird. Das nicht betrauerbare Leben ist das Leben, das nie als Leben angesehen wurde, und ist somit auch das unlebbare Leben“ (Butler 2009: 436). Hierfür muss ernst genommen werden, was eine Aktivistin der Coalition of Immokalee Workers, Silvia Perez, benennt: „Seeing us as human beings will be the first step to changing things“(Patel 2010: 175).
Erinnert sei an die unter 3.3. angestellten Überlegungen zur Identitätskonstruktion von Hun-gernden, wonach diese Subalterne sind, da sie an dem gesellschaftlichen Zustand in keiner Weise partizipieren. Spivak nennt dies: „The subaltern cannot speak“. Sie können nicht sprechen, oder vielmehr: sie werden nicht gehört, da erstens ihre Zustimmung für die Stabilität der hegemonialen Verhältnisse keine Rolle spielt; aus diesem Grund erhalten sie auch keinerlei materiellen Zugeständnisse. Zweitens sind sie selbst häufig einfach nicht in der Lage, die Normalität zu hinterfragen, da auch sie vom hegemonialen Diskurs durch-drungen sind. Und drittens liegt das, was sie zu sagen hätten, um sich aus ihrer subalternen Position zu befreien beziehungsweise diese aufzulösen und mit ihr die gesellschaftliche Struktur, die sie bewirkt, außerhalb der hegemonialen Wirklichkeit und ist mit ihr nicht ver-einbar. Denn: Was sie zu sagen hätten, beinhaltet eine Dimension jenseits des Bestehenden und gesellschaftlich Gedachten.
Es müssen Prozesse des Zuhörens gefunden werden, welche das ´Verlernen von Privilegien´ (ebenfalls Spivak) bedeuten. Privilegien zu verlernen bedeutet aber nicht, sich an einen runden Tisch zu setzen und so zu tun, als seien die bestehenden Interessen der bestehenden Subjekte in bestehenden Verhältnissen in win-win-Situationen aufzulösen. Es bedeutet auch nicht, zum Beispiel Indigene zu Konferenzen einzuladen, um ´authentische´ Stimmen zu hören, und danach so weiterzumachen wie immer. Erstens kann niemand ´die Indigenen´ vertreten oder ´die Afrikaner´ oder ´die Hungernden´, dies wäre eine gewaltvolle Homo-genisierung (vgl. Spivak 1990: 60). Zweitens würde nach dem Beitrag vermutlich mit der Kaffeepause und dann wie immer weiter im Programm gemacht, als wäre nichts geschehen. Und ist etwas geschehen? Vermutlich nicht. Denn diese Person kann nicht selbst subaltern sein, denn dann wäre sie gar nicht da; ist sie aber da, dann wird sie vermutlich etwas sagen, was unserem eigenen Denkhorizont einigermaßen entspricht. Liegt es doch außerhalb dessen, so tun wir es ab als naiv und/oder romantisieren es als ´indigenes Denken´.
Privilegien zu verlernen bedeutet auch, dies als Transformation von Identitäten zu begreifen. Warum das so ist? Denken wir an das Bild von Herr und Knecht: Schon Hegel machte daran deutlich, wie sich die Identitäten hierin verändern. Bald verkörpert der eine das Herr sein, der andere das Knecht sein. Was aber, wenn zum Zeitpunkt tiefster verinnerlichter Herrschaft und Knechtschaft beide durch plötzliche Erleuchtung eines Morgens die befreite Gesellschaft umsetzen möchten? Es wird deutlich: Wieder müssten beide zur Transformation nicht nur ihres Bewusstsein, sondern auch ihres Subjektseins bereit sein. Eine Herr-Identität und eine Knecht-Identität werden zu keiner emanzipatorischen Gesellschaft finden können. In diesem Sinne fragt Judith Butler: „Wie denken wir einen Kampf, in dem Subjekte durch die politischen Ziele des Kampfes und durch ihre Zusammenarbeit verändert werden? […] Und wie denken wir diese Transformation selbst als Ziel der Bewegung selbst?“ (Butler 2009: 436). Hierfür kann es kein Rezept geben, dies kann nur auf einem langen und wahrhaft solidarischen Weg erreicht werden.
Wieder mit Spivak gesprochen geht es dabei auch um das kaum zu übersetzende ´unlearning one´s privileges as one´s loss´: die eigenen Privilegien als Verlust erlernen. Das Ökumenische Büro München versucht, für sich dieses Zitat zu klären:
„Zunächst geht es darum, die eigene soziale Position und die eigenen Privilegien zu erkennen und zu hinterfragen, um dann verstehen zu können, dass diese Privilegien nicht nur für die anderen, die diese Privilegien nicht haben, ein Verlust sind, sondern auch für uns selbst. Wie sind wir zu dem geworden, was wir sind? Auf wessen Kosten? Was und wen können wir auf Grund unserer Privilegien nicht wahrnehmen, nicht hören? Welche Perspektiven werden uns durch diese Privilegien versperrt? Welche Möglichkeiten haben wir in unserm Leben? Wem bleiben diese Möglichkeiten versperrt und warum?“
Wie immer erleichtert der Blick in die Geschichte, ermöglicht die historische Distanz Sichtweisen, die im Hier und Jetzt uns versperrt sind: Es mag uns einleuchtend erscheinen zu sagen, wir würden auf das Privileg verzichten wollen, als Burgfräulein privilegiert und befreit von allen Arbeiten zu sein, während wir doch das Elend der um uns herum schuftenden Fronbauern und -bäuerinnen, Dienstmägde und -knechte ansehen müssten. Genauso wird es den meisten heute einleuchten, auf das Privileg verzichten zu wollen, als Sklavenhalter alle Arbeiten verrichtet zu bekommen. Und doch galt dies einmal als völlig normal für weiße Menschen (wobei ´weiß´ ja erst als Begründung für diese Einteilung in Freie und Sklav_innen eine Kategorie wurde und damit Wirklichkeit bekam).
Auch muss mann kein Softi sein, um heutzutage erkennen zu können, dass die Frauen-bewegung auch für Männer Vorteile gebracht hat: Männer dürfen heute weinen und auch mal schwach sein, sie können sich mit gebildeten Frauen umgeben, und manchmal, ja manchmal wird ihnen sogar etwas Erziehungszeit vom Arbeitgeber zugebilligt, womit sie dem Schicksal ihrer Väter entgehen, welche ihre Kinder oft genug nur beim Abendbrot sahen.
Was sind heutzutage die privilegiertesten Subjektformen? Topmanager eines multi-nationalen Konzerns? Was aber, wenn ein solcher Topmanager auch nur für einige Tage sich plötzlich nicht mehr entsprechend den Normenvorgaben verhält? Seine Karriere wäre ver-mutlich beendet, solange sich dies nicht mehr verstecken ließe. Wenn nicht, kann das subjektive Privileg ganz schnell in das Gegenteil umschlagen, wie beispielsweise der britische, 21jährige Banker Anjool Malde mit seinem Sprung von einem Hoteldach zeigte – er hatte sich mit dem Namen einer seiner Bankkunden im Internet einen Scherz erlaubt, was herausgekommen war. Oder Topmodel? Filmstar? So wie Marilyn Monroe gar? Wie sie endete, ist bekannt.
Auch den Normaleren unter uns geht es ja eigentlich gar nicht soooo gut – oder wie war das mit den vier bis acht Millionen Depressiven und den fünf Millionen Esssüchtigen, ganz zu schweigen von den alkohol-, medikamenten- und was-es-sonst-noch-alles-gibt-Abhängigen? Sowie den Kranken aufgrund psychosomatischer Einwirkungen und umweltbedingter und stressbedingter und …?
Nun soll das nicht heißen, dass heutzutage alle unglücklich sind – das wäre verdammt schade, auch angesichts all der Kämpfe von Menschen aus der Vergangenheit, die uns bereits von so manchem befreit haben. Und sich, manchmal bis zur Selbstaufgabe, damit nicht zuletzt mit uns solidarisch gezeigt haben. Aber dennoch:
Vielleicht macht es ja etwas mit uns, vielleicht wäre es ja ganz schön – das Privileg, nicht damit leben zu müssen, dass Hundertausend am heutigen Tag verhungern?
Literatur
Albert, Michael (2000): Moving forward. Program for a Participatory Economy, Edinburgh et.al.
Bennholdt-Thomsen, Veronika (2010): Geld oder Leben. Was uns wirklich reich macht, München.
Bogner, Alexander (2000): „Am Tropf der Werte. ´Natürlich gibt es soetwas wie lebensunwertes Leben´ oder: Was hat Euthanasie mit Rassismus zu tun? Anmerkungen zur Ideologie der liberalen Bioethik“, in: Jungle World, Nr. 17 v. 19. April 2000.
Böhlke, Effi (2009): Solidarität. Eine ideengeschichtliche Studie, Berlin.
Bourgeois, Léon (1909): Les Limites Sociales de la Solidarité. Rapport Général au VII. Congress de l´Institut International de Sociologie à Berne, juillet 1909, in: ders., Solidarité, Paris 1912, S. 287-292.
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